Liebe Leser:innen,
„Es geht nicht um 30 Pesos, es geht um 30 Jahre“: So lautete eine vielzitierte Parole des chilenischen Aufstands im Herbst 2019, der mit den Protesten von Schüler*innen gegen eine Fahrpreiserhöhung begann – um 30 Pesos. Schnell weiteten sich die Proteste aus zu einer allgemeinen Revolte gegen das Leben im Neoliberalismus: ein Leben aus Arbeit, Schulden, Konsum und Unsicherheit, abgesichert von einer hochgerüsteten Polizei und einem korrupten Staat. In diesen Tagen jähren sich die Ereignisse zum ersten Mal. Und glücklicherweise hat selbst die Pandemie es nicht vermocht, den Unmut zum Schweigen zu bringen oder zu ersticken. Die Bewegung in Chile ist weiter lebendig und sie hat ein Verfassungsreferendum erkämpft, das am kommenden Sonntag stattfindet. Dass dies wichtig ist und trotzdem nicht ausreicht, beschreibt Katja Maurer in einem Beitrag zur bevorstehenden Abstimmung und einem Text über ihr Gespräch mit dem chilenischen Arzt Pablo Lopez. Um 30 Jahre geht es auch im Libanon. Im Jahr 1990 endete der Bürgerkrieg, dessen Nachkriegsordnung von der Demokratiebewegung zeitgleich zum chilenischen Aufstand in Frage gestellt wurde. Ein Jahr später ist die Bilanz verheerend: Corona, die tiefe ökonomische und soziale Krise sowie die Explosion am Hafen haben die Räume für Veränderung drastisch verkleinert und das Land buchstäblcih ruiniert. Und so sieht gerade alles danach aus, als würde der im letzten Oktober von der Bewegung gestürzte Premierminister Hariri nun als „Krisenlösung“ ins Amt zurückkehren. Das Ergebnis einer langen Suche nach Veränderung ist also: Es soll sich nichts ändern. Doch Aufgeben ist für viele keine Option. In einem Dossier werfen wir einen Blick auf den Libanon und stellen unsere neue Partnerorganisation „Public Works“ vor, die wir auch dank der vielen Spenden unterstützen können, die nach der Explosion im Hafen bei uns eingingen. „Sie schulden uns ein Leben“ wurde im letzten Jahr an eine chilenische Bankfiliale gesprüht. Es wird wohl noch etwas dauern, bis diese Schuld beglichen wird. Die Aufstandsbewegungen versprechen keine schnelle Erlösung aus der Katastrophe, in der die Welt nicht erst seit Corona steckt. Dennoch ist die Rückbesinnung eine erfrischende wie notwendige Übung in Zeiten der Pandemie. Denn Corona hat trotz aller Unterbrechung die Probleme der Welt nicht beseitigt, sondern dramatisch verschärft: Das ist die Kontinuität des Ausnahmezustands, die wir nicht zum ersten Mal erleben. Unser Denken und die Kämpfe für ein anderes Gemeinsames sollten unter neuen Bedingungen den eigenen roten Faden wiederfinden und wieder aufnehmen. Mit den besten Grüßen Mario Neumann |