Debatte

Wir sind nicht ohnmächtig

Ist die Welt noch zu retten? Eine Debatte zwischen Jean Ziegler und Thomas Gebauer über eine gelähmte UN, neoliberalen Wahn und radikalen Zorn.

Thomas Gebauer: In Deinem jüngsten Buch „Der schmale Grat der Hoffnung“ konstatierst Du, dass die Vereinten Nationen saft- und kraftlos seien und am Boden lägen. Die Hoffnungen, so sagst Du, „vagabundieren in den Trümmern“. Ist die UN wirklich gescheitert? Und welche Hoffnungen machst Du da aus?

Jean Ziegler: 1945 wurden die Vereinten Nationen in Folge des Zweiten Weltkrieges mit drei Säulen gegründet: Erstens sollte es künftig kein Elend mehr auf der Welt geben, zweitens sollten überall die Menschenrechte gelten und drittens sollte kollektive Sicherheit herrschen. 73 Jahre später sind alle drei Säulen zerbrochen. Das Elend in der Welt ist immens, in mehr als jedem dritten Land der Erde wird gefoltert und es herrschen zahlreiche Kriege – von Syrien über Sudan bis zum Jemen. In allen Fällen sind die UN am Sicherheitsrat mit dem Vetorecht der fünf ständigen Mitglieder gescheitert: Russland blockiert Beschlüsse zu Syrien, China zum Sudan und die USA zum Jemen. Aus diesem eklatanten Scheitern erwächst jedoch eine Hoffnung. Das fürchterliche Blutbad in Syrien mit seinen weitreichenden Folgen zeigt nachdrücklich, dass die UN als multilaterale Institution in bestimmten Situationen tätig werden können muss. Deshalb wird jetzt ein Reformpaket des ehemaligen UN-Generalsekretärs Kofi Annan diskutiert, das lange in der Schublade verschwunden war. In diesem wird das lähmende Vetorecht zwar nicht abgeschafft, aber beschränkt: In Fällen, in denen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verübt werden, ist ein Vetorecht ausgeschlossen.

Gebauer: Bei der Gründung der UN wurde parallel zum Sicherheitsrat, der dann tätig werden soll, wenn der Frieden akut bedroht ist, der Wirtschafts- und Sozialrat gegründet – als gleichbedeutende Instanz. Dieser sollte den Frieden über wirtschaftliche und soziale Entwicklung fördern, um den Sicherheitsrat also gar nicht erst bemühen zu müssen. Im Wirtschafts- und Sozialrat haben auch NGOs Mitspracherechte. Wer aber kennt ihn heute? Er spielt in der internationalen Politik überhaupt keine Rolle mehr. In dieser Missachtung zeigt sich, wie eine gute Idee durch Machtinteressen ausgehebelt worden ist. Wie kommt es, dass die UN ausgerechnet heute, wo die Welt durch die Globalisierung doch so eng zusammengerückt, so machtlos ist?

Ziegler: Der Verfall der UN geht einher mit der langsamen Erosion des Nationalstaates – und der Eroberung der Welt durch die kapitalistische Produktionsweise. Die Welt wird nicht mehr von souveränen Nationalstaaten und der UN als übergeordneter Instanz regiert. Der Weltmarkt ist zur zentralen Regulationsinstanz geworden und eine kleine Oligarchie des Finanzkapitals hat die Macht an sich gerissen. Diese Oligarchie verfügt über mehr Macht als jeder Kaiser oder Papst jemals hatte. Und jenseits jeder parlamentarischen Kontrolle hat sie eine unglaubliche Ungleichheit geschaffen. Zugleich hat die neoliberale Wahnidee um sich gegriffen, dass man nichts dagegen tun könne, weil die unsichtbare Hand des Marktes alles regelt.
 

Gebauer: Vor einigen Jahren wurde im Zuge der Finanz- und Hungerkrise darüber diskutiert, die Spekulation mit Nahrungsmitteln zu verbieten. Viele waren dafür, auch der damalige Bundespräsident. Doch dann ist das Thema wieder von der Agenda verschwunden. So ist es oft: Notwendige Korrekturen werden in den Raum gestellt, kurzzeitig erwogen und verflüchtigen sich dann wieder. Unter solchen Umständen sollte es nicht verwundern, wenn sich der Eindruck breit macht, zur Politik eines „Weiter so“ gebe es keine Alternative.

Ziegler: Die Deutsche Bank hatte wegen des großen Drucks die Spekulation mit Nahrungsmitteln zwischenzeitlich sogar ausgesetzt. Sie hat sie dann mit der Begründung wieder aufgenommen, dass ihre Kunden das verlangen. Das ist der Obskurantismus des Neoliberalismus. Nicht einmal die Deutsche Bank oder Nestlé seien in der Lage, etwas gegen den Markt zu unternehmen. Aber der Markt ist kein Naturgesetz und in der Demokratie gibt es keine Ohnmacht. Jede Struktur – auch die Spekulation mit Nahrungsmitteln – kann jederzeit mit demokratischen und friedlichen Mitteln gebrochen werden. Von Demonstrationen bis zum Generalstreik: Alle Waffen sind da, sie sind sogar im Grundgesetz verankert. Voltaire hat gesagt: „Freiheit ist das einzige Gut, das sich abnutzt, wenn man es nicht benutzt.“ Im Moment wird im UN-Menschenrechtsrat, der drittwichtigsten Instanz der UN, ein sehr wichtiger Kampf geführt: Es geht um die Ausarbeitung einer ursprünglich von Ecuador eingebrachten internationalen Konvention, die Konzerne weltweit der Menschenrechtsnormativität unterwirft. Der Menschenrechtsrat hat dieses Abkommen, der sogenannte UN-Treaty, mehrheitlich befürwortet. Das ist so wichtig, weil Menschenrechte bislang nur gegenüber Nationalstaaten geltend gemacht werden können, nicht aber gegenüber den wahren Herren der Welt, den Konzernen. Bislang aber stehen die EU und Deutschland dezidiert auf der Seite der Gegner der UN-Treaty.

Gebauer: Die Bundesregierung begründet ihre Ablehnung mit dem Argument, dass sich Unternehmen nicht mehr an die zuletzt verabredeten freiwilligen Selbstkontrollen halten würden, wenn ihr Geschäftsgebaren unter Menschenrechtsgesichtspunkten verpflichtend geregelt wird. Das ist ein absurdes Argument, zumal sich die beschworene Unternehmensverantwortung in der Praxis als Augenwischerei herausstellt. Im Herbst letzten Jahres sind 300 Vertreter zivilgesellschaftlicher Organisationen aus aller Welt nach Genf gereist, um gemeinsam für die UN-Treaty zu streiten. Die Bundesregierung hat als Beobachterin eine Praktikantin entsandt. Das zeigt, dass viel mehr öffentlicher Druck notwendig ist, um solch einer Übereinkunft zum Erfolg zu verhelfen. Wie wichtig die menschenrechtliche Regulierung von Unternehmen ist, haben wir im Kontext der Debatten um die globalisierte Textilproduktion erfahren. Es wäre ein Einfaches gewesen, die Einfuhr von Textilien aus Südasien an den Standard der Internationale Arbeitsorganisation (ILO) der UN zu koppeln. Das ist nicht geschehen.

Ziegler: Ich kenne viele hochrangige Diplomaten, auch deutsche, die dafür sind. Aber es ist eben nicht mehr die Politik, die entscheidet. Tatsächlich hat der Staat durch Deregulierungen und Steuergeschenke – siehe aktuell Trump – seine Handlungsmacht verkleinert. Die Staaten sind auch aus eigenem Verschulden verarmt und haben andere reich gemacht. Laut dem neusten Oxfam-Bericht verfügen die 85 reichsten Milliardäre über so viel Vermögen wie die ärmsten 4,7 Milliarden Menschen der Welt zusammen. Der Besitzer der spanischen Modekette Zara hat letztes Jahr eine Dividende von 1,3 Milliarden Euro eingestrichen. Der Mindestlohn der Näherinnen in den Textilfabriken in Dhaka beträgt 89 Euro im Monat. Das absolute Existenzminimum für eine vierköpfige Familie in Dhaka beträgt aber 292 Euro.

Gebauer: Die neoliberale Ordnung hat ein neues Menschenbild produziert: Der Mensch ist nicht mehr das Produkt seiner sozialen Umstände, sondern Ergebnis seines eigenen Vermögens. Jeder und jede ist für das, was man ist, selbst verantwortlich. Diese Überhöhung von Eigenverantwortung ist ein Riesenproblem, weil damit auch die Opfer einer mörderischen Weltordnung für ihre Situation selbst verantwortlich gemacht werden können.

Ziegler: Der planetarischen Zivilgesellschaft kommt heute die entscheidende Rolle zu, all das zu ändern. Sie ist das neue historische Subjekt. Sie schreitet jeden Tag voran und kämpft an vielen Fronten gegen den Raubtierkapitalismus. Beim letzten Weltsozialforum waren über 8.000 Organisationen zusammengekommen. Es ist eine Bruderschaft der Nacht, ohne Parteiprogramm oder Zentralkomitee. Zusammengehalten wird sie allein von einem kategorischen Imperativ: Die Unmenschlichkeit, die jemand anderem angetan wird, zerstört meine Menschlichkeit.

Gebauer: Ich stimme Dir völlig zu. Ein Problem jedoch ist, dass die Zivilgesellschaft selbst anfällig ist für die neoliberale Ideologie. Mehr noch: Ihr wird eine das System stabilisierende Aufgabe zugewiesen. Der Staat entledigt sich zum Beispiel seiner Verpflichtung, Obdachlose zu versorgen, indem er diese Aufgabe an private Initiativen abtritt. Insbesondere Hilfsorganisationen sind mit diesem Widerspruch konfrontiert: Sie helfen und federn damit ein Unrechtssystem ab. Ja, die Zivilgesellschaft ist die Hoffnung; aber nicht, indem sie einfach nur beschworen wird – so wie die Bundesregierung das Ehrenamt propagiert –, sondern indem sie den herrschenden Zerstörungsprozess, der auch das Scheitern der UN zu verantworten hat, radikal in Frage stellt.
 

Ziegler: Im Bereich der Hilfe muss man sehr genau unterscheiden zwischen der humanitären Soforthilfe und der staatlichen Entwicklungshilfe. Letztere ist zu einem gewaltigen Geschäft geworden und zementiert allzu oft Unrechtsstrukturen, indem sie Aufgaben wahrnimmt, die die Nationalstaaten in der südlichen Hemisphäre übernehmen müssten. Um das zu ändern, müssten die reichen Länder nicht mehr geben – sie müssten nur weniger stehlen. Durch den Rohstoffraub oder erpresserische Handelsabkommen fließen jedes Jahr viele Milliarden Euro mehr von Afrika nach Europa als in umgekehrter Richtung. Anders ist es bei der humanitären Soforthilfe – für die muss man streiten. Denn was aktuell passiert, ist das: Im März 2017 nahm ich zuletzt an einer sogenannten Geberkonferenz teil, es ging um die Hungersnöte im Jemen und Südsudan, in Somalia und Kenia. Da sitzen auf der einen Seite Botschafter der mächtigsten Geberländer, auf der anderen Seite die Vertreter der 23 Spezialorganisationen der UN. Diese schildern die Situation und stellen die Maßnahmen vor, die sofort ergriffen werden müssen, um Menschenleben zu retten. Sie verlangten vier Milliarden Euro. Erhalten haben sie 246 Millionen, weil die Staatskassen angeblich leer seien.

Gebauer: Genau deswegen müssen wir Hilfe zugleich verteidigen und kritisieren. Weil der Bedarf an Hilfe inzwischen die bereitgestellten Mittel übersteigt, taucht ein weiteres Problem auf: die Kapitalisierung von Hilfe. Geld gibt es ja genug, nur nicht da, wo es gebraucht wird. Kürzlich blieb dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz zur Finanzierung des Aufbaus von Rehabilitationszentren in Afrika nur noch die Herausgabe von Sozial-Anleihen. Sie haben einen sogenannten Humanitarian Impact Bond aufgelegt. Nun wird das Projekt mit privatem Investitionskapital finanziert. Ist es nachweislich erfolgreich, erhalten die Investoren das eingesetzte Kapital zurück – und zusätzlich eine Rendite. Der ganze Bereich der Sozialen Arbeit droht in einen renditeorientierten Markt umstrukturiert zu werden.

Ziegler: Das liegt auch daran, dass in der kannibalischen Weltordnung Menschenleben nichts bedeuten, weil sie nicht gebraucht werden. Der Papst sagt, es gebe eine neue Kategorie von Menschen, die als „Abfall“ gelten. Sie werden nicht einmal mehr ausgebeutet oder unterdrückt, sie werden nie eine Arbeit, ein Familienleben, Zugang zu Bildung oder ausreichend Nahrung haben. Sie sind ausgestoßen und überschüssig. Deshalb ist der radikale Zorn so wichtig. Sartre hat gesagt: Um die Menschen zu lieben, muss man sehr stark hassen, was sie unterdrückt. Ich betone: was, nicht wer. Es geht nicht um Reformen. Vielmehr muss die kannibalische Weltordnung aus der Welt geschafft werden.

Gebauer: Wir erleben gerade das Ende eines Jahrhundertprojektes. Der sozialdemokratische Versuch, den Kapitalismus sozialpolitisch zu zähmen, scheitert an allen Orten. Die Frage ist, welches neue Projekt aus dem Zorn kommen kann. Sartre hat gesagt, dass Che Guevara die Menschen aus ihrer „Immanenz“ herausgerissen habe. Wie kann man heute aus der neoliberalen Verblendung heraustreten, zumal wir selbst in unseren privilegierten Leben darin verstrickt sind?

Ziegler: Che Guevara hat gesagt: „Auch die stärksten Mauern fallen durch Risse.“ Und Risse zeigen sich in dieser Weltordnung überall. Man muss sich eines immer klarmachen: Was uns von den Opfern trennt, ist nur der Zufall der Geburt. Ich glaube an die Menschwerdung des Menschen. Aber dafür muss man etwas tun. Ich möchte noch eine Geschichte aus dem Ende des spanischen Bürgerkriegs erzählen. Barcelona war gefallen, die Faschisten hatten gesiegt. In dieser Situation flieht der Dichter Antonio Machado mit den letzten republikanischen Truppen nach Frankreich. Auf dem Weg pfeift er eine Melodie. Seine Gefährten fragen ihn, wie er angesichts der verheerenden Niederlage so fröhlich sein könne. Machado sagt, das ihm gerade ein Gedicht eingefallen ist: „Wanderer, es gibt keinen Weg. Er entsteht erst im Gehen. Hieb für Hieb und Gedicht für Gedicht.“
 

Der Schweizer Jean Ziegler war von 2000 bis 2008 UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung. Seit 2008 gehört er dem Beratenden Ausschuss des Menschenrechtsrats der UN an. Ziegler war u.a. befreundet mit Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir. Che Guevara chauffierte er durch Genf, als Kuba an der ersten Weltzuckerkonferenz der UNO in Genf teilnahm.


Das Gespräch wurde auf der Veranstaltung „Warum wir die kannibalische Weltordnung stürzen müssen“ geführt, die am 6. Februar 2018 im Festsaal der Goethe-Universität in Frankfurt im Rahmen des Programms „50 Jahre medico“ stattfand.
 

Dieser Beitrag erschien in einer gekürzten Fassung zuerst im medico-Rundschreiben 1/2018. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. <link verbinden abonnieren>Jetzt abonnieren!

Veröffentlicht am 10. April 2018

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