Gipfelstreit in Berlin

Viel ist heute von Netzwerken die Rede. Und man meint, das sei eine Erfindung des Internetzeitalters. medicos Geschichte von Hilfe und politischem Handeln ist allerdings immer von Vernetzungen auf lokaler, regionaler oder globaler Ebene geprägt. Und manchmal ist das so erfolgreich, dass, wie im Fall der Antipersonenminen, sogar ein globaler Vertrag zum Verbot dieser Waffen und eine globale Verständigung darüber zustande kommt, wie man das humanitäre Minenräumen finanziert. Dafür hat medico gemeinsam mit anderen Initiativen und Nichtregierungsorganisationen aus aller Welt den Friedensnobelpreis erhalten. Ziel unseren vernetzten Handelns ist es, die Ursachen von Armut, Not und Ungleichheit öffentlich zu machen und strukturelle Veränderungen zu erreichen. Im Folgenden stellen wir Ihnen Aspekte vernetzten Handelns aus dem Jahr 2009 vor.

Im Juli hörten wir zum ersten Mal von den Planungen, im Oktober 2009 in Berlin einen „Weltgesundheitsgipfel“, einen „World Health Summit“ durchzuführen. Als Hilfsorganisation, die sich vorrangig mit Fragen der Weltgesundheit beschäftigt, waren wir erstaunt, so spät von diesem Großereignis zu hören. Andere hatte man früher informiert und geladen: Mediziner, Wissenschaftler, Politiker und die Vertreter der privaten Gesundheitswirtschaft. Die Schirmherrschaft lag bei Angela Merkel und Nicolas Sarkozy, Initiator war Prof. Detlev v. Ganten, langjähriger Vorstandsvorsitzender der Berliner Charité. Der Gipfel sollte nur der erste einer ganzen Serie sein und in Anlehnung an die G8-Konferenzen der führenden Wirtschaftsnationen einen „M8“ der Weltgesundheit gründen.

Angesichts der globalen Gesundheitskrise wäre ein „Weltgesundheitsgipfel“ tatsächlich dringend und wichtig. Denn trotz des beispiellosen medizinischen Fortschritts ist die Gesundheitsversorgung der Mehrheit der Weltbevölkerung nach wie vor nur unzureichend, sterben noch immer alljährlich Millionen von Menschen an Krankheiten, die gut behandelbar wären, haben 2 Mrd. Menschen haben keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser, wächst die Kluft im Zugang zu Gesundheitsmöglichkeiten auch in den entwickelten und Schwellenländern.

Standortpolitik und Exportförderung

Als das offizielle Programmheft des World Health Summit bei uns auf dem Tisch lag, war klar, dass er dieser Krise der Weltgesundheit nicht gerecht werden würde. Das begann schon mit seiner fehlenden demokratischen Legitimation, dem Umstand, dass er auf exklusive Initiative hochspezialisierter Forschungsinstitute und mit der Förderung großer Pharmamultis zustande kam. Dem entsprach der technokratische und marktorientierte Ansatz des Programms, mit dem die individuelle Gesundheitsversorgung zum globalen Modell erhoben wurde, obwohl damit alle diejenigen von Gesundheit ausgeschlossen werden, denen zur Inanspruchnahme von Individualmedizin die finanziellen Möglichkeiten fehlen. Wer die Rede des Berliner Bürgermeisters zum Auftakt dieses Gipfels hörte, konnte verstehen, dass hinter dem World Health Summit ganz andere Interessen lagen als die Gesundheitsförderung der Ausgegrenzten und Marginalisierten. Wowereit betonte die Rolle von Berlin als Wissenschaftsstandort und pries die Exportchancen deutscher Gesundheitswirtschaft. Sie zu promoten war folglich ein wichtiger Grund, einen spektakulären Weltgesundheitsgipfel zu installieren.

Erst in späten Diskussionen mit medico und anderen global engagierten Gesundheitsorganisationen fiel den Organisatoren auf, dass man Themen wie Gesundheit und Armut und die Gestaltung öffentlicher Gesundheitspolitik nicht berücksichtigt hatte. Für uns war das Grund genug, eine Gegenveranstaltung zum World Health Summit zu initiieren, die diese Fragen in den Mittelpunkt rücken sollte. Ihr Name war schnell gefunden: „Public Eye on Berlin“, angelehnt an den Namen der Initiative, die sich vor Jahren schon den G8-Treffen von Davos entgegen gestellt hatte: „Public Eye on Davos“.

Von Ver.di bis Oxfam

In der Planung und Durchführung des Alternativgipfel kam das Netzwerk zum Tragen, in dem sich medico mit Initiativen und Organisationen verbunden hat, für die Gesundheit zuerst eine Frage sozialer Gerechtigkeit und demokratischer Partizipation ist. Binnen Kurzem unterschrieben 27 Organisationen und Einzelpersonen die „Gemeinsame Erklärung“ von Public Eye: andere Hilfs- und Entwicklungsorganisationen, Verbände kritischer Mediziner, pharmakritische Kampagnen und Initiativen, die sich um die Gesundheitsversorgung illegalisierter Migranten kümmern, Zusammenschlüsse von Medizinstudierenden und schließlich die Gewerkschaften ver.di und IG Metall. Mit dabei: das People’s Health Movement (PHM), ein internationales Netzwerk alternativer Gesundheitsorganisationen, dem medico schon lange angehört.

Zur Eröffnung des World Health Summit am 16. Oktober veranstalteten Gewerkschaftler, Medizinstudierende und medico-Mitarbeiter eine Protestaktion, die auf den Ausschluss illegalisierter Migranten von zureichender Gesundheitsversorgung verwies, bei dem die Charité übrigens keine Ausnahme macht. Auf der wenig später stattfindenden Pressekonferenz sprachen neben medico Aktivisten der Büros für medizinische Flüchtlingshilfe und Annelie Buntenbach, die stellvertretende Bundesvorsitzende des DGB. Gemeinsam brachten sie das Anliegen von Public Eye auf den Punkt: dass ein demokratisch legitimierter Weltgesundheitsgipfel nicht auf private Initiative, sondern auf Einladung einer gestärkten Weltgesundheitsorganisation zusammentreten müsse, und dass es einem solchen Gipfel nicht primär um die individuelle Gesundheitsversorgung, sondern um den gleichen Zugang aller zu Gesundheitsdiensten und um die Förderung einer Forschung gehen müsse, die konsequent an den Gesundheitsbedürfnissen der Menschen ausgerichtet ist.

Wie das konkret zu denken und zu realisieren wäre, darum kreisten dann die Debatten des Alternativgipfels, zu dem sich über hundert Teilnehmer zusammenfanden. Dabei kam auch der Initiator des World Health Summit, Prof. Ganten, zu Wort, der versicherte, sich auf dem Gipfel des nächsten Jahres auch den Einsprüchen medicos und des Public Eye stellen zu wollen. Das Netzwerk wird sich auch dann wieder Gehör verschaffen: diesmal aber nicht mit einer Gegen- oder Alternativ-, sondern mit einer ganz eigenen Veranstaltung zur Frage nach Gesundheit als einem öffentlichen Gut.

Veröffentlicht am 21. März 2010

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