1998 - Ein politischer Geschäftsbericht

I.

Wieder sind es Bilder, die empören. Wieder Bilder von Flucht, Zerstörung und Leid. Damals, vor 30 Jahren, als das Elend der Welt erstmals alltäglich im Fernsehen übertragen wurde, waren es die Bilder aus Vietnam und Biafra, die schockierten: ausklinkende Bomben, die kaltblütige Hinrichtung eines gefangenen Vietkong, der entsetzte Blick des im Napalm-Angriff fliehenden Mädchens, die verhungernden Kinder der auf Unabhängigkeit drängenden nigerianischen Provinz Biafra. Nahaufnahmen des Schreckens, damals noch ungewohnt und wenig gesteuert.

Solche Bilder, die auch zur Gründung der Hilfsorganisation medico international geführt haben, motivierten zu Protest und Widerstand. Moral und Herrschaft standen noch im Widerspruch. Die berichteten Greueltaten galten dem kritischen Urteil der internationalen Öffentlichkeit als Resultat von Macht- und Herrschaftsinteressen.

Heute sind es die Regierenden und ihre smarten Sprecher, die sich an die Öffentlichkeit wenden und die Dokumente des Grauens in die Höhe halten. Die Richtung des Appells hat sich verkehrt. Moral und Macht scheinen auf befremdliche Weise versöhnt. Im Gestus endloser Entrüstung werben Politiker für den Krieg, und setzen dabei ganz auf die Macht der Bilder. Wer nicht aus Mitgefühl mit den Vertriebenen zum Befürworter von Bombardierungen wird, wer bei aller Moral auf Vernunft und politische Lösung besteht, setzt sich umstandslos dem Verdacht aus, die furchtbaren Greueltaten zu dulden. Bezeichnend, wenn Kritiker der Luftschläge als »selbsternannte Anti-Militaristen« diffamiert werden, so als könne man sich eine Überzeugung wie ein Amt anmaßen. Und offenbar ist es auch zulässig, wenn zu den »Unmenschen« selbst jene friedenspolitischen Experten gezählt werden, die, um dem Krieg im Kosovo vorzubeugen, seit langem schon vor der drohenden Eskalation der Gewalt und jenem populistisch gesteigerten Nationalismus gewarnt haben, der bekanntlich nicht allein in Serbien sein Unwesen treibt.

Den Kontext, in dem sich die »realpolitische« Versöhnung von Recht, Moral und Staat ereignet, hat George Orwell in seinen bedrückenden literarischen Visionen beschrieben. Mit der entwertenden Umkehrung der Begriffe werden sie nun endgültig Realität. Der Krieg gilt fortan als humanitäre Intervention, die Verteidigungsminister als hochmoralisch handelnde Gutmenschen, die NATO gar als Nothilfeorganisation, als bewaffneter Arm von amnesty international. Machtansprüche werden ausschließlich noch im Namen der »guten Sache« durchgesetzt. Aber wie es um die Achtung der sozialen Bedürfnisse der Menschen und um die Solidarität wirklich bestellt ist, verrät auch die unsichere Existenz gerade der Opfer der ethnischen Säuberungen im Kosovo. Denn aus den Vertriebenen, in deren Namen Bomben und Hilfe organisiert werden, drohen schnell unliebsame Ausländer und Abschiebehäftlinge zu werden, wenn sie unsere Grenzen überschreiten.

II.

Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, noch unter dem Eindruck der beispiellosen faschistischen Barbarei, entstanden die Vereinten Nationen. Nie wieder sollte Völkermord sein, nie wieder Krieg!

Mit der Errichtung der UN ist das Unrecht nicht verschwunden. In den anhaltenden Gewaltverhältnissen spiegelte sich das Wesen einer »Weltordnung«, die auf Unterdrückung und Übervorteilung fußt & zunehmend vom Diktat eines neoliberal entfesselten Kapitalismus geleitet wurde, wodurch immer weitere Sektoren der Weltbevölkerung von Wohlstand und auch nur ausreichender Ernährung ausgegrenzt werden. Die strukturelle Katastrophe, die nun jeden Tag über 20.000 Hungertote fordert, ohne daß dies den Medien noch Schlagzeilen wert wäre, ist freilich nie unwidersprochen geblieben. Auch gegenwärtig setzen sich Menschen, die von der »sozialen Apartheid« betroffen sind, zur Wehr: Die auf Autonomie pochenden indianischen Gemeinden im chiapanekischen Mexiko beispielsweise; die Landlosen in Brasilien, die brach liegende Latifundien besetzen; die Kurden, die auf Anerkennung ihre kulturellen und sozialen Rechte drängen; die Kleinbauern in Indien, die gegen einen verhängnisvollen wirtschaftlichen Strukturwandel kämpfen, den die global operierende Agroindustrie erzwingen möchte.

Wie aber ist diesen Menschen beizustehen? Wie der Mißachtung der Menschenrechte zu begegnen, die ja nicht nur auf dem Balkan um sich greift? – Fragen, die sich um so eindringlicher stellen, je deutlicher die NATO-Bombardements gegen Jugoslawien zeigen, daß der Einsatz militärischer Mittel zur Lösung politischer Konflikte nicht geeignet ist.

III.

Wirkungsvolle Unterstützung der Menschen, die ihre Geschicke selbst in die Hand nehmen, erfordert neben praktischer Hilfe die politische Solidarität, zu der das gemeinsame Drängen auf gesellschaftliche Veränderungen gehört, die »strukturelle Intervention«. Solidarität meint deshalb immer zugleich die Schaffung einer kritischen Öffentlichkeit, die imstande ist, soziale Gerechtigkeit und Menschenrechte gegen die herrschenden Verhältnisse durchzusetzen. Damit bedeutet Solidarität etwas gänzlich anderes als der Versuch, nur die gröbsten Auswirkungen der im Zuge der Globalisierung vorangetriebenen Katastrophe abzufedern, um den Status Quo zu verteidigen.

Flüchtlingen Asyl und Speise zu geben oder Kriegsversehrten Prothesen anzupassen, stellt für die Betroffenen eine oftmals überlebenswichtige Unterstützung dar, die nicht verächtlich zu machen ist. Auch medico leistet solche Nothilfe, von der wir jedoch wissen, daß sie erst in der Verbindung mit der Kritik an den »krankmachenden Verhältnissen« ihre volle Wirksamkeit entfaltet. Denn nur das den Militärs im Streit abgetrotzte Verbot von mörderischen Waffen kann weitere Verstümmelungen verhindern, und allein die Aufhebung von sozialer Marginalisierung und wirtschaftlicher Zerrüttung wird dazu beitragen, chauvinistischer Reaktion und gewalttätigen Konflikten vorzubeugen.

»Konfliktprävention« hingegen, die lediglich auf die Früherkennung von Gewalt aus ist, um sie besser in Schach halten zu können, dient ebenso wie die humanitäre Intervention – die Schadensbegrenzung betreibt, um die sozialen Widersprüche nicht allzu groß werden zu lassen – der Stabilisierung von Machtverhältnissen. In einem solchem Kontext gerät die Nothilfe, zur der es aus ethischen Gründen keine Alternative gibt, in die Gefahr, für strategische Machtinteressen und legitimatorische Zwecke in Dienst genommen zu werden.

IV.

Auf einer Veranstaltung des Auswärtigen Amtes Ende April in Berlin würdigte Kofi Annan den beispielhaften Erfolg der Internationalen Kampagne zum Verbot von Landminen, die 1991 gemeinsam von medico und der Vietnam Veterans of America Foundation gegründet wurde. Tatsächlich ist es der internationalen Öffentlichkeit mit der am 1. März in Kraft getretenen Ächtung von Anti-Personen-Minen erstmals gelungen, gegen die hartnäckigen Blockaden von Regierungen und die Sicherheitserwägungen der Militärs das Verbot einer Waffe durchzusetzen.

Die bestätigenden Worte des UN-Generalsekretärs trafen auf artiges Nicken auch bei den Mitarbeitern des Außenministeriums, das noch vor wenigen Jahren medico gerade wegen seines Engagements gegen Minen vorgeworfen hatte, wir würden Hilfe mit Politik verwechseln. Beharrlichkeit und der sprichwörtliche lange Atem sind notwendig gewesen, um sich gegen solche Anfeindungen zu behaupten, die einzig der Staatsräson, nicht aber den Bedürfnissen der Millionen von Menschen Rechnung trugen.

Auch die Bekämpfung der Straffreiheit, welche staatliche Folterer und Diktatoren in aller Welt zu einer verbrecherischen Politik einlädt, hat die internationale Öffentlichkeit maßgeblich vorangetrieben. Der Forderung nach Einrichtung eines Internationalen Strafgerichtshofes, mit dem Kriegsverbrecher unabhängig von politischer Opportunität und Machtinteressen zur Rechenschaft gezogen werden können, ist es zu verdanken, daß ein erster Erfolg zu verzeichnen ist. Auf dem Weg zur Teestunde wurde der Diktator Pinochet festgesetzt: Für die Opfer seiner Folter, denen medico seit über zehn Jahren mit psychotherapeutischen Angeboten zur Seite steht, ein bedeutendes und heilsames Ereignis.

Derart gehört zur Absicherung der Menschenrechte auch die unter Regierenden sich breit machende Gewißheit, daß Menschenrechtsverletzungen, Massaker, Verstöße gegen das Völkerrecht, und sei es »nur« das Unterlaufen von Sanktionsbestimmungen, nicht unbehelligt bleiben. Anfang des Jahres kam eine von der UN eingerichtete internationale Untersuchungskommission zu dem Schluß, daß es sich bei den Massakern, mit denen die Armee Guatemalas die indianische Bevölkerung des Landes überzogen hatte, um einen Völkermord gehandelt habe. Und weil medico seinerzeit gegen die skandalöse Unterstützung der guatemaltekischen Polizei durch die Bundesregierung öffentlich mobilisiert hatte, haben uns die Diplomaten des AA, die Adenauer-Stiftung, das Innenministerium damals das vorgeworfen, was sie heute eine moralische Verpflichtung nennen müßten: der guatemaltekischen Befreiungsbewegung medizinische Nothilfeausrüstungen zur Verfügung gestellt zu haben.

Für die maßgebliche Beteiligung der USA am Morden in Guatemala hat sich Präsident Clinton unterdessen entschuldigt. Ob dem Eingeständnis der Mitschuld auch Entschädigungszahlungen für die überlebenden Opfer folgen werden, ließ der Präsident offen. Abzuwarten bleibt auch, ob sich die Bundesregierung zu einer solchen Geste und Antwort gegenüber den südafrikanischen Apartheidopfern und den Überlebenden der Giftgasangriffe im kurdischen Halabja durchringen kann. In Falle Kurdistan waren es deutsche Unternehmen, die toxische Stoffe lieferten, im Falle Südafrika waren es hiesige Banken, die das Regime stützten und von seiner Unterdrückung profitierten.

Deutschland wolle seiner Verantwortung, die es in der Welt hat, endlich gerecht werden, betonen Politiker in diesen Tagen mit nationalem Stolz. An die Verantwortung, die gegenüber den Giftgas- und Apartheidopfern besteht, ist dabei offenbar nicht gedacht.

Es sind solche begriffliche Okkupationen, die zu Verwirrungen führen und die Öffentlichkeit demoralisieren. Der Krieg auf dem Balkan verfolgt auch den Zweck, jene unabhängige internationale Öffentlichkeit zu treffen, deren Bemühen um demokratische Einflußnahme zuletzt nicht ohne Resonanz geblieben ist und bis zur Mitwirkung an der Setzung internationaler Normen reichte. Gerade für die Großmacht USA, die auf Machtvollkommenheit besteht, wurden die kleinen, aber richtungsweisenden Erfolge der Öffentlichkeit, die beständig den Legitimationsdruck erhöhten, zu einem lästigen Dorn im Auge. Die USA haben in der NATO auf die Bombardierung Jugoslawiens auch deshalb gedrängt, weil nur über den völkerrechtswidrigen Gebrauch von kriegerischer Gewalt die Allianz ihre Machtvollkommenheit demonstrieren konnte. An die Stelle der fragilen UN, die als Staatenorganisation naturgemäß von konkurrierenden Herrschaftsansprüchen durchzogen ist, was von der internationalen Öffentlichkeit durchaus genutzt werden konnte, soll die absolute Herrschaft einer kleinen Gruppe von Staaten treten.

Es kommt also darauf an, sich nicht irre machen zu lassen und den »langem Atem« zu behalten.

Die Finanzen 1998

Daß uns dies im letzten Jahr gelungen ist, liebe Leserinnen und Leser, ist ganz wesentlich Ihnen zu verdanken. Sie waren es, die unsere Aktivitäten, die ja nicht frei von unbequemen Inhalten sind und gelegentlich auch Überlegungen aufweisen, die quer zu den üblichen liegen, mit hoher Resonanz und Kontinuität begleitet haben. Und nur auf diese Weise gelang es uns 1998, die Erfolge der Vorjahre zu konsolidieren.

Unser Gesamtetat belief sich 1998 auf 16,1 Mio. DM: ein Summe, die sich aus Spenden, überlassenen Erbschaften, Zuschüssen, Bußgeldern, Mitgliedsbeiträgen und Rücklagen zusammensetzte. Die reinen Spendeneinnahmen haben sich auf dem Stand des Vorjahres mit 5,1 Mio. DM stabilisiert. Hervorzuheben ist die bemerkenswerte Spendenbereitschaft, die sich als Reaktion auf den Hurrikan Mitch ereignete, der in Nicaragua und Honduras wütete. Über einen Million DM gingen in kürzester Zeit auf den Konten von medico ein: als sichtbarer Ausdruck der Solidarität mit den Menschen in Mittelamerika.

Für Projekte haben wir 11,2 Mio. DM aufgewendet. Insgesamt waren es gut 60 verschiedene Maßnahmen, die wir gefördert haben. Darunter die großen Programme: die Hilfe für die Sahrauis (5,2 Mio. DM), die Rehabilitationsbemühungen im minenverseuchten Angola (1,5 Mio. DM), die sozialpsychologische Unterstützung von Folter- und Kriegsopfern in Chile und Mosambik (zusammen 1,3 Mio. DM), die Menschenrechtsarbeit für Kurdistan (543.000 DM). Aber auch kleinere, aber deswegen nicht unbedeutendere Projekte, von denen beispielhaft die Begegnung des mexikanischen Troubadour Guillermo Velasquez mit den chiapanekischen Gesundheitspromotoren von nennen ist (20.000 DM).

Für die Öffentlichkeitsarbeit haben wir 1,4 Mio. DM ausgegeben, was 10,7% der Gesamtausgaben (11,1% im Vorjahr) bedeutet. Besonders zu erwähnen sind die Arbeiten im Zusammenhang des 30-jährigen Bestehens von medico, aus denen auch ein 20-seitiger Text hervorgegangen ist, der die Entwicklung von medico kritisch Revue passieren läßt und unsere »Perspektiven der internationalen Solidarität« aufzeigt (Bezug kostenlos). Die Aufwendungen für administrative Belange haben sich gegenüber dem Vorjahr erneut verringert und liegen nun bei 6,6% der Gesamtausgaben (Vorjahr 7,1%). Dieser Trend ist allerdings nicht weiter fortzusetzen, drückt sich in den niedrigen Verwaltungskosten doch auch ein zu hohes Maß an Überstunden aus, die von den Kolleginnen und Kollegen der Frankfurter Geschäftsstelle zur Bewältigung der vielen Aufgaben erbracht wurden.

Doch wir wollen nicht klagen, sondern uns nochmals bei Ihnen bedanken, daß Sie mitgeholfen haben. Es sind Ihre Spenden, die unsere Arbeit möglich gemacht haben und die uns natürlich auch Ermunterung sind. Bedanken möchten wir uns auch für Ihre kritischen Anmerkungen, für die Mitwirkung bei Veranstaltungen, Infoständen, der Organisation von Vorträgen, dem Verteilen dieser Informationen im Freundeskreise.

Mit ganz herzlichen Grüßen

Thomas Gebauer
Geschäftsführer

Veröffentlicht am 01. Juni 1999

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