Syrien

Worte reichen nicht

Eine der größten humanitären Katastrophen des 21. Jahrhunderts findet gerade in Idlib statt: ein Krieg gegen Zivilist*innen

Von Diana Hodali

Wer sich den Film „Für Sama“ im Kino ansieht, kann erahnen, was sich gerade in Idlib abspielt. In dem Oscar-nominierten Dokumentarfilm wird nicht nur vom Fall Ost-Aleppos, der systematischen Auslöschung zivilen Lebens durch die Bombardierung von Krankenhäusern und Schulen durch Russland und das Assad-Regime erzählt, sondern auch von den Momenten des Glücks, die in der Freiheit liegen. Eine Freiheit, die junge Syrer*innen unter Lebensgefahr errungen haben: Ein Ereignis, das sich nie mehr vergisst. Auch der nachfolgende Artikel von Diana Hodali, den sie für die Deutsche Welle schrieb, macht am Beispiel der medico-Partnerin Huda Khayti, die sich seit Beginn der syrischen Revolution für Frauenrechte einsetzt, deutlich, dass diese Erfahrung fortwirkt.

Immer wieder muss Huda Khayti das Interview unterbrechen. So geht das über Tage. Immer wieder fallen die Bomben des Regimes, während sie am Telefon versucht, die Situation in Idlib zu beschreiben. „Ich melde mich“, sagt die Leiterin des Frauenzentrums in Idlib und legt auf. Binnen kürzester Zeit sucht sie sich einen neuen sicheren Ort. Einen, von dem sie zumindest glaubt, er sei sicherer als der vorherige. Mehrmals täglich. Ein paar Stunden später kommt ein Lebenszeichen. Aufatmen. Sie ist unversehrt.

„So ist das Leben in Idlib, in der Stadt und in der gesamten Region. Seit Jahren. Hier gibt es keine Sicherheit, für niemanden. Aber ich habe ein gutes Netzwerk“, sagt die 40-jährige Syrerin, die seit 2018 in der Stadt Idlib lebt. „Wir haben so eine Art Frühwarnsystem für die Bomben – wir können sie förmlich riechen und mittlerweile einschätzen, wo sie runtergehen.“ Viele Bewohner haben so etwas wie einen siebten Sinn dafür entwickelt.

900.000 Vertriebene aus Idlib

Im Frühjahr 2018 kam Huda Khayti nach Idlib. Damals wurden demokratische Oppositionelle und Rebellengruppen gleichermaßen in die Provinz gebracht, die von der islamistischen Gruppe Hajat Tahrir al-Scham (HTS) kontrolliert wird – weit weg vom Assad-Regime. „Ich war noch nie zuvor in Idlib gewesen. Ich wusste nicht, was mich hier erwartet“, erzählt sie. Aber sie wusste, dass Assad mit Unterstützung Russlands und des Irans früher oder später versuchen würde, die letzte Rebellenhochburg Syriens einzunehmen. Die Türkei unterstützt die Gegner Assads. 900.000 Menschen sind seit Dezember aus der Provinz Idlib vor dem Bombenhagel der syrischen und russischen Flugzeuge geflohen, die meisten von ihnen Frauen und Kinder. Sie verlassen ihre Häuser und ihre Dörfer über die Straßen Richtung Norden zur türkischen Grenze. Autos stehen dicht an dicht. Sie alle sind Vertriebene im eigenen Land, manche bereits zum zweiten, dritten oder vierten Mal auf der Flucht. Der Kampf um Idlib, sie ist wohl die letzte grausame Schlacht im Syrien-Krieg.

Wie grausam der Krieg ist, hat die Frauenrechtsaktivistin schon damals in Duma und Ost-Ghuta bei Damaskus zu spüren bekommen. „Ich komme aus Duma und habe einen Gift-    gasangriff des Regimes überlebt. Ich weiß, wie es ist, unter Bombenhagel zu leben oder eingepfercht in Ost-Ghuta“, sagt sie. „Aber jede Bombe, die in Idlib über uns abgeworfen wird, bestärkt mich darin, dass es richtig gewesen ist, hier zu bleiben und für Syrien und das Frauenzentrum zu kämpfen.“

Auf der schwarzen Liste

Aber von vorne. Huda Khayti verbringt ihr ganzes Leben in Duma. Sie wächst dort auf, studiert in Damaskus französische Literatur. Ihre persönliche Revolution habe schon vor dem Krieg 2011 begonnen, erzählt sie. Ihr sei schon lange bewusst gewesen, wie sehr das Regime von Baschar al-Assad die Frauenrechte einschränkt und die eigene Bevölkerung drangsaliert. Sie baut drei Frauenzentren in Ost-Ghuta auf, gibt dort gemeinsam mit anderen Frauen Workshops zum Thema geschlechtsspezifische Gewalt, Erste-Hilfe- und Englischkurse. Auch Frauenrechte werden dort vermittelt. In Ost-Ghuta werden alle Zentren zerbombt. Eine Kollegin und ihr Kind kommen dabei ums Leben. Auch ein Bruder Huda Khaytis stirbt. Sie und ihre Familie sind am Boden zerstört. „Wir standen uns alle ziemlich nah. Haben immer zusammen gegessen, waren sehr eng miteinander“, sagt sie und klingt dabei melancholisch.

Jetzt sind ihre sechs Schwestern, ihr Bruder und ihre Eltern in verschiedenen Ländern – in Kanada und in der Türkei. Nur einige wenige Familienangehörige seien noch in Damaskus. „Ich kann nicht nach Damaskus zurück. Ich bin mir sicher, dass ich auf einer der schwarzen Listen des Regimes stehe“, sagt sie. Denn Huda Khayti stellte sich von Beginn an hinter die Revolution, sie ist gegen Assad, will einen Regimewechsel, ein demokratisches Syrien. Die Revolution hat ihr Verständnis für die Rechte der Bürger und die Autonomie von Frauen nur vertieft. „Ich glaube fest daran, dass es richtig war, aufzustehen und zu protestieren“, sagt sie.

2018 kommt Huda mit vielen anderen aus Ost-Ghuta und Duma nach Idlib. Alleine, denn ihre Eltern und ein Bruder waren bereits in die Türkei geflohen. Immer, wenn sie von ihrer Familie spricht, bricht ihre Stimme. Aber sie bekräftigt: „Ich wollte in Syrien bleiben, ich wollte nach Idlib. Hier befindet sich ein Querschnitt der syrischen Bevölkerung. Vertriebene aus Homs, Aleppo, Ost-Ghuta, aber auch aus Idlib.

Ich bin drei Monate eingetaucht in die Gesellschaft, habe herauszufinden versucht, welche Bedürfnisse die Menschen hier haben. Und es ist mir gelungen, ihr Vertrauen zu gewinnen.“ Sie ist unerschütterlich: Mit der Unterstützung von medico international baut sie das Women Support & Empowerment Center Idlib auf. Sie bietet wieder Kurse an, gemeinsam mit einem Team von Frauen aus der Region. Die Islamisten, sagt sie, ließen sie in Ruhe. Das Haus, so beschreibt es Huda Khayti am Telefon, liege mitten in der Stadt Idlib, in der Nähe des Marktes. Alle könnten den Ort erreichen. Bis zu 25 Frauen am Tag kämen dorthin, manchmal seien es aber auch nur drei – je nachdem, wie stark der Bombenhagel sei.

Für Frauen sei es im Krieg besonders schwierig. Die wirtschaftliche Situation ist miserabel, viele sind traumatisiert, Gewalterfahrungen sind nicht selten. Es mangelt an medizinischer Versorgung, es gibt kaum mehr Schulen, und viele Frauen unterrichten ihre Kinder zu Hause. Englisch, zum Beispiel. Das können die Frauen im Zentrum auch lernen. „Wir können aber nicht planen, wir nehmen jeden Tag, wie er kommt. Egal, ob im Zentrum oder zu Hause. Hier gibt es keinen normalen Alltag, es kann jederzeit wieder losgehen mit den Bombardements.“

Sehnsucht nach den Eltern

Für Huda Khayti geht die Revolution weiter, weil die Stärkung und die Emanzipation von Frauen nicht von dem Ort abhängen, an dem sie lebt. „Ich bin hier, weil ich davon überzeugt bin, dass es richtig ist. Ich will für das Syrien einstehen, das ich mir wünsche“, bekräftigt sie immer wieder. Huda Khayti lebt alleine in Idlib. Sie hat nicht geheiratet, und sie hat auch keine Kinder. „Ich habe nur Verantwortung für mein Leben“, sagt sie, „aber ich vermisse meine Eltern sehr.“ Als sie damals entschied, nach Idlib gebracht zu werden, habe sie ihrem Vater etwas versprechen müssen. „Bitte tue meinem Herzen nicht weh. Ich will nicht, dass mit dir das Gleiche wie mit deinem Bruder passiert“, habe er gesagt – und den toten Bruder gemeint. Daran müsse sie immer wieder denken.

Sie hofft, dass sich Russland und die Türkei vielleicht doch noch einigen können, damit Assad Idlib zumindest vorerst nicht einnimmt. „Sollte es soweit kommen, dass Assad Idlib erobert, muss ich in ein Flüchtlingslager an die Grenze der Türkei fliehen und versuchen, über die Grenze zu kommen“, erklärt sie. Denn eines sei für sie klar: „Ich kann damit leben, dass es Bomben auf uns regnet, aber ich kann nicht damit leben, dass Assad auch hier in Idlib das Sagen haben wird.“
 

In Idlib hätte ein Corona-Ausbruch verheerende Folgen. Durch die Militär-Offensiven des Regimes wurden gezielt dutzende Krankenhäuser zerstört. Millionen Menschen leben in Camps oder unter freiem Himmel. Die medico-Partnerinnen aus dem Frauenzentrum in Idlib-Stadt nehmen es nun selber in die Hand und geben Kurse, in denen sie über Prävention und Symptome des Virus aufklären. Mehr können sie nicht tun.

Spendenstichwort: Globale Gesundheit


Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 1/2020. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!

Veröffentlicht am 30. März 2020

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