Von Griechenland bis zur Entwicklungspolitik

Verblendung

29.09.2015   Lesezeit: 7 min

Verblendung, das lehren uns diese Tage, hat viele Seiten. Wie Ausbeutung und Unterwerfung als Akt der Solidarität inszeniert werden.

Verblendung, das lehren uns die Ereignisse dieser Tage, hat viele Seiten. Aber nicht eine davon könnte Positives für sich in Anspruch nehmen. Ob als Irreführung, als Engstirnigkeit oder als Ressentiment, immer verweist Verblendung auf einen Zwangszusammenhang, dem nicht Rationalität, sondern Wahn anhaftet. Deutlich wird das in fremdenfeindlichen Haltungen, in der Art, wie deutsche Politiker und Medien mit der Krise in Griechenland umgehen, aber auch in den Reaktionen auf die katastrophale Tendenz, die in der Welt herrscht. Verblendung ist der Grund, warum Lehrmeinungen und Vorurteile überdauern, die einer ernsthaften Überprüfung nie standhalten würden. Verblendung sorgt dafür, dass Strategien, die das globale Krisengeschehen antreiben, zugleich auch als Rettungsanker gesehen werden. Unter solchen Umständen dürfen Alternativen, so begründet sie auch sein mögen, nicht zugelassen werden. Sie würden das Dogma, dass es zum herrschenden Zerstörungsprozess keine Alternative gebe, als das entlarven, was es ist: ein Mythos.

Verblendung wird heute nicht zuletzt in der Umdeutung ehemals positiv konnotierter Begriffe deutlich. Reformen beispielsweise verweisen längst nicht mehr auf gesellschaftliche Verbesserungen, sondern bedeuten in der Regel Sozialabbau. Und hinter Solidarität steckt häufig genug der Zwang zur Unterwerfung. Wie weit diese Irreführung inzwischen geht, zeigt sich in den Debatten im Bundestag, in den Medien und am Stammtisch. Ungebrochen ist von „Hilfspaketen“ für Griechenland die Rede, obwohl längst feststeht, dass sie die dortige Krise nicht lösen, sondern nur verfestigen werden. Schon die beiden vorangegangenen „Hilfspakete“ haben die griechische Wirtschaftsleistung um ein Viertel sinken lassen. Mit dem dritten, da sind sich namhafte Ökonomen einig, droht jetzt der vollständige Absturz. Und wenn Griechenland auf Druck Deutschlands nun auch noch das profitable öffentliche Eigentum privatisieren muss, dann sollte statt von „Hilfe“ von Beutemachen die Rede sein. Mit von der Partie ist Fraport, der Betreiber des Frankfurter Flughafens, der sich von den 44 griechischen Regionalflughäfen die 14 lukrativsten herauspicken möchte. Dass dann die anderen 30 umso mehr den griechischen Haushalt belasten werden, ist den „Rettern“ ebenso egal, wie der überaus anrüchige Umstand, dass so griechisches Staatseigentum in deutsches öffentliches Eigentum überführt würde, denn Mehrheitseigentümer von Fraport sind das Land Hessen und die Stadt Frankfurt.

Der Preis, den die Griechen für diese „Rettung“ zu zahlen haben, ist hoch; er liegt auch im Verlust der Souveränität. Nicht der „demos“, das griechische Staatsvolk entscheidet künftig über die Geschicke des Landes, sondern von außen diktierte technokratische Vorgaben. Im Zeichen von „Solidarität“ verwandelt sich Griechenland zu einer Region unter Vormundschaft.

„Hilfe“ zur Selbsthilfe

Dass Hilfe bestehende Abhängigkeiten und Not stabilisieren kann, ist seit langem bekannt. Und es ist auch kein Geheimnis, dass sich aus Abhängigkeiten und Not weiterer Profit schlagen lässt. Das zeigt sich nicht nur an Griechenland. Der systematische Transfer von Ressourcen aus den Ländern des Südens nach Norden, der mit den kolonialen Raubzügen begann, hält bis heute an. Etwa 140 Mrd. Dollar gehen alljährlich dem Süden durch Steuergeschenke an internationale Investoren verloren; 51 Mrd. Dollar verschwinden in Steueroasen; ca. 500 Mrd. Dollar transferieren multinationale Unternehmen aus Produktionsstätten im Süden an ihre Aktionäre im Norden; und fast 1 Billion Dollar gehen in den Schuldendienst bzw. werden in Staatsanleihen im Norden angelegt. All das zusammen übersteigt die Geldflüsse von Nord nach Süd. Die Liberalisierung der globalen Waren- und Finanzströme hat den Norden zum Netto-Empfänger gemacht. Und darin liegt auch der Grund, warum Menschen auf der Suche nach Lebenschancen heute ihre Heimatländer verlassen müssen.

Angesichts solcher Verhältnisse möchte man Bundesentwicklungshilfeminister Gerd Müller nur allzu gerne zustimmen. Auf der „UN-Konferenz zur Finanzierung von Entwicklung“, die im Juli 2015 in Addis Abeba abgehalten wurde, mahnte er eine gerechtere Verteilung der weltweiten Ressourcen an, verlangte internationale Sozial- und Umweltstandards und empfahl gar einen „Weltzukunftsvertrag“. Umverteilung und Regulation wären in der Tat nötig. Aber gerade die Regierung, der Müller angehört, setzt auf das Gegenteil: auf Spardiktate, Privatisierung und eine voranschreitende Zerstörung der natürlichen und sozialen Lebensbedingungen. Eine Studie des „Institut für Welternährung“ hat kürzlich den Nachweis geführt, wie die aktuelle Entwicklungspolitik der Bundesregierung die Flüchtlingsbewegungen aus Afrika massiv verstärkt. Im Rahmen der „New Alliance für Food Security and Nutrition“, die auf eine Umstrukturierung der afrikanischen Landwirtschaft nach europäischem Vorbild setze, würden in den kommenden Jahren mehr als 100 Millionen Kleinbauern ihrer Existenz beraubt. Die Bundesregierung segle „Unter falscher Flagge“, so der Titel der Studie.

Flickschusterei

Wer einen neuen „Weltzukunftsvertrag“ wirklich will, müsste sich zunächst von jenem real existierenden „globalen Vertrag“ distanzieren, der einer solidarischen und verantwortungsbewussten Welt entgegensteht: die Vorherrschaft einer Ökonomie, die nicht an den Bedürfnissen der Menschen orientiert ist, sondern an den Renditeerwartungen der Kapitaleigner. Und die dominieren leider auch die nachhaltigen Entwicklungsziele, die gerade von den Staats- und Regierungschefs in New York verabschiedet wurden. Tatsächlich lassen sich die 17 Ziele und 169 Unterziele auch mit viel Zustimmung lesen. Endlich eine universelle Strategie, die alle Länder gleichermaßen auffordert, die Armut zu bekämpfen und den Planeten zu retten. Tatkräftig hatten zivilgesellschaftliche Akteure an der Erarbeitung der Agenda mitgewirkt. Vielen gelang es, ihr jeweiliges Thema unterzubringen. Kaum jemand aber hat sich die Mühe gemacht, die vielen Ziele auf Konsistenz zu prüfen und das „Kleingedruckte“ zu lesen, das in den „means of implementation“ aufgelistet wird. Nicht über eine gerechte Verteilung von Ressourcen sollen die Ziele verwirklicht werden, sondern über Wachstum. Billiarden Dollar werden gebraucht werden, für die Länder primär selbst aufkommen sollen. Verpflichtende Regulierungen, etwa zum Schutz der Biodiversität, sind in letzter Minute am Veto mächtiger Industriestaaten gescheitert. Eklatant aber ist vor allem der Rückschritt in der Frage des Umgangs mit den Schulden. Hieß es in früheren globalen Vereinbarungen noch, dass beide Seiten, die Schuldner wie die Gläubiger Verantwortung tragen, sind es nun in erster Linie die Schuldner.

Das fundamentale Problem der neuen Entwicklungsagenda ist ihre Widersprüchlichkeit. Wie sollen Klima und Umwelt geschützt werden, wenn die Mittel, die für solche Maßnahmen notwendig sind, über das Wachstum einer zerstörerischen Produktionsweise generiert werden? Wie kann die Armut innerhalb eines Systems bekämpft werden, das Armut systematisch produziert? Das herrschende Weltwirtschaftssystem aber lässt sich nicht transformieren, ohne es zu verändern. Und so droht auch die neue Entwicklungsagenda als Blendwerk zu enden, als Flickschusterei. Wie ernst es der staatlichen deutschen Entwicklungszusammenarbeit mit der Rettung des Planeten wirklich ist, macht ein Strategiepapier der GIZ deutlich. „Die Lieferfähigkeit des Unternehmens im Wachstumsmarkt fragile und Post-Konflikt-Staaten ist sichergestellt/ erhöht.“ – Bürgerkriege und failed states als Wachstumsmarkt? Für die Lieferung von Hilfsgütern? Im Klartext heißt das: Wenn es kracht, ist es gut für das Geschäft.

Aufklärung

Den Verblendungszusammenhang aufzubrechen, gelänge in der heutigen Welt vielleicht nur noch einer unabhängigen Kunst, meinte Theodor W. Adorno. Tatsächlich sind radikale Eingriffe notwendig, um aus dem Zwangszusammenhang der Verblendung herauszufinden. Eingriffe, die einer neuen, einer „nicht imperialen Lebensweise“ den Weg öffnen und von jener „Lebenskunst“ beseelt sind, die die Situationistische Internationale gegen das herrschende Spektakel forderte. Und so ist es gut, dass sich allerorten Menschen nicht die Kraft zur Reflexion nehmen lassen und mit Mut und Empathie aufbegehren. Das gegen eine Übermacht von konservativen Medien zustande gekommene „Nein“ der Griechen, die nicht gegen Europa, sondern für ein anderes Europa gestimmt haben, gehört dazu – genau so wie die vielen Initiativen, die sich hierzulande schützend vor Flüchtlinge stellen, die Ortsvereine, die gegen TTIP mobilisieren, die Wissenschaftler, die nicht auf den Schein von „Exzellenz“ schielen, sondern darauf bestehen, den realen Verhältnissen nachzuspüren. Es sind diese bewussten Brüche mit der herrschenden Verblendung, die uns helfen werden, Reform und Solidarität wieder in ihrer ursprünglichen Bedeutung erfahren zu können.

Thomas Gebauer

Thomas Gebauer war von 1996 bis 2018 Geschäftsführer von medico international und bis Ende 2020 Sprecher der Stiftung medico. Als Zivildienstleistender ist er Ende der 1970er Jahre zu uns gekommen. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten zählen Fragen der internationalen Friedens- und Sicherheitspolitik und die sozialen Bedingungen globaler Gesundheit. Der Psychologe erhielt 2014 die Goethe-Plakette, mit der die Stadt Frankfurt Persönlichkeiten des kulturellen Lebens würdigt.


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