„Wir unterrichten eine neue Generation von SchülerInnen"

Syrien: Interview mit Lehrkräften der Freien Schule Erbin

Mit einem Schulprojekt, dass fast 7.000 Schüler abdeckt, versuchen sich die BewohnerInnen von Erbin im Großraum Damaskus seit April 2013 einen Alltag und eine Zukunft für ihre Kinder zu erkämpfen. Ein Interview mit Lehrkräften der medico-Projektpartner von der Freien Schule.

Erbin ist mit etwa 75.000 EinwohnerInnen der viertgrößte Vorort von Damaskus. Die Bevölkerung ist mehrheitlich sunnitisch geprägt, es gibt aber auch eine griechisch-orthodoxe Gemeinde. Erbin ist eine traditionelle Region mit einer Vielzahl von Handwerksbetrieben und lokalen Fabriken für landwirtschaftliche Produkte. Das lokale Basiskomitee von Erbin gründete sich bereits im Sommer 2011 zu Beginn des damals noch friedlichen Aufstands. Später fanden auch hier heftige Kämpfe zwischen der Armee und der oppositionellen „Freien Syrischen Armee“ statt. Später zogen sich die Soldaten zurück. Seit Juli 2012 gilt Erbin als so genannte „befreite Stadt“. Im Gegenzug begann das Regime die Stadt zu belagern, d. h. die Menschen müssen seitdem mehr oder weniger von den verbliebenen Gütern in der Stadt leben. Das lokale Komitee gründete Suppenküchen für Flüchtlinge, eine Feuerwehr, eine Müllabfuhr, eine juristische und eine medizinische Kommission, ein Medienzentrum, aber auch ein besonderes pädagogisches Experiment: Die freie Schule von Erbin.

Hier kämpfen die BewohnerInnen von Erbin mit den Mitteln der Bildung um eine andere Zukunft für ihre Kinder. Die Schulen müssen unter der Erde liegen und haben keine Fenster, damit die Kinder vor den anhaltenden Luftangriffen geschützt sind und nicht von Splittern verletzt werden. Da viele LehrerInnen um ihren Job zu behalten in regimeloyale Gegenden gezogen sind, gibt es immer mehr Freiwillige, die sich zu Lehrkräften in Qualifizierungskursen umschulen lassen. Früher mussten die Kinder in syrischen Schulen Schuluniformen tragen, jahrelang sogar Militärkleidung. Das war eine der ersten Abschaffungen erzählten die LehrerInnen im Gruppeninterview via Skype mit medico.

medico: Wie geht ihr als LehrerInnen mit der neuen Situation um? Zuvor war das syrische Bildungssystem sehr autoritär und hierarchisch organisiert. Wie organisiert ihr jetzt euren Unterricht?

Im Lehrplan haben wir bisher lediglich die Fächer Geschichte und „nationalistische Erziehung“ geändert. Die Lehrpläne des Staates sind ja per se nicht schlecht gewesen. Aber gerade diese beiden Fächer enthielten einfach Verfälschungen von historischen Fakten. Entweder haben wir diese Teile komplett gestrichen, sie stark abgekürzt oder neue Forschungsergebnisse, die es so vorher nicht gab, eingeführt. Alle anderen Fächer haben wir genauso belassen wie sie waren.

Gibt euch denn die jetzige Situation die Möglichkeit neue Methoden in der Lehre auszuprobieren?

So etwas wie Sportunterricht können wir leider gar nicht durchführen, weil unsere Schulen unter der Erde sind. Deswegen sind sie dafür überhaupt nicht geeignet. Alles hier ist sehr eng. Aber wir haben eine Reihe anderer alternativer Angebote für Kinder, vor allem im Bereich der Handarbeit oder Musik.

In welchem Rahmen sprecht ihr mit den Kindern über das Regime? Besteht die Notwendigkeit den Kindern zu erzählen, was passiert?

Die Kinder erleben Beschuss und Zerstörung als tägliche Realität, deswegen wissen sie zwangsweise, was passiert. Wir als LehrerInnen versuchen wenigstens ein bisschen neutral zu bleiben und den Kindern nur den Lehrplan zu unterrichten - und nicht mehr. Unser Ziel ist es, die Kinder aus der alltäglichen Atmosphäre der Gewalt herauszuholen. Aufgrund der Belagerung, unter der kein Essen in die Stadt gelangt, leiden insbesondere Kinder unter Hunger. Wir müssen die Kinder ablenken. So planen wir eine kleine Ausstellung mit ihren Arbeiten. Die jüngsten Kinder bei uns kommen aus den Geburtsjahrgängen 2004, 2005 und 2006. Sie haben fast zwei Jahre Schule verpasst und deswegen geben wir ihnen Intensivkurse, sodass sie die dritte Klasse bestehen können. Das betrifft etwa 40 SchülerInnen.

Erbin ist vom Regime umzingelt, weil es als oppositionell gilt. Erklärt ihr den Kindern, was Revolution und Opposition heißt?

Vor allem die älteren Kinder haben ein Bewusstsein für die Situation und verstehen, was vor sich geht. Die Familien spielen hier eine große Rolle: wer für das Leiden und die jetzige Situation verantwortlich ist, wird unter allen diskutiert. Das Problem liegt eher bei den jüngeren Kindern. Wir haben teilweise große Schwierigkeiten mit ihnen in dieser extremen Situation umzugehen. Deswegen ist die Rolle der Familien so wichtig.

Wie ist die Zusammensetzung der Schülerschaft und welche Rolle spielt Religion in diesem Zusammenhang?

Die BürgerInnen von Erbin sind sowohl ChristInnen als auch MuslimInnen. Leider gibt es zurzeit keine christlichen Familien mehr in Erbin. Sie sind nach Damaskus und Maloula gegangen, als das Regime begonnen hat, die Gegend hier zu bombardieren. Der Unterricht an der Schule hat mit dem Thema Konfessionalismus nichts zu tun. Daneben gibt es aber auch traditionellen Religionsunterricht an unseren Schulen. Dieser wird von LehrerInnen durchgeführt, die am Institut für islamisches Recht studiert haben. Es sind also keine traditionellen Scheichs, die bei uns unterrichten. Die Kinder in unseren Schulen gehören aufgrund vergangener Fluchtwellen derzeit eigentlich alle dem gleichen Glauben an. Ich erwarte, dass es bald wieder christliche Schüler bei uns gibt, sobald sich die Lage hier beruhigt hat.

Ihr verbringt sehr viel Zeit mit den Kindern in diesen Zeiten des

Mangels. Die Kinder haben oft nichts zu essen, was macht man da als Lehrer oder Lehrerin? Kann die Schule Mittag- und Abendessen anbieten?

Unsere persönlichen Erfahrungen sind schlimm. Unter den Kindern haben wir täglich Fälle von Bewusstlosigkeit und Ohnmacht im Unterricht. Es gibt Kinder, die kommen ohne Frühstück zur Schule. Ihre Familien haben einfach nichts. Im Rahmen unserer Möglichkeiten versuchen wir ihnen Datteln oder andere Kleinigkeiten zu geben. Aber die Schüler weinen auch, vor allem gegen Ende des Unterrichts. Sie leiden unter Mangelernährung. Sie haben Kopfschmerzen. Dann sagen sie uns, dass wir keinen Druck auf sie ausüben sollen und sie doch ablenken sollen. Die Lage ist also tragisch. Wir versuchen mit unserem Unterricht die Kinder auch zu entlasten. Der Schulalltag sollen ihnen helfen für eine kurze Zeit diesem bedrückenden Alltag entfliehen zu können. Es gibt Kinder, die wir nicht in die Schulen aufnehmen konnten. Deren Eltern kommen und flehen uns an, sie bitte trotzdem zu unterrichten, nur damit sie wenigstens ein paar Stunden aus der schrecklichen Atmosphäre ausbrechen können. Wir arbeiten zwar mit der lokalen Nothilfe zusammen, aber mehr als eine oder zwei Datteln am Nachmittag können wir nicht bieten. Es gibt einfach kein Brot, um ihnen Sandwiches zu machen. Es existiert zurzeit lediglich eine Fabrik in der Ghouta-Gegend, die stellt gezuckerte Aprikosen her. Also das ist dann wie eine Art feste Marmelade, die man mit Wasser vermischt. Das ist das einzige, was wir als Nahrungsmittel für Kinder zurzeit haben.

Und wie finden die Kinder selbst den Unterricht in dieser Lage? Können sie sich überhaupt auf das Lernen konzentrieren?

Ich war bereits zu Regime-Zeiten schon Lehrerin gewesen und ich muss feststellen, dass die Bemühungen, das Interesse und die Zuneigung der Kinder zum Unterricht merklich gestiegen sind. Sie haben eine gewisse Entschlossenheit, dass sie trotz allem zur Schule gehen wollen und für sich etwas verwirklichen wollen. Ihre Noten waren im landesweiten Vergleich sehr gut.

Mit der veränderten politischen Situation bei euch, kommen auch Themen auf, über die vorher nicht offen geredet werden konnte. Diskutiert ihr mit den Schülern der Oberschule Themen wie die Bedeutung von Freiheit, Menschenrechte oder was Staatsbürgerschaft bedeutet?

Wir müssen da nicht so viel neu erfinden. Es gibt Forschungen zu diesen Themen, die wir benutzen. Daneben, insbesondere im Arabischunterricht, gibt es aber auch Dichter, die diese Themen behandelt haben. Auch Parallelen aus der syrischen Geschichte geben Aufschluss über diese aktuellen Themen, etwa die Zeit der französischen Besatzung. Wir unterrichten eine neue Generation auf eine neue Art und Weise und versuchen wirklich eine neue Phase syrischer Geschichte zu beginnen. Ich bin begeistert von meinen Schülern trotz Beschuss, Hunger und ohne Strom, trotz des beginnenden Winters, denn sie sind weiterhin optimistisch. Sie haben ein Bewusstsein für die Situation erlangt, sie verstehen, was Freiheit und Revolution heißt, ohne dass wir da als Lehrkräfte eingreifen.

Was ist mit den SchülerInnen, die in diesem Jahr ihren Schulabschluss oder das Abitur erreicht haben, was für Möglichkeiten liegen vor ihnen? Gibt es Ideen für eine alternative Universität?

Wir haben hier zwei Schulcenter, die Unterricht für Schüler der Mittelstufe und Oberstufe anbieten. In meinem Center gab es 40 SchülerInnen der Mittelstufe, 30 von ihnen haben sehr gute Noten erlangt. 10 Schüler haben in der Oberstufe das Abitur erlangt. Gestern haben wir sie für diese tolle Leistung ausgezeichnet. Es gab verschiedene Ideen, was diese AbsolventInnen nun machen können, eingeschränkt dadurch, dass wir von allen Seiten belagert sind. Es gibt keinen einzigen Zugang zu unserer Stadt. Fernstudium wäre deswegen eine Möglichkeit. Dann gibt es noch ein wissenschaftliches Institut in der Nähe, in dem man Naturwissenschaften, aber auch Arabisch und islamisches Recht studieren kann. Da gehen sie nun erst mal hin, bis es andere Chancen gibt.

In welcher Weise profitiert ihr von der Unterstützung vom Ausland?

Diese Unterstützung ist sehr wichtig für uns, gerade weil viele wohlhabende SyrerInnen inzwischen ins Ausland gegangen sind und das Land quasi sich selbst überlassen haben. Die Schülerzahlen wachsen, deswegen sind wir für jede Unterstützung dankbar, ob klein oder groß. Am Ende ist das wichtigste, dass das Schulprojekt weitergeht. Hoffentlich können wir euch bald in unserer Mitte begrüßen.

Das Interview führte Ansar Jasim.

medico unterstützt die Freie Schule Erbin durch ihre Spenden. Wir garantieren ein Mindestgehalt für engagierte LehrerInnen und ermöglichen so den Fortbestand dieses pädagogischen Hoffnungsraumes inmitten eines anhaltenden Bürgerkriegs.

Veröffentlicht am 02. Dezember 2013

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