Gaza-Krieg: "Die EU finanziert die Fortsetzung des Status Quo aus Wiederaufbau und Zerstörung"

medico-Partner sammeln Fakten damit Menschenrechtsverletzungen verfolgt werden können

Der aktuelle Gaza-Krieg dauert bereits länger an als die „Operation Gegossenes Blei“ 2008/2009. Wie hat sich das militärische Vorgehen auf israelischer und palästinensischer Seite verändert?

Miri Weingarten: Die medizinischen Einrichtungen und die Erste-Hilfe-Fahrzeuge sind nicht sicher. Das war 2008/09 genauso. Es gibt israelische Angriffe auf Krankenhäuser. Sehr häufig müssen verletzte Zivilisten sehr lange auf ihre Evakuierung warten. Die Israelis verweigern die Koordinierung mit dem Roten Kreuz oder dem Roten Halbmond und deren Ambulanzen. Immer wieder gibt es Beschießungen und bereits mehrere Ärzte sind bei Einsätzen ums Leben gekommen. Das führt dazu, dass selbst leicht verletzte Menschen zu lange auf Ambulanzen warten müssen und sich ihre Verletzung verschlechtern. Gerade erst wurde uns der Fall eines Mannes gemeldet, der eine Verletzung an der Hand hatte und daran verblutete, weil es aufgrund des andauernden Feuers nicht möglich war, erste Hilfe zu organisieren. Solche Fälle hatten wir auch vor 5 Jahren.

Und was hat sich verändert?

Es gibt Dinge, die sind schlechter geworden. Vor 5 Jahren gab es einen einzigen erschütternden Fall einer Familie bei der alle 29 Familienmitglieder ums Leben kamen. Bei den Attacken in diesem Jahr sind sehr viele Großfamilien betroffen. Mal kamen 8 Familienmitglieder ums Leben, mal 25, darunter drei schwangere Frauen und 19 Kinder. Und dieses Mal gibt es auch mehr Angriffe auf Notunterkünfte der Vereinten Nationen. Es wird weniger abgewogen, ob solche Opferzahlen für die verkündeten Kriegsziele gerechtfertigt sind. Die israelische Armee weiß normalerweise, was sie tut und wen sie trifft. Deshalb ist das aus unserer Sicht ein sehr Besorgnis erregendes neues Muster. Es gibt weniger Rücksichtnahme. Neu ist der Warnmechanismus, der als Schutz der Zivilbevölkerung deklariert wird. Die israelische Armee informiert ganze Stadtteile von Gaza über einen bevorstehenden Angriff. Zwischen 100.000 und 300.000 Menschen werden gewarnt. Aber wohin sollen sie fliehen? Im Gegensatz zu vielen anderen Kriegsschauplätzen können die Menschen den Ort der Kriegshandlung nicht verlassen. Anderswo hat man große Flüchtlingslager außerhalb der Kriegszone. Hier sind alle Grenzen dicht. Die Israelis kontrollieren die Grenzen zu Wasser und zu Land. Und auch die Grenze zu Ägypten ist geschlossen. Das ist ein Militärangriff auf eine Bevölkerung ohne Fluchtmöglichkeit und das ist eine ganz außergewöhnlich brutale Situation für die Bewohnerinnen und Bewohner in Gaza. Es gibt keinen einzigen sicheren Ort in Gaza.

Und die Hamas?

Die Hamas und die anderen palästinensischen Gruppen, die Raketen schießen, nutzen dieselben Waffen wie die letzten Male. Allerdings haben sie darunter Raketen, die weiter reichen. Dieses Mal gibt es direkte militärische Konfrontationen mit israelischen Soldaten der Bodentruppen. Das gab es 2008/2009 nicht. Die Hamas ist viel besser auf eine Bodenoffensive vorbereitet. Deshalb gibt es zum ersten Mal viele tote israelische Soldaten. Auf israelischer Seite gab es drei tote Zivilisten, die von einer Rakete getroffen wurden.

Im Goldstone-Report, der von der UN-Menschenrechtskommission 2009 in Auftrag gegeben wurde, um Menschenrechtsverletzungen zu untersuchen, wurden insbesondere gezielte Angriffe auf klare zivile Ziele als Kriegsverbrechen definiert. Gab es solche Angriffe dieses Mal wieder?

Auf jeden Fall. Der Angriff auf das einzige Elektrizitätswerk von Gaza ist ein solcher Fall. Schon zuvor gab es in Gaza nur drei Stunden Strom am Tag. Jetzt gibt es weiten Teilen Gazas gar keinen Strom mehr. Es wird fast ein Jahr dauern bis das Elektrizitätswerk wieder hergestellt ist. Dann kommt noch die gezielte Zerstörung der Wasser-und Abwasserversorgung hinzu. Das sind klare zivile Ziele. Und dann noch die komplette Zerstörung ganzer Stadtteile.

Gab es das nicht auch schon vor 6 Jahren?

Ja, aber dieses Mal sind die Zerstörung viel größer.

Wie beurteilen Sie die Reaktionen der internationalen Politik?

Die Situation in Gaza ist sehr Besorgnis erregend, gleichzeitig gibt es keine Kraft in der internationalen Gemeinschaft, die in der Lage wäre für einen Waffenstillstand zu sorgen. Entweder will man nicht oder kann man nicht. In der Vergangenheit gab es ernsthafte Vermittler wie Ägypten. Das war vor allen Dingen 2012 der Fall. Aber 2008/2009 gab es auch nur ein großes Schweigen der internationalen Gemeinschaft. Der Krieg endete als unilaterale Entscheidung der israelischen Regierung.

Auch dieses Mal tut der Westen, die Europäische Union und die USA, herzlich wenig, um ein Waffenstillstand zu erreichen. Seit einer Woche gibt es erste Bemühungen. Aber die Hamas wird nicht mal in die Verhandlungen einbezogen und Ägypten ist kein ernsthafter Vermittler. Und als Kerry die Türkei und Katar als Vermittler wollte, um so einen Zugang zu Hamas zu haben, haben die Israelis alle Gespräche abgebrochen.

Welche Rolle spielt die EU?

Die EU tut eigentlich überhaupt nichts. Der außenpolitische Rat der EU forderte kürzlich einen Waffenstillstand und die komplette Entwaffnung der palästinensischen Gruppen in Gaza. Das ist ein völlig unrealistischer, verrückter Vorschlag zu diesem Zeitpunkt. Die Hamas wird von allen palästinensischen Organisationen unterstützt. Wenn es keine Zugeständnisse bezüglich der Blockade von Gaza gibt, wird es überhaupt keine Bewegung auf palästinensischer Seite geben. Seit 7 Jahren läuft die Blockade und seit einem Jahr mit den Veränderungen in Ägypten ist die humanitäre Situation im Gaza schon ohne Krieg unerträglich geworden. Unter diesen Bedingungen haben die Palästinenser nicht mehr viel zu verlieren. Sie sagen, wir werden weiter machen, bis wir eine Garantie haben, dass die Blockade aufgehoben wird. Israel wird ebenfalls weiter machen wegen der Tunnel. Es wird also vorerst keinen Waffenstillstand geben.

Wie 2009 haben sich alle EU-Mitgliedsstaaten im UN-Menschenrechtsrat enthalten, weil er auch dieses Mal mit fast den gleichen Formulierungen die Einrichtung einer Kommission zur Untersuchung möglicher Menschenrechtsverbrechen beschlossen hat.

Die EU betreibt wenn nur irgend möglich eine Nicht-Politik. Aus internen Gründen, es muss ein Konsens von 28 Mitgliedsstaaten her. Aber neutral ist die EU nicht. Denn die EU finanziert alles. Sie finanziert das zivile Leben in Gaza. Wie beim letzten Mal sind viele von der EU finanzierte Strukturen im Gaza-Streifen zerstört worden. Und die EU wird für ihren Aufbau wieder zahlen. Nicht Israel. Einzelne Mitgliedsstaaten exportieren Waffen und Technologien nach Israel. Die EU finanziert die Fortsetzung des Status Quo aus Wiederaufbau und Zerstörung. Ihr Schweigen macht sie zum Komplizen.

Warum betreibt die EU eine solche Nicht-Politik?

Nun, sie muss in der Außenpolitik einen Konsens zwischen 28 Staaten zustande bringen. Der Israel-Palästina-Konflikt ist in der EU aber heftig umstritten. Das hat mehr mit der internen EU-Problematik zu tun als mit dem Nahost-Konflikt.

Aber auch Deutschland und Frankreich, die starken Mächte in der EU, haben von Beginn des gegenwärtigen Konfliktes an vor allen Dingen das Recht Israels auf Selbstverteidigung betont. Auch wenn sich die Position jetzt etwas verändert hat, mit dieser Haltung haben die EU und die USA Israel erlaubt militärisch gegen die Hamas vorzugehen. Aus israelischer Sicht macht dieser Krieg Sinn. Für Israel waren die gekidnappten und ermordeten Schüler aus den Siedlungen ein guter Vorwand, die geplante gemeinsame Regierung aus Fatah und Hamas zu verhindern. Die Vorwürfe, Hamas habe das Kidnapping durchgeführt, konnten nie bewiesen werden. Mittlerweile gibt das auch die israelische Regierung zu.

In dieser Sackgasse ohne politische Handlungsmöglichkeit – was bleibt zu tun?

Das alles wird nur aufhören, wenn Israel wie 2009 einseitig einen Waffenstillstand verkündet. Wir müssen Sorge tragen, dass für alle Menschenrechtsverletzungen Rechenschaft abgelegt werden muss. Wenn man sich andere Aufarbeitungsprozesse von Menschenrechtsverletzungen anschaut, die kolonialen Prozesse, die Menschenrechtsverletzungen in Lateinamerika, dann ist klar, dass das sehr langwierige Prozeduren sind. Der Kampf um Aufarbeitung ist lang und wir wissen nicht, wohin er im Ergebnis führt. Aber unabhängig davon müssen Informationen gesammelt, Beweise gesichert und Augenzeugen interviewt werden.

Der Goldstone-Report von 2009 war dafür exemplarisch. Das war der erste umfassende Bericht über das gesamte Geschehen. Und außerdem der erste UN-Bericht, der wirklich Zähne zeigte. Er enthielt nicht nur Empfehlungen, sondern auch zwingende Mechanismen zu ihrer Durchsetzung. So wurde vorgeschlagen, dass Menschenrechtsverletzungen zuerst lokal untersucht und von einem internationalen Gremium überwacht werden sollten. Wenn sich diese Untersuchungen und Verfahren als nicht adäquat herausstellen würden, also Täter nicht zur Verantwortung gezogen würden, dann müssten internationale Gerichtsverfahren einsetzen. Wie zum Beispiel der internationale Strafgerichtshof in Den Haag. Deshalb wurde der Goldstone-Report so heftig angegriffen. Denn er ist tatsächlich ein wirksames Instrument, um Menschenrechtsverletzungen zu verfolgen und strafbar zu machen. Deshalb halten wir die Untersuchungskommission für sehr wichtig. Sie muss unbedingt die Frage stellen, was sich auch im Vergleich zu vergangenen Konflikten in Gaza geändert hat. Und dabei muss untersucht werden, inwieweit es Veränderungen in den israelischen juristischen Verfolgungen von Menschenrechtsverletzungen gegeben hat. Ich fürchte Verbesserungen werden dabei nicht herauskommen.

Was können die lokalen Organisationen in Gaza und Israel tun?

Ärzte für Menschenrechte Israel, das Menschenrechtszentrum Al Mezan und PCHR in Gaza, die Gesundheitsorganisation PMRS und viele andere Gruppierungen, die sich für einen gerechten Frieden einsetzen, planen wieder eine eigene Fact-Finding-Mission, die ja auch von medico international unterstützt wird. Wir stellen gerade eine Gruppe von medizinischen Experten zusammen. Sobald es einen Waffenstillstand gibt, werden wir diese Gruppe in den Gazastreifen schicken, um so viel wie möglich medizinische Fakten zu sammeln, die wir dann an offizielle Untersuchungsorgane weiter geben werden.

Das Interview führte Katja Maurer.

Veröffentlicht am 31. Juli 2014

Jetzt spenden!