Brasilien unter Bolsonaro

Auf eine harte Probe gestellt

Brasilien ist von der Pandemie sehr schwer getroffen. Gleichzeitig befindet sich das Land in einer tiefen Krise der Demokratie – mit ungewissem Ausgang.

Von Mario Neumann

Es gibt derzeit wohl wenige Länder, in denen sich die weltweiten Krisen unserer Gegenwart so sehr verdichten wie in Brasilien: Katastrophenberichte über die Corona-Lage in trauriger Permanenz, die Brände im für das Weltklima so wichtigen Amazonas und die rapide Zunahme der Abholzungen des Regenwaldes, die allgemeine soziale Katastrophe im Land und die Kämpfe um Ressourcen und Territorien in einer der bedeutendsten Agrarindustrien der Welt: Zu einer besonders explosiven Mischung wird all das, weil das Land, politisches und wirtschaftliches Schwergewicht der Region, von einem rechtsextremen Präsidenten regiert wird.

Eigentlich verfügt Brasilien mit dem Sistema Único de Saúde (SUS) auf dem Papier über ein öffentlich finanziertes und zur Pandemiebekämpfung geeignetes Gesundheitssystem. Doch die Realität sieht anders aus, Corona hat das Land weiterhin fest im Griff. In nackten Zahlen: Knapp 14 Millionen bestätigte Fälle mit rund 373.000 Toten zählen die Behörden im April 2021 und ein Ende ist nicht in Sicht. Die Todeszahlen unter Kindern sind hoch. Monatelange Schulschließungen, ökonomische Einbrüche, wachsende soziale Nöte: An all dem hat Präsident Bolsonaro mit seiner fortgesetzten Leugnung und Verharmlosung des Virus wohl erheblichen Anteil, nicht nur wegen ausgebliebener Maßnahmen, sondern auch, weil er ein Klima der sozialdarwinistischen Sorglosigkeit verbreitet hat: Über den medizinischen oder ökonomischen Tod entscheidet das Recht des Stärkeren. Und tatsächlich liegt die Corona-Todesrate in den Armenvierteln der großen Städte Rio de Janeiro und São Paulo zehnmal höher als in den Reichenvierteln. Aktuell scheint Bolsonaro angezählt, auch Teile der Wirtschaft beginnen, an der Kompetenz des Präsidenten zu zweifeln. Der Popularitätsverlust könnte jedoch zu einer weiteren Radikalisierung des Präsidenten und seiner Agenda führen. Denn noch immer verfügt er über eine stabile Anhängerschaft, Verbündete hat er nicht bloß im Polizeiapparat, sondern auch im Milieu der bewaffneten Milizen, die mittlerweile nicht nur in Rio Territorien kontrollieren. Wenn im Oktober 2022 die Präsidentschaftswahlen stattfinden, ist es also eine ernstzunehmende Befürchtung, dass die politische Zukunft des Landes nicht nur an der Urne entschieden wird.

Die nächsten zwei Jahre werden das Land auf eine harte Probe stellen. Besonders schwierig an dieser Konstellation ist, dass die eigentlich bitter nötigen sozialen Mobilsierungen den antidemokratischen Bruch ungewollt provozieren könnten. In Stellung bringt sich der ehemalige Präsident Lula, dessen politisch motivierte Gefängnisstrafe gerade aufgehoben wurde und der nun wieder im Vollbesitz seiner politischen Rechte und Möglichkeiten ist. Alles deutet daher darauf hin, dass er für die Arbeiterpartei (PT) gegen Bolsonaro antreten wird. Einstmals für viele Sinnbild des Scheiterns der progressiven Regierungen Lateinamerikas, kehrt er nun als vielleicht letzter Hoffnungsträger zurück. Eine schwierige Lage jedenfalls für medicos Partner:innen, die in ihrer alltäglichen Arbeit in den Städten und im Amazonas Teil der demokratischen und sozialen Gegenbewegung gegen den fortschreitenden Autoritarismus sind.

Veröffentlicht am 12. Mai 2021

Mario Neumann

Mario Neumann ist verantwortlicher Redakteur des medico-Rundschreibens und zuständig für die Öffentlichkeitsarbeit zu Südamerika und dem Libanon. Seit seiner Jugend ist er politischer Aktivist, hat lange für das Institut Solidarische Moderne (ISM) gearbeitet.

Twitter: @neumann_aktuell


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