Griechenland

Knast statt Asyl

Geflüchtete werden unter dem Vorwurf der Schlepperei drakonisch abgeurteilt – im Schnitt zu 46 Jahren Haft. Ein Gespräch mit Julia Winkler und Natasha Dailiani über die Abschreckungspolitik der EU.

medico: Am 14. Juni 2023 sank im Ionischen Meer vor der griechischen Stadt Pylos der Fischtrawler „Adriana“ mit Hunderten Geflüchteten an Bord. Über 600 Menschen starben. Es gibt Schilderungen, denen zufolge die griechische Küstenwache erhebliche Mitschuld trägt. Festgenommen aber wurden neun Überlebende aus Ägypten. Der Vorwurf: Schlepperei und Menschenschmuggel. Was ist davon zu halten?

Julia Winkler: Das ist kein Einzelfall, im Gegenteil: Unsere Studie zeigt viele Fälle, in denen Geflüchtete in Griechenland festgenommen werden, nachdem sie angekommen sind – und zwar unabhängig davon, welche Rolle sie bei der Einreise gespielt haben.

Natasha Dailiani: Es wird nicht gefragt, wer die Überfahrt bzw. Fahrt organisiert hat oder wer davon profitiert, sondern wer das Auto oder Boot gesteuert hat. Kommt ein Schiff an, wollen die Beamten der Küstenwache von den Ankommenden wissen, wer die Steuerpinne in der Hand hielt. Oft lassen sich die Menschen nach der anstrengenden und lebensgefährlichen Überfahrt einschüchtern und deuten dann irgendjemanden aus. So war das auch bei den neun Ägyptern. Wir als Legal Centre Lesvos sind Teil ihres Verteidigungsteams, und Aufgabe des Verfahrens wird nun sein, solche Fragen zu klären.

Ist es denn realistisch, dass diejenigen, die die Überfahrten organisieren, selber an Bord sind und sich den Gefahren, auch der einer Verhaftung aussetzen?

Dailiani: Es ist sehr unrealistisch. Aussagen in der Studie belegen: Die Schmuggler fahren allenfalls am Anfang kurz mit, dann kehren sie an Land zurück. Befindet sich das Boot auf hoher See, muss dann halt jemand ans Steuer. Irgendjemand muss die Verantwortung übernehmen – für sich, für die eigene Familie und auch für die anderen Passagiere.

Warum kriminalisiert der griechische Staat diese Menschen?

Winkler: Es handelt sich um ein Instrument der Abschreckung. Unerlaubte Einreise wird so durch die Hintertür zu einem Schwerverbrechen gemacht, das teilweise härter geahndet wird als Mord. Menschen werden zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Ein weiterer Grund für die Kriminalisierung liegt sicherlich darin, Zahlen präsentieren zu können. Der „Kampf gegen Schmuggel“ ist ein politisches Narrativ, mit dem alle für alles verantwortlich gemacht werden können. Die Toten im Mittelmeer, die hohen Ankunftszahlen von Geflüchteten: Immer ist „der Schmuggler“ schuld. Zudem sind Menschen, die ankommen, Teil einer Gruppe, die sich strukturell nur sehr schwer dagegen wehren kann, wenn ihre Rechte missachtet werden. Bei einer Tragödie wie dem Schiffsuntergang vor Pylos müssen der Öffentlichkeit Schuldige präsentiert werden, um von der Verantwortung der griechischen und europäischen Behörden abzulenken.

Dailiani: Neben der Abschreckung dient die Kriminalisierung auch der Erzählung, dass die Geflüchteten selber schuld seien an dem Furchtbaren, was ihnen widerfährt. Die Verantwortung soll ihnen in die Schuhe geschoben werden.

Für die Studie habt ihr 81 Gerichtsverfahren gegen vermeintliche Schmuggler – alle Männer – beobachtet und analysiert. Was habt ihr dabei festgestellt?

Winkler: Zum einen konnten wir zeigen, dass das reine Identifizieren von jemandem, der am Steuer gestanden haben soll, als Straftatbestand ausreichend ist, um vor Gericht gestellt zu werden. Zum Zweiten haben wir festgestellt, dass diese Verhaftungen und die folgenden Prozesse aus rechtsstaatlicher Perspektive höchst problematisch sind. Verhaftungen werden willkürlich vorgenommen. Zum Beispiel wird die Person festgenommen, die als einzige eine andere Nationalität hat, als einzige Englisch spricht oder das Notrufsignal abgesetzt hat. Bei Verhören auf der Polizeistation haben die Beschuldigten in der Regel keinen Zugang zu Rechtsbeistand, auch die Übersetzung ist meist unzureichend. Und alle Menschen, mit denen wir sprachen, berichten von Gewalt – vor, während und nach den Verhören, bis hin zu Folter, etwa durch Schläge oder Essensentzug, durch die Geständnisse erzwungen wurden. Vielen wurden irgendwann Papiere zum Unterschreiben auf Griechisch vorgelegt, die sie nicht verstanden. Das passiert in der Phase der Verhaftung. Danach geht es meistens direkt zum Ermittlungs- und Untersuchungsrichter. In den von uns untersuchten Fällen kamen 84 Prozent aller verhafteten Menschen dann direkt in Untersuchungshaft.

Dailiani: Wir kennen auch Fälle, in denen überhaupt keine Beweise vorlagen und trotzdem jemand vor Gericht gestellt wurde. Zur Not spielt ein Beamter der griechischen Küstenwache den Zeugen und macht eine Aussage.

Winkler: Jeder fünfte Mensch, der in Griechenland in einem Gefängnis sitzt, tut dies wegen angeblichen Menschenschmuggels. Das sind derzeit über 2.000 Menschen. Unseren Recherchen zufolge sind es vorwiegend Drittstaatsangehörige – also Menschen aus Ländern, aus denen sie zuvor geflohen sind.

Was meint ihr, wenn ihr von abgesenkten Rechtsstandards sprecht?

Dailiani: Die Gerichtsverfahren sind sehr problematisch. In den untersuchten Fällen dauerten sie im Schnitt gerade einmal 37 Minuten. Oft gibt es keine Zeit, um die Verteidigung vorzubereiten, und es fehlt ein juristischer Beistand bzw. dieser wird den Angeklagten erst zu Beginn des Prozesses zur Seite gestellt. Die Beschuldigten wurden im Schnitt zu 46 Jahren Haft sowie einer Geldstrafe von 330.000 Euro verurteilt. Das ist immens und Teil der Abschreckungspolitik. Sie geht Hand in Hand mit illegalen Pushbacks. Immer wenn wir einen Anstieg der Pushbacks registrieren, werden zugleich mehr Menschen, die es bis nach Griechenland geschafft haben, als Schlepper kriminalisiert.

Wie sieht es mit der Möglichkeit einer Berufung aus?

Dailiani: Es gibt natürlich immer die zweite gerichtliche Instanz. Hier versuchen wir, all diese „Fehler“ zu berichtigen, und tatsächlich haben wir es schon geschafft, dass Menschen freigesprochen wurden. Wir hatten Zeit zur Vorbereitung und konnten die Akten einsehen. Aber in der Zwischenzeit sitzen die Menschen über Monate und Jahre im Gefängnis. Und oft klappt es auch nicht, das erstinstanzliche Urteil zu ändern.

Winkler: Wir haben den Eindruck, dass ein Gefühl der Straffreiheit aufseiten der Behörden und Sicherheitskräfte herrscht. Man glaubt, alles tun und lassen zu können, weil Rechtsbrüche keinerlei Konsequenzen haben. Das ist schockierend und beunruhigend. Aufmerksamkeit für diese Zustände soll die Kampagne „Free Homayoun!“ schaffen.

Worum geht es in diesem Fall?

Winkler: Homayoun Sabetara ist ein älterer Mann, der aus dem Iran fliehen musste. Sein Ziel war Berlin, wo seine schon zuvor aus politischen Gründen geflohenen Töchter leben. Im August 2021 brachte ein Schmuggler ihn und sieben weitere Fliehende mit einem Auto an die griechisch-türkische Grenze am Grenzfluss Evros. Dort ist der Schmuggler verschwunden. Also musste einer der Fliehenden das Fahrzeug fahren, anderenfalls hätten sie ohne Verpflegung im Wald festgesessen. Das übernahm Homayoun. Als er und die anderen von griechischen Sicherheitskräften aufgegriffen wurde, wurde er wegen Beihilfe zur unerlaubten Einreise angeklagt. Er kam auf die Polizeistation, wurde verhört und von einem Haftrichter in Untersuchungshaft genommen. Über eine längere Zeit konnte er niemanden kontaktieren, seine Töchter dachten, ihr Vater wäre bei der Flucht gestorben.

Letztlich saß Homayoun mehr als ein Jahr in Untersuchungshaft. Sein erstinstanzliches Verfahren wurde dreimal verschoben, dreimal sind seine Töchter vergeblich aus Deutschland angereist. In diesem Fall gibt es zum Glück Familienmitglieder, die für ihn aussagen können. Homayoun hatte auch einen guten Anwalt. Dennoch wurde er im September 2022 zu 18 Jahren Haft verurteilt. Zwar hat sein Anwalt Berufung eingelegt, aber die hat in Griechenland keine haftaufschiebende Wirkung. Homayoun sitzt also immer noch im Gefängnis und sein Berufungsverfahren findet erst im April 2024 statt. Deswegen haben sich viele Organisationen zu der Kampagne zusammengetan.

Die Ergebnisse der Studie sind so empörend, dass sich die Frage aufdrängt: Was muss passieren, um die Situation zu verändern?

Winkler: Die EU-Kommission hat Zahlen veröffentlicht, die zeigen, dass rund 90 Prozent der Menschen, die in der EU ankommen, die ganze oder einen Teil der Reise mit der Hilfe von Schmugglern zurücklegen müssen. Wer Schmuggel effektiv bekämpfen und verhindern will, muss also die Notwendigkeit dafür beenden. Es reicht aber nicht, unseren Kampf auf rechtlicher Ebene zu führen. Unser Appell ist vielmehr: Wir müssen uns gesamtgesellschaftlich für legale Einreisewege einsetzen. Dann muss niemand gegen seinen Willen ein Boot steuern, viel Geld zahlen und all die Risiken auf sich nehmen.

Der EU geht es keinesfalls um das Wohlergehen der Menschen. Im Gegenteil, es sind oftmals Akteure wie libysche Milizen und Warlords, die von der EU viel Geld dafür bekommen, Boote mit Geflüchteten zu stoppen. Gleichzeitig sind es oftmals dieselben, die diese Boote überhaupt erst zur Verfügung stellen. Sie kassieren also doppelt ab. Das gesamte Narrativ des „Kampfes gegen den Schmuggel“ muss hinterfragt werden, und es braucht viel mehr Bewusstsein für das, was an den EU-Außengrenzen passiert.

Das Gespräch führten Kerem Schamberger und Caspar Ermert.

Die Studie „Ein rechtsfreier Raum“ steht auf der Website von borderline-europe zum Download bereit. Sie ist außerdem Thema der neuen Folge des medico-Podcasts Global Trouble.

Seit 2016 bietet das Legal Centre Lesvos Geflüchteten, die über den Seeweg aus der Türkei nach Lesbos kommen, kostenlose und individuelle Rechtsberatung an und geht gegen ihre Kriminalisierung vor. Diese Arbeit wird durch medico international unterstützt.

Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 3/2023. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!

Veröffentlicht am 18. September 2023

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