Humanitarismus in der Krise

Der Rundschreiben-Kommentar. Von Thomas Gebauer

»…es scheint, als müsse die Rettung erst noch erdacht werden!« – Peter Weiss

Mit großflächigen Plakaten werben Hilfswerke für ihre Arbeit: »Tausend Fragen. Eine Antwort: Helfen«. In einer Welt, die in Gewalt und Elend zu versinken droht, ein großartiges Versprechen. Eines, das selbstbewusst daher­kommt und die Lösung für so viele Ungewissheiten reklamiert. Kein Wunder, dass im englischen Sprachraum auch nicht mehr nur von humanitärer Hilfe die Rede ist, sondern von »Humanitarismus«.

Schon immer haben Menschen sich gegenseitig Beistand geleistet, wenn es die Not erforderte. Nun allerdings scheint aus der moralisch begründeten Sorge um den Anderen eine veritable Philosophie geworden zu sein, die den öffent­lichen Diskurs bestimmt und eine eigene Praxis ent­wic­kelt hat. Um Men­schenrechte und Hilfe für Notleidende sind heute nahezu alle bemüht: Politiker, Schauspieler, Industriemanager, Medienvertreter – selbst die Militärs wollen humanitär intervenieren statt Krieg zu führen. Die zu­packende Hilfe genießt hohes Ansehen und wird auf allen Fernsehkanälen gefeiert.

Die Welt, ein globaler Ort von ­Hilfsbedürftigen und Helfern? In die Erfolgsstory des »Humanitarismus« mischen sich kritische Stimmen. Der US-ameri­kanische Autor David Rieff spricht gar von einer Krise des »Humani­tarismus«: die »rettende Idee« Hilfe könne nur mildern, aber nichts retten.

Fraglos wären ohne den humanitären Beistand, den Hilfsorganisationen in den zurückliegenden Jahrzehnten geleistet haben, wären viele Tausende, vielleicht Hunderttausende von Menschen mehr an Kriegen und Hunger gestorben. Tatsache aber ist auch, dass die Zahl der Kriege und die Kluft zwischen Arm und Reich größer geworden ist. Das Elend der Welt hat längst die Vorstädte des reichen Nordens erreicht. So wenig es einen Grund gibt, die Erste Hilfe, das individuelle Asyl oder Nahrungsmittelhilfen verächtlich zu machen, von denen das Überleben vieler abhängt, so wenig darf übersehen werden, dass humanitäre Hilfe die kata­strophale Entwicklung nicht aufhält. Gewalt und Elend sind Ausdruck herrschender Machtverhältnisse; in ihnen spiegelt sich nicht ein zu wenig an humanitärem Beistand, sondern das Versagen von Politik.

Katastrophe

Schon Jean-Paul Sartre befand, dass es keine Natur­kata­strophen gebe, da alle Katastrophen von Menschen gemacht seien. Inzwischen schlagen die Folgen menschlichen Handelns mit blinder Kraft zurück. Umweltschäden, Tierseuchen, Vertreibun­gen oder Kriege ereignen sich unangekündigt, hinterrücks und gegen alle Bemühung um Abhilfe. Dabei mangelt es nicht an Wissen über das, was in der Welt vor sich geht. Niemand würde ernst­haft behaupten, es sei vernünftig, die Umwelt zu zerstören, Menschen zu entwurzeln und Kriege zu entfesseln. Doch geht das Bewusstsein für den Hunger, für HIV/AIDS, die Zunahme der Gewalt Hand in Hand mit dem Gefühl wachsender Ohnmacht. Zu Empörung und Mitgefühl kommen Gefühle von Angst und Scham. Kann dem Elend überhaupt vorgebeugt werden? Ist es nicht längst – wie eine Naturkatastrophe – unabwendbar? Stimmt gar die These von den »überflüssigen Menschen«? Vieles deutet auf eine Katastrophe hin, die – wie zu Zeiten der Ahnen – als allmächtige, dem Menschen äußerliche Gewalt empfunden wird. Eine Gewalt, die hilflos macht und mythologisch verklärt werden muss.

Auf scheinbar paradoxe Weise hilft bei der Versöhnung mit der Realität die Ver­engung der Wahrnehmung auf besonders krass hervortretende Katastrophen. In der Beschäftigung mit dem spektakulären Erdbeben, der auf­sehenerregenden Überschwemmung, dem Krieg gegen die vermeintlichen Mächte des Bösen geht das Bewusstsein für die alltäglichen Nöten verloren. Gerade die Drama­tisierung des einzelnen Schreckens befreit von der verstörenden Erkenntnis, dass Flucht, Krankheit und Hunger – gemessen am Entwicklungsstand der Welt – durchaus vermeidbar wären.

Opfer

Ganze Bibliotheken geben unterdessen Auskunft, wer die Opfer sind. Was aber bedeuten die Opfer? Mitte der 80er Jahre erklärte ein Sprecher des »Internationalen Währungs­fonds«, Verlierer seien nicht nur unver­meidlich, sondern ge­wollt, die herrschende Wirtschaftsordnung müsse von allen Fesseln befreit werden. Mittlerweile wurde ein Drittel der Weltbevölkerung der Verelendung und Rechtlosigkeit preisgegeben, die Lebensumstände aller Schritt für Schritt kapitalisiert, das Soziale aufgelöst, die Menschen bis in ihr biologi­sches Substrat hinein kontrolliert und in Wert gesetzt.

Solche Verlusterfahrungen, die auch vor den vermeintlichen Gewinnern nicht Halt machten, verlangen nach Verleugnung und Kompensation. Dabei hilft das rituelle »Opfer«, auf das eigene Entsagungen projiziert werden, die im Akt der Opferung ihre Bedrohung verlieren. Geopfert werden aber kann nur das reine, das »nackte Leben«, das gepflegt und umsorgt wird. So verhält es sich mit der Hilfe für die Aus­ge­grenzten wie mit dem Karneval: die bestehenden Ver­hältnisse werden durch eine periodische, aber begrenzte und streng kontrollierte Umkehrung aller Normen bestätigt. Tatsächlich besteht im wohlhabenden Teil der Welt die ­Tendenz, Mitleid und Nächstenliebe an besondere Situ­ati­onen zu bin­den, um damit ihr Nichtvorhan­den­sein im täglichen Leben zu legitimieren und für normal zu erklären. Durch den Anblick menschlichen Unglücks ausgelöste moralische Impulse werden kanalisiert, in dem sie an Spen­den­sammlungen ge­bunden werden.

Gerechtigkeit wird zur guten Tat, die über den Mangel an Gerech­tig­keit hinwegtröstet: »Heute tun wir mal was Gutes«, bekannte Helmut Kohl, als er beim ersten Afrika-Tag einige Geldscheine in eine Sparbüchse warf.

Hilfe

Von Hilfe im emphatischen Sinne kann heute kaum mehr die Rede sein. Die Idee eines helfenden Beistandes, der Überwindung von Not und Unmündigkeit und damit Eigenständigkeit zum Ziel hat, ist noch von rhetorischer, aber kaum mehr von prakti­scher Bedeutung. Einen Rechtsanspruch auf soziale Sicherung können nur die wenigsten geltend machen. Das Überleben der meisten Notleidenden hängt vom Wohlwollen karitativer Organisationen ab und davon, dass man überhaupt auf sie aufmerksam wird. Eine solche Hilfe trägt Züge einer Re-Feudalisierung.

Das Ver­blassen von Emanzipationserwartungen hat auch die Idee sozialer Entwicklung in Mitleidenschaft gezogen. Die gute Maxime: »Gib dem Hungernden einen Fisch, und er ist einen Tag satt; lehre ihn fischen, und er wird immer satt sein«, die lange Zeit noch hoch im Kurs stand, wirkt heute merkwürdig angestaubt. Wer den Status Quo herausfordert, ist in den Augen der Öffentlichkeit wenig glaubwürdig. Die modernen Helden zivilgesellschaftlicher Aktion halten sich nicht mit dem politischen Kontext auf, sondern packen unmittelbar an. Wo früher die Vorstellung einer anderen Welt zum Handeln motivierte, herrscht heute ein unpolitischer Pragmatismus, der sich nicht einmischen, keine Partei ergreifen will. Die­ses Hilfsverständnis hat seine eigene Ikonogra­phie geschaffen. Der weiße Hub­schrauber­pi­lot, der ein neugeborenes schwarzes Baby aus einem um­fluteten Baum rettet, symbolisiert eine »interventionistische«, von außen einschwebende und meist gleich wieder verschwindende Hilfe, in der es keinen Kontext mehr gibt und so auch keine Gesellschaftlichkeit. Nur noch die Rettung des Einzelnen ist möglich, während die katastrophale Ordnung der Welt, die so sehr der Rettung bedür­fte, wie in Zement gegossen, unveränderbar wirkt. Kabul, November 2002. Händler gegenüber vom Kabul/Zoo. Viele Kleinhändler eröffnen ihre Läden in den Ruinen der Häuser. Foto: Lukas Einsele

Entpolitisierung

Im Zuge der Entpolitisierung der Hilfe hat ein pragmatisches Sich-Einrichten im Bestehenden über die Emanzipationserwartung triumphiert. Tatsächlich kommt heute die Suche nach den ­Ursachen und Bedingungen eines Übels fast immer zu kurz. Dem Vorwurf der Unmenschlichkeit kann ausgesetzt werden, wer im Anblick eines hunge­rnden Kindes nach den Gründen von Hunger fragt. Die Folgen, die aus der Verkürzung von Kriegen und Notlagen auf ihre humanitären Folgen resultieren, sind erheblich. Wer kein Verständnis für die Krise entwickeln kann, weil er po­litische und kulturelle Zu­sammenhänge ausblendet, kann auch nicht auf die Krise antworten.

Im Kosovo wurden aus un­abhän­gigen Intel­lek­tuel­len, Men­schenrechts­­akti­visten und Gesundheits-Experten Fah­rer, Dolmetscher und An­gestellte im Dienste ausländischer Hilfsorga­ni­sa­tionen. »Macht nichts, Hauptsache wir haben ge­holfen«, so der Kommentar eines deutschen Politikers, der bedenkenlos die Hilfe zum Selbst­zweck erhob. Viele Helfer stört kaum, dass sie wenig über die Menschen wissen, mit denen sie zu tun haben. Ihre Hilfe folgt technisch-ökonomischen Kriterien und sieht in Kriegsopfern und Notleidenden nur Objekte einer möglichst effizienten Versorgung. Dem Gros der Nothelfer gelten Kriege nicht als politisch-historische Ereignisse, sondern als humanitäre Krisen, die es zu lindern gilt. So bitter die Vermutung klingt: würde Auschwitz sich heute ereignen – in den Massenmedien und den Aufrufen der humanitären Hilfswerke wäre vermutlich nur von einer großen humanitären Krise die Rede.

Kapitalisierung

Vom Pragmatismus ist der Weg nicht weit zum Business. Die vielen Milliarden US-Dol­lar, die alljährlich für Not­hilfe­bemühungen in der Welt aufgebracht werden, haben den »Humanitarismus« zu einem expandierenden Wirtschaftszweig mit großen Zu­wachs­raten werden lassen. Seit einigen Jahren unterhält der Markt sogar eigene Messen, auf denen Nahrungsmittel, Rettungsboote, Minensuchgeräte, Zelte, Leichensäcke, Gas­masken, Trinkwasserauf­bereitungsanlagen und andere Dienstleistungen präsentiert werden.

Immer weniger sind es soziale Kriterien, an denen der Erfolg von Hilfe gemessen wird, ­sondern wirtschaftliche Größen – die Zahl der erreichten Men­schen, die Menge der ver­sandten Hilfsgüter, die Effizienz der Nach­schub­wege, die Schnelligkeit, mit der man vor Ort ist usw. Abwicklungskapazitäten zählen, nicht aber die men­schliche Beziehung zu den Opfern. Solidarische Nähe zu den notleidenden Men­schen, so die Europäische Katastrophenhilfsbehörde (ECHO), sei kein Gütenachweis, son­dern eher ein Hindernis für effektive Hilfe.

Zug um Zug ist die Hilfe aus dem Kontext sozialen Handelns herausgelöst und zu einem »Produkt« transformiert worden, das – wie andere Produkte auch – nicht unbedingt mehr mit den Bedürfnissen der Menschen korrespondiert. Vielmehr haben sich die Interessen der Geber in den Vordergrund geschoben und entscheidet gar die mediale Verwertbarkeit von Hilfe über ihr Zustandekommen. Staatliche Finanzgeber und Hilfs­werke legen Wert auf bürokratische Zielvorgaben und ein »controlling«, das den »output« von Hilfe steigern soll, obwohl soziales Handeln weder planbar noch allein ökonomischen Kriterien folgt. Statt sich mit dem Eigensinn von Hilfe und ihren Wirkungen auseinander­zu­setzen, eröffnet die Kapitalisierung von Hilfe die Mög­lichkeit, politisch unliebsame Hilfsprogramme allein aufgrund wirtschaftlicher Bewertungen scheitern zu lassen. Was keinen Ertrag verspricht, wird auch nicht mehr gefördert. Wie aber misst man ein Bemühen, dass nicht allein die Versorgung von Flüchtlingen, sondern auch deren gesicherte Rückkehr im Auge hat? Und lässt sich die Wiederherstellung eines lebendigen Sozialgefüges, in dem Opfer von Gewalt und Not einen neuen Halt finden können, ohne Beteiligung der Betroffenen »ergebnisorientiert« am Reißbrett planen?

Zu befürchten ist, dass die Degradierung der Hilfe auf ein »Produkt« nur der Anfang eines umfassenden Strukturwandels von Hilfe ist. Mit dem Hinweis auf Wettbewerbsverzerrungen wurde bereits die Forderung laut, gemeinnützigen Institutionen die Steuervorteile zu entziehen, um auch profitorientierten Wirtschafts­unternehmen den Zugang zu den Hilfsmärkten zu ermöglichen. Die Chancen, die im Hilfsbusiness liegen, haben nicht zuletzt Unternehmen wie RTL erkannt, die ei­gene Hilfsorganisationen aufgebaut haben. Darin sind Vorboten eines selbst-referenziellen »Humanitär-Indus­triellen-Kom­plex­es« auszumachen. Das Medium setzt das Thema, motiviert zur Aktion, sammelt Spenden und setzt diese in Projekte um, die wiederum neue Bilder liefern und für ein medial über­zeugendes »Controlling« sorgen.

Instrumentalisierung

Die Herauslösung der Hilfe aus dem Kontext des sozialen Handelns hat sie für vielfältige Instrumen­talisie­rungen und die Steuerung durch zentrale Instanzen anfällig gemacht. Mit der Entpolitisierung von Hilfe ist das humanitäre Paradox nur noch größer geworden. Je besser Hilfe funktioniert, desto besser kann sie instrumentalisiert werden. Tatsächlich ist Hilfe zu einer begehrten wirtschaftlichen Ressource von Kriegs­par­teien geworden. Ob über die Besteuerung importierter Hilfsgüter, Schutz­geld­erpressungen, Raub oder die Aus­plünderung von außen ver­sorgter Bevöl­ke­run­gen, es gibt vielfältige Wege, wie Kriegsparteien an den Milliarden von Dollars zur Versorgung der Opfern partizipieren können. In Län­dern wie An­gola, Liberia oder Afghanistan hatte die Nothilfe eine so großer Be­deutung bekommen, dass sie zum inte­gralen Bestandteil des Gewalt­zyklus wurde. Hilfe kann aber auch zur Überwindung politischer Legitimationsdefiziten beitragen. Warlords und politische Eliten, die Ihre Vorherr­­schaft kaum noch über funktionierende Formen von Staatlichkeit legitimieren können, sichern sich Gefolgschaft auch über ein Minimum an sozialer Versorgung, dass sie ihrer Klientel Dank der Hilfe von außen anbieten können. Umgekehrt wird die öffentliche Akzeptanz mili­tärischer Maß­nahmen größer, wenn – wie im Kosovo-Krieg – Hilfswerke in breit angelegten Kampagnen auf die Not von Flüchtlingen aufmerksam machen.

Damit sind Dilemmata angesprochen, die nicht mit dem Beschluss aus der Welt zu schaffen sind, dass Hilfe auf die Beziehung zwischen Opfer und Helfer zu beschränken ist. Die Unabhängigkeit, auf die Hilfsorganisationen zu Recht pochen, darf nicht zur Gleichgültigkeit ge­genüber den politischen Realitäten führen. Und zu denen gehört, dass verstärkt neue Akteure auf den Plan treten, die keine Skrupel kennen, Hilfe für eigene ­Zwecke zu missbrauchen. Force Protection nennt die NATO humanitäre Hilfsprogramme, die Streitkräfte parallel zu militärischen Operationen durch­führen, um die Akzeptanz von Besatzungstruppen zu erhöhen. Nähe Kabul, November 2002. Mine Awareness durch OMAR. Eine Gruppe von Nomaden wird anhand künstlicher Minenfelder über die Gefahren informiert und lernt Verhaltensmaßregeln. Foto: Andreas ZierhutIm Zuge der Globalisierung hat sich die Ost-West-Konfliktachse in eine Auseinander­setzung zwischen einem reichen »global north« und einem in Armut versinkenden »global south« verschoben. Die Be­friedungs­strategien, die das inter­nationale Krisenmanagement zur Bewältigung der neuen Konflikte verfolgt, ähneln denen des 18. und 19. Jahrhun­derts. Wie zu Zeiten des viktoriani­schen Eng­lands ist das Ziel eine repressive Armen­für­sorge, in der selbst noch die Opfer in gut und böse aufgeteilt werden. Die »guten Opfer«, die aufgrund politischen Wohlverhaltens jede Unterstützung verdienen, erhalten – wie kürzlich in Jugoslawien – »konditionierte Hilfen«, während die vielen »überflüssigen Opfer« über Genera­tionen hinweg in Flüchtlingslagern dahinvegetieren müs­sen oder in Exportproduk­tionszonen, den modernen Arbeitshäusern, ausgebeutet und diszipliniert werden.

Das Streben nach sozialer Gerechtigkeit verkümmert zur Früh­erkennung von System­störungen, die be­kämpft werden, um die Spaltung der Welt in Reiche und Arme, Machtvolle und Machtlose, Privilegierte und Gedemütigte aufrechtzuerhalten. Dabei sind offenbar alle Mittel recht. Der militärische Erstschlag, staatlich legitimierte Folter, die Aufkündigung demokratischer Rechtsprinzipien, die Weiterentwicklung längst geächteter Chemie-Waffen – und der Missbrauch humanitärer Hilfe. In der aufkommenden Weltbürgerkriegsordnung droht Hilfe zur Geisel einer komplexen Sicherheits­politik zu werden, die im Außenverhält­nis auf Befrie­dung und So­zial­­amts­funktion setzt und innenpolitisch um Legitimation bemüht ist. Dabei laufen private Hilfsorganisationen Gefahr, zu Dienst­leistungs­betrieben staatlicher Institutionen zu werden.

Perspektiven

Es mangelt nicht an Versuchen, das humanitäre Handeln gegen seine Indienst­nahme zu verteidigen. Rupert Neudeck verlangt dass sich die Hilfe allein auf sich selbst beziehen müsse. Der Hel­fende verkörpere einen modernen Sisyphos, der zwar nie etwas verändern wird, aber nicht anders kann als immer wieder zu helfen. Damit tritt die Hilfe hinter dem Helfer zurück, mit dessen ästhetischer Überhöhung die Katastrophe ver­ewigt wird. Es zählt die moralisch motivierte Nächstenliebe des einzelnen, nicht das politische Streben nach Gerechtigkeit.

Es ist höchste Zeit, dass sich Hilfsorganisationen der Dilemmata ihres Handelns bewusst werden. Dabei wird die Korrektur zahlreicher Mythen notwendig werden, zu denen auch die Vorstellung gehört, humanitäre Hilfe mische sich nicht ein. Wer Menschen helfen will, kann nicht eigentlich neutral sein, sondern muss auf Seiten der Opfer Partei gegen die Täter ergreifen. Alles andere wäre in hohem Maße unmoralisch. Wer Menschen aus Not­lagen heraushilft und sie in die Lage versetzt, wieder selbständig handeln zu können, hinterlässt Spuren, die weit über den Augenblick hinausreichen. Welche Kraft in einer solchen Hilfe stecken kann, zeigt sich immer dort, wo Hilfsorganisationen ihre Arbeit nicht auf kurzfristige interventionistische »Missionen« reduzieren, sondern sich um eine an den Partnern und dem Kontext orientierte Hilfe bemühen. Für humanitäre Krisen gibt es keine humanitären Lösungen. Wer für eine dauerhafte Beseitigung von Not eintritt, muss für Demokratie und soziale Entwicklung streiten – und dies gemeinsam mit den Opfern von Not und Gewaltherrschaft.

Veröffentlicht am 01. April 2003

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