Der Markt der Plünderer

Kontrolle durch Mangel im Yarmouk Camp

Das palästinensische Camp Yarmouk im Süden von Damaskus ist seit Monaten Schauplatz einer besonders barbarischen Kriegsökonomie.

Während bewaffnete Milizen die noch bestehenden Nahrungsmittelbestände auf den Märkten des Lagers künstlich verknappen, um die Preise zu manipulieren und Profit abzuschöpfen, versucht die syrische Armee und mit ihr kooperierende palästinensische Brigaden die Aufständischen gezielt auszuhungern, in dem sie Lebensmitteltransporte ins Lager unterbindet. Opfer dieser perfiden Kriegsführung beider Seiten ist die noch verbliebene Zivilbevölkerung in Yarmouk. Bis zu 50 Personen sind in den vergangenen Wochen an Unterernährung, Auszehrung, Lebensmittelvergiftungen oder nacktem Hunger gestorben. Zahlreiche Kinder leiden an Mangelerscheinungen, Kranke bleiben unversorgt, die auf den Märkten angebotenen Lebensmittel sind unerschwinglich geworden. Erst Mitte Januar versuchte ein mittelloser Vater sich und seine Kinder zu verbrennen, damit diese nicht den langsamen Tod des Verhungerns erleiden müssen.

Ein Bericht von Wael Maqdisi (Damaskus) für das alternative syrische Nachrichtenportal „all4syria“

Die südlichen Gebiete in der syrischen Hauptstadt Damaskus leiden an zwei Phänomenen: Raub und Plünderung durch Gruppierungen, die im weitesten Sinne zur sog. „Freien Syrischen Armee“ (FSA) gehören. Diese Vorfälle wurden bekannt, nachdem die FSA die Hoheit über das Camp Yarmouk erlangte und Milizen wie die „Al-Hajar al-Aswad“-, „Ababil Huran“- und „Aswad al-Tauhid“ – Brigaden willkürliche Plünderungen von Läden, Lagerhäusern und leerstehenden Häusern durchführten. Die Folge waren Auseinandersetzungen zwischen den AnwohnerInnen und Einheiten dieser bewaffneten Gruppen.

Diese Ereignisse verschärften die Situation in Yarmouk noch. Bereits seit einem Jahr unterliegen die südlichen Stadtgebiete von Damaskus einer nahezu vollständigen Belagerung. Das Regime hatte verfügt, dass keinerlei Versorgungsgüter mehr nach Yarmouk gebracht werden können. Begleitet wurde dieses Embargo von einer deutlichen Preiserhöhung aller Grundnahrungsmittel und vieler Waren im Camp, dazu kam ein Mangel an Arbeitplätzen und Einkommensmöglichkeiten für die ohnehin durch den Krieg bereits verarmte Bevölkerung. Zusätzlich haben nun die erwähnten bewaffneten Gruppen der FSA begonnen, ihr Diebesgut auf einem der Märkte des Camps anzubieten, der seitdem „Markt der Diebe“ genannt wird und auf dem es keinerlei Kontrolle oder Übersicht durch Camp-interne Sicherheitsorgane gibt. Mitarbeiter von „all4syria“ besuchten unlängst den Markt und identifizierten zahlreiche geraubte Waren.

Dreister Handel mit gestohlenen Gütern

Abu Ahmad, einer der zivilen AktivistInnen im Camp Yarmouk versicherte gegenüber„all4syria“, dass nicht nur die große Mehrheit der Händler dieses Marktes, sondern auch diejenigen, die zuvor die Häuser ausgeraubt hatten, zur oppositionellen FSA gehören würden: „Es werden unterschiedliche Haushaltsgegenstände sowie Kleidungsstücke zu sehr geringen Preisen angeboten, sodass ein Bügeleisen nur noch 50 Syrische Lira (SL) kostet. Auch eine Waschmaschine, deren Preis eigentliche 50.000 SL beträgt, wird auf dem Diebesmarkt für 6.000 SL verkauft. Ebenso wird Kleidung billig angeboten. Nur der Preis für Nahrungsmittel ist extrem hoch.", so Abu Ahmad: „Die Lebensmittelpreise unterliegen dem Monopol der Händler. Sie bieten nur kleine Mengen an, die sie immer wieder aus dem Angebot nehmen, um sie nach ein paar Tagen zu höheren Preisen wieder auf den Markt zu bringen“.

Abu Ahmad fährt fort: „Einige der Händler schämen sich nicht, ihre Ware in der Nähe der Besserbegüterten anzupreisen und versuchen dadurch die BürgerInnen zu provozieren“. Der Medienaktivist weist darauf hin, dass diese Verhaltensweisen auch unter den Augen der sog. „Islamischen Liga“ passieren, einem jüngeren Zusammenschluss verschiedener Rebelleneinheiten, der islamische Bataillone und einzelne Brigaden der FSA umfasst. „Das Ziel dieser „Liga“ war ursprünglich, die grassierenden Plünderungen und Diebstähle im Süden von Damaskus und im Camp Yarmouk zu stoppen, sowie ein Mindestmaß an Alltagssicherheit in den umkämpften Gebieten zu garantieren“.

„Die FSA unterdrückt die Bevölkerung“

Abu Yazin vergleicht diesen Markt der Plünderer mit dem berüchtigten „Jahresmarkt“ in Homs. Dies ist ein Markt für Raubgut, auf dem Einheiten der syrischen Armee geplünderte Waren anbieten, die sie bei Überfällen auf aufständische Viertel und Dörfer im Umland von Homs erbeuten. Abu Yazin ist Fotograph und veröffentlicht seine Bilder über ein Basiskomitee in Yarmouk und dem südlichen Damaskus. Gegenüber „all4syria“ erklärt er: „Die BewohnerInnen von Yarmouk sind vor einigen Tagen auf eine Massendemonstration in Richtung dieses Markts gezogen. Dabei ertönten Rufe gegen die kriminellen Bewaffneten und sie beschrieben sie als Diebe und Verräter an den Idealen der Revolution“. Er fügt hinzu, dass die Demonstrierenden „bestimmte Gruppen dazu aufgefordert haben, diesen Krisengewinnlern eine Grenze zu setzen. Sie zerstörten einige der Marktstände bis Einheiten der FSA das Feuer auf sie eröffneten und sie vertrieben. Einige Demonstrierende wurden verletzt.“ Abu Jadd, ein Bewohner des Camps, versichert, dass die Arbeit auf dem Markt in letzter Zeit geordneter geworden sei: „Um ihre Identität nicht mehr so offen preiszugeben, beschäftigen die Plünderer jetzt bewusst zivile Mittelsmänner an den Marktständen.“ Dies geschah, nachdem lokale AktivistInnen über Facebook-Veröffentlichungen versuchten, die Diebe bloßzustellen. Die Facebook-Seiten tragen Namen wie „Die Diebe von Yarmouk“, oder „Die Händler des Blutes der Toten in den südlichen Damaszener Vororten“. Zusätzlich wurden jetzt auch die Namen der VerkäuferInnen veröffentlicht. „Die Betroffenen stammen aus unterschiedlichen Gebieten aus dem Süden von Damaskus, die Mehrheit jedoch aus den Nachbarschaften al-Hajar al-Aswad, Yalda und Hajir“, versichert Abu Jadd.

Vergiftungen durch verdorbene Nahrungsmittel

Einige der BewohnerInnen verkaufen mittlerweile handgefertigte Süßigkeiten, für die sie statt des überteuerten Zucker, dessen Kilopreis 6.000 SL erreicht hat, industriell gefertigten Sirup benutzen. Dies hat jedoch zu Fällen von Lebensmittelvergiftung geführt.

„Mehr als 50 Krankenhauseinlieferungen sind auf Vergiftung durch diese Süßigkeiten zurückzuführen“, berichtet Faris, ein Mitglied des medizinischen Büros im Camp Yarmouk in einem Treffen mit „all4syria“. Er fügt hinzu: „Über Facebook versucht das medizinische Büro, die Menschen zu sensibilisieren, diese Süßigkeiten zu meiden. Jedoch treibt die stete Erhöhung der Lebensmittelpreise besonders die Armen immer wieder dazu, diese Süßigkeiten weiterhin zu konsumieren, um ihr tägliches Hungergefühl zu betäuben“. Faris ist überzeugt, dass der beste Wege diese alltäglichen Vergiftungen zu stoppen, das vollständige Verbot der künstlichen Lebensmittel sei. Allerdings, so ist Faris überzeugt, ist dies eine Aufgabe der militärisch Verantwortlichen in dieser Zone von Yarmouk: „Nur die ‚Islamische Liga‘ könnte ein solches Verbot durchsetzen“.

Allein die militärische Logik gilt

Die militärische Rebellenkoordination der sog. „Islamischen Liga “ wurde im September 2013 gegründet und ist eine Vereinigung von religiösen Bataillonen und im Süden der Hauptstadt aktiven oppositionellen Milizen. Dazu gehören etwa Verbände wie Jabhat al-Nusra, Aknaf Beit al-Muqaddas sowie Liwa´ al-Sham al-Rusul. „Die Plündereien zu beenden sowie die Reihen der Revolution von Dieben zu säubern“ hatte der Zusammenschluss zu einem seiner wichtigsten Ziele erhoben. Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang, dass eine der ersten Maßnahmen der „Liga “ im Camp Yarmouk die Vertreibung und Festnahme von Mitgliedern der FSA-Brigade „Al-Hajar al-Aswad“ war. Nach mehreren Versuchen mit der „Islamischen Liga“ in Kontakt zu kommen, ist es „all4syria“ gelungen ihren Medienverantwortlichen zu treffen. Dieser meinte: „Die Liga denkt derzeit nicht daran, den Markt komplett zu schließen, da die Mehrheit der Verkäufer den FSA-Gruppen Al-Hajar al-Aswad und al-Sabeneh angehören“. Der Medienverantwortliche, der darum bat, dass sein Name nicht genannt werde, erklärte darüber hinaus, dass „in Anbetracht der Veränderungen, die im südlichen Damaskus passieren und der zunehmenden Dominanz der Regimes in einigen dieser Gebiete, gewährleistet die FSA-Miliz von al-Hajar al-Aswad den einzigen Zugang zur Front. Wir fürchten uns daher vor den möglichen Reaktionen der FSA.“ Auch die zuvor propagierte Verfolgung von Lebensmitteln-Monopolisten bleibt bislang aus. Der Medienverantwortliche erklärte, dass die Liga zwar die Entscheidung getroffen habe, die Monopolisten zu verfolgen und deren Waren an die Zivilbevölkerung zu verteilen. Bislang habe sie aber noch niemanden in die Hände bekommen können. „Wir haben dagegen Küchen ins Leben gerufen, um so Essen an die ZivilistInnen in Yalda und Babila zu verteilen“, versucht er zu erklären. Als wir ihn nach verdorbenem Essen fragen, entschuldigt er sich und meint, dass „wir kein schlechtes Essen anbieten und dass die Diskussion um diese Vergiftungen nur den Kämpfern schaden würde“.

„Es gibt keine diebischen Revolutionäre, es gibt nur Diebe, die zu Revolutionären werden“

Diese Worte stehen auf Plakaten von einer der Plakataktionen in den Straßen von Yarmouk, die später über Facebook verbreitet wurden. Sie weisen auf die Lage Yarmouks und das Chaos im Süden von Damaskus hin. Man kann mit Recht feststellen, dass die willkürliche Bewaffnung in der Revolution besonders Dieben und Kriminellen erlaubt hat, die entstandene Situation auszunutzen und eine Bandenkriminalität zu entwickeln, die dann unter dem Namen FSA firmiert. Diese gewalttätigen und mafiotischen Gruppen sind ein Grund für die aktuellen Exzesse und haben einen zusätzlichen Graben zwischen der lokalen Bevölkerung und den existierenden nicht korrupten bewaffneten Gruppen geschaffen. Es sind solche Vorkommnisse, die die moralische Integrität der FSA infrage stellen und sie stellen keine geringere Gefahr dar als jene Gefahr, die vom syrischen Regime direkt ausgeht. Das erste Opfer des anhaltenden Waffenchaos und der fortgesetzten Plünderungen ist wie immer die Zivilbevölkerung. Es ist eindeutig der Unfähigkeit der FSA zuzuschreiben, dass sie den Besitz der ZivilistInnen nicht schützen.

Übersetzung von Ansar Jasim

“all4syria” ist eine unabhängige arabischsprachige Internetplattform, auf der regelmäßig BürgerjournalistInnen aus umkämpften und schwer zugänglichen Stadtteilen und Regionen in Syrien berichten.

Veröffentlicht am 19. Januar 2014

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