"Industrial 9/11"

Wir starten von Ground Zero

Mohammed Hanif ist in Karatschi kein Unbekannter. Im Stil eines bekannten Bollywood-Stars gekleidet, ist der junge Tänzer schon im Fernsehen aufgetreten. Seinen Lebensunterhalt aber verdient auch er durch Akkordarbeit in einer der zahllosen Textilfabriken. Hanif war Näher bei Ali Enterprises – bis zu jenem 11.9.2012, an dem in der Fabrik ein Brand ausbrach und 255 Arbeiterinnen und Arbeiter starben. Pakistans „Industrial 9/11“. Zwei Jahre später kann Hanif noch sehr genau erklären, wie das Gebäude aufgebaut und die Produktion organisiert war. Ruhig berichtet er, wie er in der Flucht vor den Flammen und dem tödlichen Rauch einen Außenventilator aus der Wand trat und dadurch eine Öffnung ins Freie schaffen konnte. Zehn Menschen hat er durch das Loch abseilen und retten können, bevor er selbst ohnmächtig wurde und in die Tiefe stürzte. Vielfache Knochenbrüche waren die Folge, manche Nervenbahnen sind dauerhaft beschädigt und die Lunge so angegriffen, dass seine Schilderung der Ereignisses immer wieder durch Hustenanfälle unterbrochen wird.

Hanif ist eines von 50 Ali Enterprises-Opfern, die wir Anfang September im Tagungsraum eines Hotels der pakistanischen Millionen-Metropole Karatschi treffen. Sie gehören der Selbstorganisation der Überlebenden und Hinterbliebenen an, die sich „Baldia Factory Fire Affectees Association“ nennt. Wir – das sind der pakistanische Anwalt Faisal Sidiqqi, zwei Berliner Anwältinnen des European Center for Constitutional und Human Rights (ECCHR) und ich für medico international. Das Treffen dient der Vorbereitung einer Klage gegen den deutschen Discounter KiK, der an diesem verhängnisvollen 11. September in Ali Enterprises Kleidungsstücke fertigen ließ.

Der juristische Weg führt nach Deutschland

Selbst nach Katastrophen wie dieser ist es jedoch schwierig bis unmöglich, die internationalen Auftraggeber juristisch haftbar zu machen. Verschiedene Unternehmen schieben sich gegenseitig die Verantwortung zu, mit der Folge, dass keines belangt wird. Trotz öffentlichen Drucks hat KiK bislang bloß lächerliche Summen an die Überlebenden und Hinterbliebenen gezahlt, auf freiwilliger Basis: gegen einen Anspruch auf substanzielle Entschädigung wehrt sich das Unternehmen nach Kräften. Erst vor sechs Wochen ist in Berlin die vorerst letzte Verhandlungsrunde mit KiK gescheitert, der Anwalt Faisal Sidiqqi kehrte ohne Ergebnis nach Pakistan zurück. Karamat Ali, Geschäftsführer der medico-Partnerorganisation PILER und Verhandlungsführer der Opfer, war gar nicht erst nach Berlin geflogen. Nun soll der Klageweg beschritten werden. In diesem Fall ist das keineswegs aussichtslos, weil KiK der mutmaßlich einzige Auftraggeber von Ali Enterprises war. Deshalb versuchen die Opfer im Schulterschluss mit medico und Partnern aus Deutschland und Pakistan etwas noch nicht Dagewesenes: ein deutsches Unternehmen vor deutschen Gerichten für eine Katastrophe in einer ins Ausland verlagerten Produktion haftbar zu machen. Es könnte ein Präzedenzfall werden.

Wie Mohammad Hanif erzählen auch die anderen Überlebenden und Hinterbliebenen von ihren Schicksalen. Sie rufen die Namen ihrer Mütter, Väter, Geschwister und Kinder in Erinnerung, die diesen Tag nicht überlebt haben, berichten von eigenen Verletzungen, Verstümmelungen und Traumatisierungen. Sie sind froh, dass die Erlebnisse jedes Einzelnen protokolliert werden – obwohl sie wissen, dass aufgrund der Prozessbedingungen nur drei oder vier von ihnen exemplarisch Klage werden einreichen können. Auf Basis ausführlicher Interviews wollen wir herausfinden, wer als Kläger oder Zeuge in Betracht kommt. Allen Anwesenden ist bewusst, dass die Klage sehr lange dauern wird und ihr Ausgang ungewiss ist. Doch niemandem geht es nur um sich. Immer wieder fallen Sätze wie „Ich möchte helfen für Gerechtigkeit zu sorgen.“ Oder: „Für mich wird sich nichts mehr ändern. Aber ich will, dass anderen nicht dasselbe passiert.“ Tatsächlich gelingt es reibungslos, sich auf eine Handvoll potenzieller Kläger zu einigen, drei Männer und zwei Frauen.

Eine von ihnen ist Saheeda Katoon. Sie war schon vor dem 11. September Witwe, verlor beim Brand ihren Sohn Ejaz Ahmad, lebt von zwei kleinen, zeitlich befristeten Pensionen. Mit den Tränen kämpfend erzählt sie, dass ihr Sohn sie einst hätte begraben sollen, dass sie jetzt nicht weiß, ob überhaupt jemand an ihrem Grab stehen wird. Sie schläft kaum und kocht nicht mehr, ernährt sich von Brot, von Keksen, etwas Obst. Am Ende der zwei Tage hat die Klage Gesichter und Geschichten bekommen, Einzelfälle, die für viele andere stehen. Vielleicht ist das auch ein Grund, warum KiK inzwischen um einen neues Gespräch gebeten hat. Der Druck auf einen Profiteur der globalen Ausbeutung wächst.

Korangi: Depression Colony

Dass sich an der nichts geändert hat, erleben wir bei unseren nächsten Stationen. Kollegen der Gesundheitsorganisation HANDS, des ältesten medico-Partners in Pakistan, fahren uns in die Bhitai Colony in Korangi, einem Stadtteil Karatschis, wo die Hilfsorganisation ein psychosoziales Gemeindeprojekt begonnen hat. Die HANDS-Aktivistinnen Laldin Balal und Asia Majid nennen die Gegend „Depression Colony“. Wir sehen, in welchen Verhältnissen die Arbeiterinnen und Arbeiter des Weltmarktes leben – und welches alltägliche Elend sie an die Werkbänke treibt.

Tatsächlich gilt ein Job in einer der Textilfabriken als Hauptgewinn, die meisten hier sind Tagelöhner oder gänzlich ohne Einkommen. Nur die großen Straßen sind asphaltiert, die Seitenachsen trotz der Hitze mit stinkenden Pfützen übersäht. „Die Trinkwasserversorgung ist katastrophal, weil sich Frischwasser und Abwässer mischen“, sagt Asia. Viele leiden an Durchfall und Erbrechen, an Hepatitis und Malaria. „Neben der Armut ist das schlimmste die Aussichtslosigkeit der Tagelöhnerei und die Angst vor dem Jobverlust“, ergänzt Laldin. Am Anfang des Projekts wurden Frauen aus der Colony zu „Marvi Workers“ ausgebildet – zu Gemeindeschwestern mit paramedizinischen und psychosozialen Grundkenntnissen. Jede Marvi betreut eine Gruppe von bis zu 15 Frauen und organisiert regelmäßige Treffen. „Die Mühsal und die Angst machen die Familien kaputt, viele Männer prügeln, die Frauen versuchen, alles zusammenzuhalten. Die Jungen baden das aus, nehmen Opium, Alkohol und andere Drogen.“ Hält eine Frau das nicht mehr aus, bringt eine Marvi sie zu einer kleinen Klinik. Deren Leiterin Fizza Yasmeen erklärt uns: „Wir leisten hier Nothilfe, nicht mehr und nicht weniger. Aber die Situation ändern – das können wir nicht. Fragen wir die Leute, was sie brauchen, lautet die Antwort: Jobs, mehr Jobs, bessere Jobs.“

Faisalabad: Sector Satwan

Bessere Jobs? Welche Arbeitsbedingungen hier selbstverständlich sind, wissen die Kollegen des medico-Partners NTUF, sei es in den Textilfabriken in Karatschi, sei es in den Webereien in Faisalabad im Nordwesten, nahe der indischen Grenze, wo die Stoffe hergestellt werden. Mit Nasir Mansoor, dem Generalsekretär der Gewerkschaft, reise ich nach Satwan, einem der 29 „Sektoren“ des Industriegürtels von Faisalabad. Die Szenerie in den Fabriken erinnert an den Manchesterkapitalismus vor 100 Jahren in Europa. Im Höllenlärm der dunklen Hallen rattern auf engstem Raum 60 uralte, vom Rost zerfressene Webstühle. Luftfilter gibt es nicht, zentimeterhoch häufen sich die Baumwollfasern. Die Arbeiter drängen sich um die Maschinen und hetzen durch die schmalen Gänge, stets in der Gefahr, irgendwo anzustoßen, hängenzubleiben oder ins rasende Getriebe und Gestänge zu geraten.

Am Ende unseres Weges treffen wir Gewerkschaftsaktivisten des Labour Qaumi Movement (LQM), der vor kurzem erst gegründeten, stadtteilweise organisierten „Volksbewegung der Arbeit“. NTUF und LQM haben sich gesucht und gefunden: Die einen sind an neuen Methoden des Organisierens interessiert, die anderen an Verbindungen über Faisalabad hinaus. Der Fabrikbrand des „Industrial 9/11“ hat sie zusammengeführt: „Was in Karatschi die Brände sind“, sagt Ashfaq Budd, Gründer des LQM, „sind bei uns die Unfälle am Webstuhl.“ Auch das LQM muss Prozesse führen: Seit Monaten sitzen 13 ihrer Mitglieder in Haft, angeklagt nach den Anti-Terror-Gesetzen. Die Polizei wirft ihnen vor, unter dem Deckmantel gewerkschaftlicher Organisation vom Besitzer einer Weberei Geld erpresst zu haben.

Nasir Mansoor schlägt vor, mir bei meinem nächsten Besuch die Baumwollfelder zu zeigen, wo unter ebenfalls skandalösen Bedingungen der Rohstoff für die Textilindustrie hergestellt wird. Hier runde sich das Bild der gesamten Produktionskette ab, an deren Ende sich hierzulande bunte T-Shirts und modische Jeans auf den Warentischen stapeln. Eine erfolgreiche Klage gegen KiK könnte Sand in dieses mörderische Getriebe streuen. So verabschiedet mich der Anwalt Faisal mit den Worten: „Wir starten von Ground Zero. Bis bald in Deutschland!“ Ja. Wir stehen am Anfang.

Thomas Seibert

Veröffentlicht am 11. September 2014

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