Guatemala

Aufstand der „Bohnenfresser“

Die Demonstrationen gegen Präsident Giammattei und das zutiefst korrupte Parlament reißen nicht ab. Längst geht es um grundsätzliche Reformen.

Von Knut Henkel

Straßenblockaden in den ländlichen Regionen und Demonstrationen in den Städten Guatemalas sind auch für diese Woche angekündigt, die Proteste in Guatemala gehen in die dritte Woche. Vor allem in den sozialen Netzwerken werden sie immer wieder als "Revolution der Bohnenfresser“ bezeichnet. Verantwortlich für die Wortschöpfung ist der Abgeordnete Rubén Barrios von der konservativen Partei „Valor“. Am 25. November forderte er die Abgeordneten auf, sich den „Bohnenfressern nicht zu beugen“ und, wie von den Demonstranten gefordert, den Haushalt zurücknehmen. Das ist zwar trotz der Rede von Barrios längst passiert, doch dieser Schritt reicht der empörten Zivilgesellschaft längst nicht mehr: Die Menschen marschieren, blockieren und skandieren, um Präsident Alejandro Giammattei und die korrupten Abgeordneten loszuwerden. Und in den sozialen Medien machten sich viele die Bezeichnung "Bohnenfresser" stolz zu eigen.

Auslöser für die Proteste ist der am 18. November in einer nächtlichen Sitzung durch das Parlament gepeitschte Rekordhaushalt von umgerechnet 10,6 Milliarden Euro. Öffentliche Debatte – Fehlanzeige. Kein Zufall, denn der Haushalt sah nicht nur eine enorme Neuverschuldung vor, sondern auch Kürzungen bei der Bildung sowie im Sozialbereich. Geld für die verheerenden Folgen der beiden Hurrikane „Eta“ und „Iota“ wurde kaum bereitgestellt. „Das ist genauso ein Kritikpunkt wie die Unterfinanzierung der Programme gegen Unterernährung. Das wird Menschenleben kosten“, glaubt medico-Partner Michael Mörth, Berater einer Menschenrechtskanzlei in Guatemala-Stadt. Aber es sind nicht allein Menschenrechtsorganisationen, die den Haushalt zerpflücken, sondern sogar der Unternehmerverband CACIF. Der stößt sich daran, dass teure Infrastrukturprogramme wie der Autobahnbau an die Küste nicht im Etat des Bauministeriums, sondern separat aufgeführt werden. „Da soll sich systematisch bereichert werden. So wird der Korruption Tür und Tor geöffnet, denn jeder Abgeordnete hält für seine Zustimmung die Hand auf“, kritisiert Mörth.

Das sehen viele Guatemaltek*innen genauso, wie die massiven Proteste zeigen, die seit dem 21. November nicht abreißen. Parolen wie „Raus mit den Korrupten“ untermauern das und seit Wochen sind die Zustimmungswerte für Präsident Alejandro Giammattei auf Talfahrt. Der konservative Arzt im Präsidentenpalast fährt seit seiner Vereidigung im Januar 2020 einen neoliberalen Kurs und seit April häufen sich die Schlagzeilen über Korruption in seiner Regierung. „Giammattei hat vom ersten Tag an Korruption ermöglicht. Allein 140 Millionen Quetzales (umgerechnet rund 15 Millionen Euro) verschwanden im Ministerium für Infrastruktur, die Bevölkerung ist empört und gegen die Proteste hat er anders als so mancher Vorgänger zur Repression gegriffen“, so Mörth.

Zwei junge Männer verloren durch in Kopfhöhe abgeschossene Tränengasgranaten ein Auge, mehr als 40 Verletzte und Dutzende willkürliche Festnahmen lautete die Bilanz vom 21. November, kritisiert Guatemalas Ombudsmann für Menschenrechte Jordán Rodas. Exzessive Polizeigewalt moniert er genauso wie die Untätigkeit der Ordnungskräfte vor und während des Brands im Parlament am 21. November. „Eine Woche später ging ein Bus auf dem Platz der Verfassung in Flammen auf und wieder unternahm die Polizei nichts. Das deutet auf bezahlte Provokateure hin“, meint Rodas. Ziel könnte es gewesen sein, den Protest gegen die omnipräsente Korruption und die Regierung zu diskreditieren. In Guatemala dürfte das weitgehend gescheitert sein, im Ausland könnte es funktionieren. Fakt ist jedoch, dass die Proteste weitergehen und dass sie landesweit stattfinden, nicht nur in den Städten, sondern auch auf dem Land – mit massiver Beteiligung der indigenen Bevölkerung.

Referendum als Ausweg?

Dabei wird der Ruf nach einer verfassungsgebenden Versammlung lauter, die strukturelle Reformen einleiten könnte. Ein Vorschlag, der von Menschenrechtsaktivistinnen wie Claudia Samayoa begrüßt und von der Asamblea Social Popular, einer mehr als 100 Organisationen repräsentierenden Dachorganisation,  auf die Straßen getragen wird. „Dieser konkrete Vorschlag ist für mich genauso ein Fortschritt wie die Tatsache, dass die Proteste nicht von einer oder mehreren Organisationen koordiniert sind. Die Leute gehen auf die Straße, weil sie die Nase voll haben und es sind sehr viele junge Gesichter zu sehen“, so die Direktorin der Menschenrechtsorganisation Udefegua.

Längst ist der Präsident in der Defensive. Schon kurz vor der Demo vom 21. November hatte ihn sein Vizepräsident, Guillermo Castillo, zum gemeinsamen Rücktritt aufgefordert – wegen der intransparenten Verabschiedung des Haushalts. Das, so kritisiert Jordán Rodas, entsprach nicht den demokratischen Spielregeln und er begrüßt die Haltung des Vizepräsidenten. Doch die hat ihren Preis. Castillo wurde am Mittwoch (9. Dezember) nicht wie angekündigt für den Vorsitz des „Wiederaufbau-Kabinetts“ berufen, das sich um Nothilfe und Reparaturmaßnahmen in den von den beiden Hurrikans Eta und Iota betroffenen Regionen kümmern soll. Wird der unbequeme Vizepräsident nun vom Klüngel um Giammattei kaltgestellt?

Ombudsmann Rodas steht dem Vorschlag einer Novellierung der Verfassung positiv gegenüber. Aber ist sie der Kern des Problems? „Unsere Verfassung ist ohne Zweifel veraltet. Doch die gesellschaftliche Ungleichheit, die Diskriminierung von Frauen und Minderheiten sowie die Korruption sind die drängendsten Probleme aus meiner Sicht und für deren Bewältigung brauchen wir vor allem politische Reformen“, so der Jurist. Dafür fehlt es jedoch am politischen Willen innerhalb von Regierung und Parlament.

Stattdessen ging es darum, die Justiz unter Kontrolle zu bekommen, willfährige Richter in Schlüsselpositionen wie das Verfassungsgericht oder den Obersten Gerichtshof zu installieren. Während das Verfassungsgericht sein Unabhängigkeit immer wieder unter Beweis gestellt hat, ist das Oberste Gericht bereits vom Pakt der Korrupten übernommen, meint Michael Mörth. „Unabhängige Richter stehen in Guatemala extrem unter Druck und die Waage droht sich in die falsche Richtung zu senken.“ Auch eine Folge des Abzugs der CICIG, der UN-Kommission gegen die Straflosigkeit, die im September 2019 das Land verlassen musste, weil der damalige Präsident Jimmy Morales ihr Mandat nicht verlängert hatte. Aus eigennützigen Motiven, denn die CICIG-Experten hatte auch gegen ihn, seine Familie und enge Vertraute ermittelt – wegen Korruption. Eine Konstante in Guatemala. Gegen die Kultur der Selbstbedienung und Vetternwirtschaft gehen die Menschen nun wieder auf die Straße. Doch ob die Zivilgesellschaft stark genug ist, um das korrupte politische Establishment ins Wanken zu bringen steht derzeit noch in den Sternen. „Die Menschen haben schließlich auch Giammattei und die Abgeordneten gewählt“, gibt Jordán Rodas zu bedenken. Er hofft auf Druck aus den USA, wenn der neue Präsident Joe Biden erst einmal vereidigt ist. Das könnte der „Revolution der Bohnenfresser“ zusätzlichen Drive geben.

Veröffentlicht am 10. Dezember 2020

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