Streik an der Berliner Charité

"Mehr von uns ist besser für Alle"

24.06.2015   Lesezeit: 2 min

Nach Lokführern, ErzieherInnen und Postangestellten nun auch das Krankenpflegepersonal an der Berliner Charité: Soviel Streikbereitschaft war lange nicht mehr in Deutschland.

Nach Lokführern, ErzieherInnen und Postangestellten nun auch das Krankenpflegepersonal an der Berliner Charité: Soviel Streikbereitschaft war lange nicht mehr in Deutschland. Der Frust über die sich verschärfenden Arbeitsbedingungen, einzeln besetzte Nachtdienste auf Stationen, Ersatz qualifizierter KollegInnen durch rasch angelernte Assistenzen und PraktikantInnen, das Zersplittern von komplexer Sorge um das PatientInnenwohl in getrennte Subtätigkeiten – vom Blutabnehmen zum Essenanreichen, vom Waschen zum Verbände machen – hat nun endlich auch in den langmütigsten und duldsamsten KollegInnen die Bereitschaft zum Widerstand geweckt: seit Montag streiken sie.

Und was tatsächlich einmalig ist: nicht für mehr Geld, sondern für mehr KollegInnen: „Mehr von uns ist besser für Alle“ ist die Parole, die unmittelbar allen einleuchtet, die in der letzten Zeit selbst im Krankenhaus auf Hilfe angewiesen waren.

„Mehr von uns ist besser für Alle“

Dies ist der eigentliche Knackpunkt, der den traditionellen Tarifstreik in Widerspruch bringt mit dem Prinzip der „unsichtbaren Hand des Marktes“. Seit Einführung der Fallpauschalen-Finanzierung wurden nicht nur die privatisierten Krankenhäuser in output-orientierte Fabriken verwandelt. Nur wer bei „optimaler“ Verknappung der eingesetzten (Personal)Ressourcen möglichst viel Durchlauf hat, möglichst aufwendige Prozeduren und Operationen in möglichst kurzer Zeit schafft, kann in der Konkurrenz bestehen.

Statt sinnvoller Bedarfsplanung in öffentlicher Verantwortung soll es der Markt richten, das sind die Konzepte, die seit Jahrzehnten den Gesundheitsministerien und -planern in den Ländern des globalen Südens anempfohlen oder aufoktroyiert werden, je nachdem, wie abhängig sie von den Kreditgebern sind.

Zweiklassensystem mit Segen der WHO

Dem klassischen Beispiel Chile mit der gezielten Förderung privater Gesundheits- und Rentenversicherungen unter der Pinochet-Diktatur in den 1970er Jahren folgten viele weitere. Längst sind die öffentlichen Gesundheitsdienste nur noch ein Schatten ihrer selbst, finanziell und technisch ausgeblutet, verlassen von den engagierten MitarbeiterInnen, die im privaten Sektor für die kleinen Ober- und Mittelschichten noch ihr Auskommen finden oder schon zu Beginn ihrer Ausbildung auf einen Job in Übersee setzen.

Der Skandal der „abwesenden Fachkräfte“, die in weit größerer Zahl in den reichen Ländern die Kranken versorgen als in ihren Heimatländern wird bei der Erdbeben-Katastrophe in Haiti oder jüngst in Westafrika bei der Ebola-Epidemie kurzfristig beklagt, die strukturellen Ursachen dahinter aber unangetastet.

 Der „Public-Private Mix“ in den Gesundheitssystemen der Welt, der längst auch den Segen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat, verschärft dieses Zweiklassensystem immer weiter, trotz aller wohlklingender Rhetorik, die jetzt bei der Neuformulierung der „Post 2015-Nachhaltigkeitsziele“ als Gesundheitsziel „Ensure Healthy Lifes and promote wellbeing for all at all ages“ auf ihre Fahnen schreibt.

Perspektiven

Genau deshalb ist der Streik der KollegInnen an der Charité auch kein isoliertes Ereignis, sondern Teil einer grundsätzlichen Auseinandersetzung um die Perspektive solidarischer Gesundheitssysteme, die für alle Menschen eine Perspektive bieten. Das würde dem neuen globalen Gesundheitsziel eine konkrete Perspektive geben. In diesem Sinne wünsche ich den Streikenden viel Erfolg – nicht nur für sich selbst, denn wie sie selbst sagen: Mehr von uns ist besser für Alle.

Andreas Wulf

Andreas Wulf ist Arzt und seit 1998 bei medico international. Er ist Nothilfe-Referent und arbeitet zu Themen globaler Gesundheit.


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