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Der dritte Global Health Watch (GHW 3) setzt die Globale Gesundheit in den Kontext der Finanzkrise und hinterfragt die Interessenkonflikte der Weltgesundheitsorganisation

Prof. Dr. Claudio Schuftan ist Arzt für Kinderheilkunde und Ernährung und ein aktives Mitglied des People’s Health Movements (PHM). In Chile geboren und aufgewachsen, lebt er in Vietnam und arbeitet dort als selbstständiger Berater für Public Health und Ernährung.

Was ist der Schwerpunkt der aktuellen Ausgabe des Global Health Watch?

Auch die dritte Ausgabe des GHW ist ein alternativer Weltgesundheitsbericht. Die aktuelle Lage der globalen Gesundheit wird anhand von Fakten dargestellt. Zuerst werden die sozialen, politischen und historischen Bedingungen - die sogenannten sozialen Determinanten von Gesundheit - analysiert , dann werden die globalen Debatten zum Gesundheitswesen nachgezeichnet. Es gibt konkrete Fallbeispiele aus Costa Rica, Thailand oder den USA. Zusätzlich beleuchten wir kritisch einige globale Akteure: Hier passiert das eigentliche Beobachten („Watching“). Wir analysieren die Arbeit der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sowie UNICEF, aber auch internationaler NROs und privater Philanthropen, wie z.B. der Gates-Foundation. Zum Schluss machen wir unter dem Motto „Widerstand, Aktionen und Veränderung“ konkrete Handlungsvorschläge und geben viele Beispiele von gelungenen Prozessen. Wichtig ist uns, dass all dies in einem kollektiven Arbeitsprozess entsteht. So haben beim GHW 3 z.B. 130 Menschen mitgearbeitet.

Welche Bedeutung hat das Buch im Rahmen des People’s Health Movements?

Das PHM vereint fünf Aktionsfelder und der GHW ist sicherlich eines der wichtigsten. Die anderen sind die International People’s Health University (IPHU), die „Right to Health“-Kampagne, der WHO-Watch und natürlich die eigentliche Unterstützung von Projekten, welche sich als Teil der „Graswurzelbewegung“ verstehen. Der GHW ist sozusagen unser „Botschafter“! Mit ihm konkretisieren wir unsere Grundsätze aus der People’s Health Charter. Wir erreichen damit nicht nur eine allgemeine Öffentlichkeit, sondern unsere kritischen Informationen werden auch zunehmend als Arbeitsgrundlage in Universitäten und bei Masterstudiengängen genutzt.

Welches sind erfolgreiche Beispiele für Handlungsoptionen sozialer und zivilgesellschaftlicher Bewegungen?

Da ist zum Beispiel El Salvador. Das Land nimmt seit den Wahlen 2009 eine sehr interessante Entwicklung. Vertreter im Gesundheitsministerium sind nicht nur ehemalige Befreiungskämpfer, sondern auch Mitglieder unserer Bewegung. In lokalen Gesundheitskomitees und regionalen Foren nimmt die Bevölkerung direkt Einfluss auf die Gesundheitsreform und begleitet kritisch die Arbeit des Gesundheitsministeriums. Oder auch Brasilien: Das Schwellenland und neue Mitglied der G20 hat zuletzt viel erreicht, etwa das Sozialprogramm Bolsa Familia, das ein minimales Grundeinkommen für arme Familien garantiert. Hier werden erfolgreich die sozialen Determinanten von Gesundheit verändert.

Der GHW beschäftigt sich mit der Rolle von privaten Geldgebern in der globalen Gesundheit. Kann der Prozess der zunehmenden Privatisierung der WHO beeinflusst werden?

Die WHO ist in einer Krise. Nahezu 80% der Gelder sind mittlerweile projektgebunden und ein Viertel des Budgets kommt von privaten Akteuren. Die Gates-Foundation ist der zweitgrößte Geldgeber nach den USA. Wie soll unter diesen Bedingungen die demokratisch legitimierte Weltorganisation unbeeinflusst arbeiten können? Die Passagen zur WHO lesen sich wirklich wie ein Krimi! Etwa da, wo der Einfluss der Industrie auf die Medikamentenpolitik nachgewiesen wird. Das PHM versucht Einfluss auf die aktuell diskutierte Reform der WHO zu nehmen und konnte, auch dank der finanziellen Unterstützung durch medico international, an vielen offiziellen Versammlungen teilnehmen. Mittlerweile finden wir selbst bei höchsten Stellen Gehör.

Das Interview führte Kirsten Schubert

Projektstichwort

Gesundheit ist auch in El Salvador eine Frage der Demokratie: Durch die Stärkung des Nationalen Gesundheitsforums werden Partizipation der Bevölkerung und die kritische Begleitung der Auswirkungen der Gesundheitsreform in den Regionen Central und Metropolitana ermöglicht. medico hat den Global Health Watch 3 mitfinanziert und unterstützt die Netzwerkarbeit des People’s Health Movement. Das Spendenstichwort lautet: medico.

Veröffentlicht am 01. Dezember 2011

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