Wenigstens das Recht auf einen Sarg

Eine ehemalige Zuckerrohrarbeiterin berichtet von den gesundheitsschädlichen Folgen des Bioethanol-Booms für die Menschen in Nicaragua

Die Katastrophe um Fukushima hat einer breiten Öffentlichkeit nicht nur die Gefahr der Kernkraft, sondern auch die dahinter liegende Wahrheit schmerzhaft bewusst gemacht: Die Grenzen des Wachstums und damit auch die Grenzen unseres Lebens- und vor allen Dingen Mobilitätsmodells sind erreicht. In Fukushima fühlen wir uns selbst betroffen. Auch in Deutschland könnte ein AKW-Unglück unsere Gesundheit bedrohen. Aber öffnet diese Erkenntnis auch unsere Empathiefähigkeit für die Menschen, die schon lange andernorts mit ihrem Leben und ihrer Gesundheit für den ungebremsten Energiehunger bezahlen?

Carmen Rios Urbina, eine nicaraguanische Zuckerrohrarbeiterin, reiste gemeinsam mit dem nicaraguanischen Journalistikstudenten Camilo Navas Corea durch Deutschland und kann eine solche dramatische Geschichte erzählen. Und - selten genug - im Gespräch mit den beiden entsteht eine kurz aufblitzende Erkenntnis, wie klein die Welt geworden ist. An der Geschichte von Carmen wird deutlich, mit welcher Wucht ökonomische und sogar vermeintlich ökologische Entscheidungen, die in Europa getroffen werden, fragile Gesellschaften wie die nicaraguanische extrem verändern und bedrohliche Folgen für die Menschen haben. Ein Beispiel ist die großflächige und mit enormer Geschwindigkeit vorangetriebene Monokultur von Zuckerrohr. Die nicaraguanische Firma Pellas, auch Produzent des berühmten Schnapses Flor de Caña, baut als erstes mittelamerikanisches Unternehmen seit 2007 den Zuckerrohr nicht nur für die Rumproduktion, sondern zur Herstellung von Bioethanol an. Pellas exportiert in die USA und nach Europa.

Gesundheitsschäden durch Pestizide

Am 31. März 2011 waren die beiden nicaraguanischen Aktivisten auf einer gemeinsamen Veranstaltung von medico international, der Städtefreundschaft Granada - Frankfurt, dem Klimabündnis und Attac in Frankfurt. Im Haus am Dom, einer katholischen Bildungsstätte, mit Blick auf die hell erleuchteten Türme der großen Banken, berichtete Carmen Rios davon, wie der Zuckerrohranbau systematisch die Gesundheit der Arbeiter und der Bewohner der Anbauregionen zerstört. Chronische Niereninsuffizienz heißt die Krankheit, die zwischen 2005 und 2011 5.341 Tote unter den Zuckerrohrarbeitern der Bezirke von León und Chinandega gefordert hat.

Für die "Nicaraguanische Vereinigung der an Niereninsuffizienz Erkrankten", deren Vorsitzende Carmen Rios ist, liegen die Ursachen auf der Hand. Der massive Pestizideinsatz auf den riesigen Zuckerrohrplantagen unter anderem der nicaraguanischen Firma Pellas sei die Ursache für die um ein Vielfaches höher liegende Prävalenz der Krankheit in diesen Regionen. Die nicaraguanische Selbsthilfevereinigung von Carmen Rios gründeten Zuckerrohrarbeiter, die bei Pellas angestellt waren und sofort entlassen wurden, als bei ihnen die Krankheitssymptome auftraten. Seit Jahren kämpfen die Entlassenen und ihre Familien mit vielen Protestmärschen und der Einrichtung von Dauercamps in der Hauptstadt Managua um die Anerkennung der Niereninsuffizienz als Berufskrankheit. Dazu hat das nicaraguanische Parlament mittlerweile ein Gesetz erlassen und die entlassenen Arbeiter, die noch leben, erhalten eine Berufsunfähigkeitsrente durch das öffentliche Sozialsystem (zwischen 50 und 120 Dollar, alles noch unter der Armutsgrenze). Pellas hingegen ist nach wie vor nicht bereit anzuerkennen, dass die Krankheit durch den Pestizideinsatz hervorgerufen wird. Die Firma zahlte einigen protestierenden Arbeitern eine einmalige Entschädigung, allerdings ohne die Tatsache der Verantwortung anzuerkennen. Die Bewegung sollte ruhig gestellt werden.

Das ist aber nur teilweise gelungen. Mittlerweile campieren Betroffene wieder in Managua, um ihren Forderungen nach Entschädigung durch das Unternehmen Gehör zu verschaffen. "Wir kämpfen'", so Carmen Rios, "um Medikamente, Entschädigung und das Recht auf einen Sarg." Carmen Rios weiß, wovon sie spricht. Sie selbst leidet an der Krankheit und lebt mit der bitteren Erkenntnis, dass ihre Lebenszeit deshalb begrenzt ist. "Ich hinterlasse sechs Kinder", sagt die Mittvierzigerin.

Moderne Sklavenarbeit

Der Journalistikstudent Camilo Navas unterstützt mit seiner Gruppe "Boykottiert Pellas!" die Arbeit der Betroffenen. Diese Gruppe junger nicaraguanischer Studenten hat mit den Zuckerrohrarbeitern auch eine Realität ihres Landes kennen gelernt, die von Managua fast so weit weg ist wie von Frankfurt aus betrachtet. Interessanterweise haben die jungen Studenten den kämpfenden Landarbeitern, die häufig Analphabeten sind, nicht nur ihre Internetkenntnisse zur Verfügung gestellt, sondern auch das Thema über die direkte Betroffenheit hinaus recherchiert. Sie stellen die Verbindung zum Agrotreibstoff her, sind informiert über die US-amerikanische und europäische Politik. Sie haben recherchiert, dass die gesamte Region durch Verschmutzung des Trinkwassers betroffen ist, und haben enthüllt, dass die Firma Pellas lügt, wenn sie behauptet, sie würde nur noch saubere Zuckerrohrplantagen betreiben. Camilo zeigte in Frankfurt Fotos von Arbeitern, die in dem Wasser baden, in dem sie gleichzeitig die Pestizidkanister reinigen. Schutzkleidung für die Arbeiter gibt es nicht. Weder beim Mischen der Pestizide noch beim Aussprühen. Die Firma Pellas wäscht ihre Hände in Unschuld. Denn auch in Nicaragua entledigt man sich höherer Löhne und der Beachtung der Gesetze durch die Einschaltung von Leiharbeitsfirmen. Camilo berichtet, dass Pellas seine Zuckerrohrproduktion für den Bioethanol mittlerweile im großen Stil im Nachbarland Honduras ausbaut. Das Land ist noch ärmer als Nicaragua. Umso schutzloser sind die Landarbeiter den unerträglichen Arbeitsbedingungen ausgeliefert, weil es zur Arbeit auf den Plantagen keine Alternative gibt. Die Produktion von Bioethanol frisst nicht nur die Landflächen, auf denen Lebensmittel angebaut werden können, sie schafft auch wieder die Bedingungen für sklavereiähnliche Arbeitsverhältnisse.

Bei der Veranstaltung im Haus am Dom saßen viele, die sich noch mit Freude an die Zeiten großer Nicaragua-Solidarität erinnern. Damals ging politische Solidarität häufig einher mit der Hoffnung, die Nicaraguaner könnten uns zeigen, wie ein anderes besseres Leben zu gestalten wäre. Heute dagegen gibt es keine dauerhafte Hoffnung für die Zuckerrohrarbeiter und all die anderen, denen im großen Stil Land und die Gesundheit geraubt wird, wenn es nicht gelingt, den Energiehunger und die Wachstumsideologie bei uns zu stoppen.

Katja Maurer

Projektstichwort

Auch medico-Projekte in Nicaragua sind direkt von den beschriebenen gesundheitsschädlichen Folgen des Zuckerrohranbaus betroffen, weil sie sich ebenfalls in den betroffenen Provinzen León und Chinandega befinden. Nicht nur der ökonomische Druck auf die Landflächen macht unserem integrierten Ansiedlungsprojekt in La Palmerita zu schaffen. Auch die Trinkwasser-Verschmutzung betrifft La Palmerita massiv. Das medico-Büro in Managua steht in kontinuierlichem Kontakt mit den an Niereninssuffizienz Erkrankten. Derzeit wird an einem gemeinsamen Projekt zu Gesundheitsauswirkungen der Zuckerrohrplantagen gearbeitet. Das Projektstichwort für Spenden lautet: Nicaragua.

Hotspot Landfrage

Dieter Müller, medico-Repräsentant für Mittelamerika, über die Rückkehr der Großplantagen-Wirtschaft

Welche Auswirkungen hat der Energiehunger der privilegierten Länder auf Mittelamerika?

Dieter Müller: Der Druck auf die Agrarflächen ist enorm gestiegen. Kleinere und mittlere Bauern werden verdrängt. Dabei sind Aufkaufangebote durchaus auch mit Druck verbunden. In Guatemala wird immer wieder erzählt, dass Aufkäufer unverhohlen drohen: "Entweder du wirst mit uns handeleinig oder wir mit deiner Witwe." Auch in den von medico geförderten ländlichen Projekten in Palmerita und El Tanque tauchen immer wieder Landkäufer auf.

Gibt es eine Renaissance der Großplantagenwirtschaft?

Eindeutig. Im Zuckerrohr sieht man es am deutlichsten. Bis vor wenigen Jahren gingen die Anbauflächen zurück. Heute werden die Flächen für den Zuckerrohranbau massiv ausgeweitet. Außerdem vollzieht sich eine Transnationalisierung und eine erhebliche Konzentration der lokalen Zuckerrohrunternehmen. Einige wenige Konglomerate beherrschen den Zuckerrohrmarkt in Mittelamerika. u.a. die nicaraguanische Unternehmensgruppe Pellas oder die guatemaltekische Pantaleon-Gruppe.

United Fruit kehrt nicht zurück?

Im Bereich des Zuckerrohrs nicht. Bei der Ölpalme, ebenso ein Wachstumsmarkt des Agrobusiness, sind das große ausländische Konzerne aus den USA, Kanada oder Frankreich, die sich allerdings lokale Tochtergesellschaften aufbauen.

Die Agroindustrie ist weltmarktfähig. Gelingt es wenigstens über Steuern eine gewisse Umverteilung?

Da sind die mittelamerikanischen Länder nach wie vor Bananenrepubliken. Die großen Unternehmen zahlen fast keine Steuern. Aber sie werben wie Pellas mit ihren sozialen Projekten. Sie finanzieren unter anderem Schulen oder Gesundheitsstationen. Auch werden finanzielle Anreize genutzt, um einzelne Repräsentanten der lokalen Bevölkerung auf ihre Seite zu ziehen. Das schadet dem Widerstand, der sich an vielen Orten gegen diese Landnahme regt.

Ist der Kampf ums Land also eines der zentralen Felder sozialer Auseinandersetzungen?

Hinter der Landfrage verbirgt sich die soziale Frage, und diesbezüglich hat es in den letzten Jahrzehnten keine wirklich grundlegenden Veränderungen gegeben. Die in die Armut gedrängten Menschen in Mittelamerika haben keine Perspektive, weder auf dem Land noch in der Stadt. Es bleibt oft als einziger Ausweg die Migration.

Veröffentlicht am 29. Juni 2011

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