Die neuen Sklaven des Weltmarktes

Pakistan: Was ein Fabrikbrand in Karatschi mit billigen Jeans in Deutschland zu tun hat

Es gab keine Feuerlöscher, die Fenster waren vergittert, Fluchtwege versperrt. Für mehr als 250, vielleicht sogar über 300 Menschen wurde die Textilfabrik Ali Enterprises am 11. September 2012 zur Todesfalle, in der sie elend verbrannten. Hier sah man die Bilder in den Abendnachrichten, eine Katastrophenmeldung mehr aus Karatschi, der pakistanischen 20-Millionen-Metropole im Mündungsdelta des Indus. Am nächsten Morgen lasen wir die Emails unserer Partner, Nasir Mansoor von der National Trade Union Federation (NTUF) und Karamat Ali vom Pakistan Institute for Labour Education and Research (PILER). Bis dahin verband uns die Nothilfe für die Flutopfer der großen Überschwemmungen 2010 und 2011. Wenn wir jetzt auch in Gewerkschaftsdingen kooperieren, liegt das am Auftraggeber von Ali Enterprises. „Mindestens 75% der Jeans gingen unter dem Label ‚Okay’ nach Deutschland“, schrieb uns Nasir. „Das Label wird vom Textildiscounter KiK vertrieben.“

Baldia Town und Bönen/Westfalen

Die Fabrik lag in Baldia Town, einem Stadtteil im Westen Karatschis. Er zieht sich an der großen Autobahn entlang, die den stolzen Namen Regional-Cooperation-for-Development-Highway trägt und von den Leuten kurz RCD genannt wird. Baldia wurde auf dem Reißbrett entworfen, Baubeginn war 2001, die Einwohnerzahl liegt heute schon bei über 400.000. medico-Partner Nasir Mansoor kannte Ali Enterprises schon vor dem Brand, weil seine Gewerkschaft wie in anderen der über 10.000 Fabriken Karatschis auch in der Todesfabrik aktiv war. Auftraggeber KiK hat seinen Sitz in Bönen, einer westfälischen Provinzstadt mit 18.000 Einwohnern. In Einkaufszentren vor deutschen Städten kosten „Okay“-Jeans von KiK ab 15,99 € das Paar. Dieses Billigschnäppchen wird in Karatschi bezahlt, auch bei Ali Enterprises. Am 11. September 2012 zahlten die Arbeiterinnen und Arbeiter dort mit ihrem Leben, in den Monaten und Jahren zuvor mit einer Existenz, deren Lebensrhythmus vom globalisierten Weltmarkt bestimmt wird, konkret gesprochen: in Bönen/Westfalen.

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Für die über 1.000 Beschäftigten bei Ali Enterprises hieß das eine Schufterei von bis zu 14 Stunden täglich. Mehrarbeit wurde nicht bezahlt, konnte jedoch nicht zurückgewiesen werden. Gearbeitet wurde am Band, mit immer denselben Handgriffen, je nach dem Teil der Jeans, für den die einzelne Arbeiterin zuständig war, Hosenbund oder Tasche. Bezahlt wurde per Stück. „Wie anderswo lag der Tagesverdienst oft unter dem Armutssatz von zwei Dollar täglich“, sagt Nasir Mansoor. Im Monat kamen so höchstens 60 Euro zusammen.

Die Räume waren nicht erst im Brandfall lebensgefährlich: eng, stickig, unzureichend beleuchtet, die Luft zum Atmen voller Textilfasern. Das widerspricht, was jetzt wichtig wird, auch pakistanischem Recht. Auch bei Ali Enterprises erhielten die meisten Beschäftigten keinen Arbeitsvertrag. Sie konnten sich deshalb bei keiner Behörde beschweren, keine Sozialversicherung, keine Rente beantragen, auch dies im Widerspruch zu pakistanischem Recht. Sie können jetzt, da kommt das Ganze auf den Punkt, nicht einmal ihren Antrag auf Entschädigung belegen, für erlittene Verletzungen, den Tod eines Familienmitglieds, den Verlust von Arbeitsplatz und Einkommen.

Bewegung für Arbeiterrechte

Der rechtswidrige Vorenthalt der Arbeitsverträge erklärt die Schwierigkeiten bei der Zählung der Opfer. So gibt es neben den erfassten Toten nach wie vor nicht identifizierte Leichname, zugleich aber mehr Vermisstenmeldungen als gezählte Leichname. Nasir und seine Kollegen arbeiten mit vier Kategorien. Die ersten drei liegen, schlimm genug, auf der Hand: identifizierte sowie nicht identifizierte Tote und Vermisste, von denen nicht einmal ein Leichnam blieb. Die vierte bezieht sich auf die Toten, die bisher weder gefunden noch vermisst gemeldet wurden: Wanderarbeiter vom Land, deren Angehörige vom Brand der Fabrik und dem möglichen Tod ihrer Verwandten noch gar nichts gehört haben.

In Bönen/Westfalen beruft man sich auf Prüfberichte zur Arbeitssicherheit, die von Ali Enterprises nur Gutes zu berichten haben. Wenige Tage nach dem Brand gründeten Betroffene von Ali Enterprises, Gewerkschaften, Menschenrechtsorganisationen und linke Gruppen das Workers Rights Movement. Mit dabei, neben NTUF und Nasir, auch der zweite medico-Partner in Karatschi, die Forschungs-, Bildungs- und Advocacy-NGO PILER. Das Bündnis organisierte schnell eine erste Demonstration, die prompt verboten wurde – während man die Besitzer der Todesfabrik gegen Kaution auf freien Fuß setzte.

Fand KiK nach eigenen Angaben zunächst keinen geeigneten Ansprechpartner vor Ort, kam es dann zum Treffen mit PILER und der Vorlage eines ersten Entschädigungsangebots aus Bönen/Westfalen: 500.000 Dollar „Soforthilfe“ zuzüglich derselben Summe an „nachhaltiger Unterstützung“. Legt man die offizielle Zahl von 259 Getöteten zugrunde, wären das etwas über 3.860 Dollar pro Person, zuzüglich weiterer Zahlungen des pakistanischen Staates. „Viel Geld in den Slums von Karatschi, verdammt wenig in Bezug auf die Gewinnspanne bei KiK“, sagt Karamat Ali, Geschäftsführer von PILER. Die Betroffenen und das Bündnis geben sich damit nicht zufrieden, verweisen auf ein vergleichbares Unglück in einer Weltmarktfabrik Bangla deschs. Dort zahlten die Auftraggeber nicht eine, sondern zwanzig Millionen. „Wir wollen, dass Zustände wie bei Ali Enterprises aufhören“, sagt Karamat Ali. „Das betrifft die Besitzer, die pakistanischen Behörden, die ausländischen Auftraggeber.“ Es betrifft auch die deutschen Zustände. Denn das Gefühl, von der weltweiten Krise nicht wirklich betroffen zu sein, das Gefühl, trotz jahrelangen Lohnverlusten und fortlaufendem Abbau sozialer Rechte noch ganz gut dazustehen, verdankt sich auch der Möglichkeit, Jeans für 15,99 € kaufen zu können.

medico wird seinen pakistanischen Partnern weiter zur Seite stehen. Anfang Dezember 2012 treffen wir Nasir Mansoor und Karamat Ali in Karatschi, während einer Fact Finding Mission zur weiteren Aufklärung des Brandes und zur Abstimmung der nächsten Schritte einer internationalen Kampagne.

Thomas Seibert

Veröffentlicht am 21. November 2012

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