Ein afghanischer Champion

Überlebensstrategie für Ausgeschlossene

Als der heute 20jährige Qaher vor 11 Jahren auf eine Mine trat, war sein Schicksal besiegelt. Er verlor beide Beine und galt von da an als ein unnützes Mitglied seiner großen Familie, die in den Außenbezirken von Kabul lebt. Und so wurde er auch behandelt. Die Geschichte seines Unglücks hat sich tausendfach so, oder ähnlich zugetragen. Die Brücke, die Qaher hätte passieren müssen, um im Auftrag der Mutter die Lebensmittel zu erstehen, war von Soldaten besetzt. Auf einem Seitenweg, den er notgedrungen nehmen mußte, trat er auf eine Mine.

Qaher sitzt im medico-Büro in Frankfurt. Die Worte sprudeln atemlos aus ihm heraus, als wäre es die letzte Gelegenheit zu sprechen. Immer wieder wischt er sich den Schweiß aus dem Gesicht. Doch man hat nicht den Eindruck, daß es die traumatische Erinnerung ist, die ihn in solche Aufregung versetzt, sondern eher die Tatsache, daß er in diesem fremden Land zu Wort kommt. Qaher berichtet mitleidlos, wie verzweifelt er gewesen sei, als er begriff, was mit ihm geschehen war. Über Selbstmord habe er immer wieder nachgedacht. Doch Qaher gehört offenbar zu den Menschen, denen Schicksalsergebenheit fehlt – zum Glück und vielleicht wegen seines Unglücks. In seinem Viertel sah er eines Tages einen beinamputierten Jungen, der Fahrrad fuhr. Von ihm erfuhr er, daß man das bei AABRAR in Jalalabad lernen könne und auch ein Fahrrad erhalte. Qaher machte sich auf den Weg – koste es, was es wolle, diese Chance mußte er nutzen.

Arbeitsplätze auf dem Mond

Hier beginnt die Geschichte von Dr. Abdul Baseer aus Jalalabad, der die Afghan Amputee Bicyclists for Rehabilitation and Recreation (AABRAR) Anfang der 90er Jahre gründete. Wenn man ihn nach seinen Motiven fragt, er erzählt immer wieder sein Schlüsselerlebnis. Der hochgewachsene, freundliche Mann aus dem konservativen Jalalabad hatte während der sowjetischen Besatzung in einem Krankenhaus im pakistanischen Peschawar gearbeitet. Täglich mußte er dort als Arzt Amputationen durchführen. Dabei lernte er einen Patienten näher kennen und mußte dessen Scheitern miterleben. Das Unglück seines Freundes war nicht nur der Amputation geschuldet, sondern auch der fehlenden Möglichkeit, wieder ein geachtetes und souveränes Mitglied der Gemeinschaft zu werden. Weil die Rikscha-Fahrtkosten zwei Drittel seines Gehaltes aufgefressen hatten, gab er seine Arbeit auf. »Er hatte mich flehentlich darum gebeten für ihn Arbeit in den afghanischen Flüchtlingslagern zu finden. Aber das war so unmöglich, wie auf den Mond zu klettern. Ich konnte ihm nicht helfen und brach den Kontakt ab. Monate später erfuhr ich, daß er sich mit einer Überdosis Heroin umgebracht hatte. Seine Kindern überlebten vom Betteln.« Alpträume hatte dieses Ereignis bei Dr. Baseer ausgelöst. Immer wieder habe er sich gefragt, was würde Menschen wie seinem Freund tatsächlich helfen. Ein Auto? – nicht finanzierbar. Ein Motorrad?– auch undenkbar. Und so sei er auf Fahrräder gekommen. Die seien bezahlbar. Er gründete AABRAR mit der klaren Vorstellung, daß die Abertausenden Behinderten in Afghanistan nicht nur eine Prothese bräuchten, sondern ihre Rehabilitation nur gelingen würde, wenn es für Amputierten auch Möglichkeiten zur Existenzsicherung gebe. Mit dem Fahrrad zum Beispiel.

Arbeitsmöglichkeiten schaffen, das ist es, woran Dr. Baseer und sein Team nun seit vielen Jahren beharrlich arbeiten. »Behinderte Menschen tragen in Afghanistan«, so Dr. Baseer, »nach wie vor ein Stigma. Man redet abfällig über Behinderte, man grenzt sie aus und man versteckt sie.« Besonders extrem sei dabei die Lage der behinderten Frauen. Bei AABRAR wurde deshalb eine Nähwerkstatt als – wenn man so will – Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für mehr als 20 behinderte Frauen eingerichtet. Die Frauen werden von zu Hause abgeholt und in die Werkstatt gefahren, hier stellen sie Textilien her, die auf dem Markt verkauft werden. Viele von ihnen sind nach Jahren zum ersten Mal wieder aus dem Haus gekommen. Es sei, berichtet Dr. Baseer, unvorstellbar, wie fröhlich es in der Nähwerkstatt zugehe. Der Ausbruch aus der Isolation, in der sich viele der Frauen seit Jahren befunden hatten, habe ihnen ungeheure Lebensenergie verschafft.

»Wenn man mit Behinderten in Afghanistan spricht, tragen sie immer wieder die Forderung nach Arbeit vor. Es geht ihnen nicht nur ums Geld. Im Zweifel könnten sie das auch durch Betteln verdienen. Arbeitsplätze sind ein Faktor der Integration«, erzählt Baseer. Bei AABRAR sind 80 Prozent der Mitarbeiter Behinderte, zumeist Kriegsbeschädigte. Er habe selbst einen Lernprozess durchlaufen, um Vertrauen in die Fähigkeit dieser Menschen zu gewinnen. »Auch die afghanische Gesellschaft muss erst lernen, daß behinderte Menschen für sich selbst Verantwortung übernehmen können.« Aus diesem Grund habe er 1994 zum ersten Mal das Fahrradrennen der Beinamputierten in Jalalabad durchgeführt. Die Behinderten sollten damit ein anderes Körpergefühl bekommen, ein anderes Selbstbewusstsein, daß auch ihr beschädigte Physis zu Höchstleistung imstande ist. Zugleich wollte er die Wahrnehmung der Bevölkerung verändern. Bereits beim ersten Rennen gelang das mit Erfolg. Anwesende Vertreter des IKRKs boten 14 Arbeitsplätze in Prothesenwerkstätten an, nachdem sie sich von Dr. Baseer überzeugen ließen, »daß diese Menschen zwar ein Bein, aber nicht ihren Kopf verloren haben«.

Dr. Baseer spricht nicht gern über Politik. Die Signale, die AABRAR in dieser Hinsicht setzt, sind subtil. So gibt es alle fünf Jahre demokratische Wahlen zur Projektleitung. Jeder Mitarbeiter und auch jede Mitarbeiterin, das muß man in Afghanistan betonen, hat Stimmrecht. Demokratie muß von unten kommen. Das ist Dr. Baseers Überzeugung, auch wenn er sich manchmal eine starke Hand wünscht, die mit den gewalttätigen Verhältnissen in seinem Land aufräumt. Denn um das Projekt Demokratie steht es in Afghanistan nicht gut. Im Sommer 2004 sollen Wahlen stattfinden. Doch so lange in Afghanistan die Kalaschnikow regiert, dürfte das Wahlergebnis kaum die Meinung der Menschen widerspiegeln. Die Entwaffnung der Warlords, meint Dr. Baseer, sei deshalb von höchster Priorität. Aber das werde nur gelingen, wenn es andere Einkunftsmöglichkeiten gebe. Zur Zeit könne man in Afghanistan fast nur dann Geld verdienen, wenn man auch eine Waffe besitze. Doch wenn sich die Gelegenheit bietet, an einer anderen afghanischen Zukunft zu arbeiten, beteiligt sich AABRAR. Für die Verfassung haben sie eine 60-Seitenstarke Empfehlungen für die Rechte der Behinderten ausgearbeitet. Im Vorzeigeprojekt der Fahrradkuriere, das der Deutsche Entwicklungsdienst zumindest in diesem Jahr noch finanziert, arbeiten Beinamputierte unterschiedlichster Herkunft: Paschtunen, Usbeken, Tadschiken. Auch das ein Signal gegen die Ethnisierung, die die Politik dort beherrscht.

Auf zu den Paralympics

Einer von ihnen ist Qaher, dessen Geschichte noch fortgesetzt werden muß. Nachdem er in Jalalabad in einem Monat das Fahrradfahren erlernt hatte, nahm er sofort an dem Rennen der Amputierten teil. Er gewann aus dem Stand. Das sei für ihn eine ungeheuer positive Erfahrung gewesen. Als Fahrradkurier verdient er heute 70 Euro im Monat. Ein Spitzengehalt, mit dem er den gesamten Lebensunterhalt seiner 7-köpfigen Familie bestreitet. Qaher ist nun ein geachteter Mann. Er hat noch große Pläne. Im September gewann er die afghanische Meisterschaft im Straßenradfahren für beidbeinig Amputierte. 2004 würde er gern als Mitglied einer afghanische Behinderten-Nationalmannschaft zu den Paralympics nach Athen fahren. »Ich möchte«, erklärt er ohne zu zögern, »die erste Goldmedaille für Afghanistan holen.«

Katja Maurer

Bitte unterstützen Sie die Arbeit von AABRAR unter dem Stichwort »Afghanistan«.

Veröffentlicht am 01. November 2003

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