Vor der Zerreißprobe

Soziale Ungleichheit und Polizeigewalt geißeln Post-Apartheid-Südafrika

Nie war das Post-Apartheid-Südafrika so zerrissen wie heute - ein Jahr vor den Nationalwahlen 2014. Angesichts der enormen sozialen Ungleichheit wachsen Enttäuschung und Wut in der Bevölkerung. Der Staat reagiert mit zunehmender Repression. Beide Entwicklungen zeigen sich auch in der Arbeit der medico-Partner.

Fast 20 Jahre ist es her, dass der ANC, die einstmalige Befreiungsbewegung gegen die Apartheid, die ersten allgemeinen Wahlen in Südafrika gewann. Doch die Auseinandersetzungen im Vorfeld der Nationalwahlen im Frühjahr 2014 zeigen: die Ausgangsfragen des Befreiungskampfes sind noch lange nicht gelöst. Wie kommt es, dass die soziale Ungleichheit höher ist als vor 20 Jahren und die Armen fast ausschließlich schwarz sind? Welche ökonomischen Interessen verfolgt die neu zusammengesetzte schwarze und weiße Elite und mit welchen politischen Strategien setzt sie sie durch? Wogegen wird sich die Wut der Armen richten, die in wachsender Zahl auf die Straße gehen? Wird sie sich zu gemeinsamen politischen Kämpfen vereinen oder gegeneinander ausgetragen werden?

Noch scheint die Mehrheit der Bevölkerung die Missstände hinzunehmen. Der abzusehende Tod des 94-jährigen Nelson Mandelas könnte diese Phase der Geduld beenden. Eine Geduld, von der vor allen Dingen der zur Regierungspartei gewandelte ANC profitierte. Er wird schon jetzt für viele der Fehlentwicklungen verantwortlich gemacht, weil er sich den Interessen der ökonomischen Elite verschrieben habe. Eine wachsende Zahl von Oppositionsparteien versucht, den erwarteten ANC-Sieg bei den Parlamentswahlen im nächsten Jahr zu verhindern. Es gibt offene Kritik am ANC von jungen Leuten und aus der eigenen Anhängerschaft. Erzbischof Tutu hat kürzlich öffentlich erklärt, dass er dem ANC seine Stimme verweigern werde.

ANC wird zunehmend autoritär

In ihrer politischen Machtposition bedroht, reagieren der ANC und die mit ihm verbundene Elite zunehmend autoritär und repressiv. Allein im letzten Jahr gab es ca. 700 ungeklärte Todesopfer. Viele Funktionäre dulden die wachsende Polizeigewalt nicht nur, sie bestärken sie noch mit plakativen Aufforderungen, die Polizei solle rücksichtslos vorgehen. Auf öffentliche Kritiker reagieren sie mit Einschüchterung und Drohungen. Das betrifft auch die Menschenrechtsorganisation Section 27. Die medico-Partner legen in ihren Berichten große Versorgungsmissstände im Gesundheits- und Bildungswesen offen und zeigt, dass diese mehr auf Missmanagement und Korruption als auf den Mangel an Ressourcen zurückzuführen sind. Mit Hilfe von Öffentlichkeitsaktionen und wenn nötig Klagen gelingt es Section 27 immer wieder, staatliche Strukturen zu Zugeständnissen und Reformen zu zwingen – Das verschafft ihnen wachsende Unterstützung aber auch Feinde.

Die offene Repression durch Polizeigewalt fand ihren traurigen Höhepunkt im Marikana-Massaker im August 2012, bei dem 34 streikende Minenarbeiter von der Polizei erschossen wurden. Die Bilder glichen denen von Massakern aus der Apartheidzeit. Ebenso das Verhalten der politisch Verantwortlichen, die Polizeigewalt einfach zu verleugnen. Der Schock darüber verstärkt seither die Entfremdung der Basis von ihrer einstmaligen politischen Führung. Selbst die Untersuchungskommission zum Massaker hinterlässt den Eindruck, dass sie gegen die politische und ökonomische Elite machtlos ist: Auf mehrere Zeugen wurden vor ihrer Aussage Anschläge verübt, manche mit tödlichem Ausgang.

Gegen die ökonomische und politische Misere gibt es anwachsende Proteste im ganzen Land, an denen sich seit 2008 mehr als zwei Millionen Menschen jährlich beteiligen. Allein in der Provinz Gauteng gab es 540 Proteste zwischen dem 1. April und dem 10. Mai 2013. Seit letztem Jahr sind riesige Streiks vor allem in Bergbau und Landwirtschaft dazugekommen. Interessant ist daran, dass die alten, dem ANC alliierten COSATU-Gewerkschaften in großer Zahl Mitglieder verlieren. Allein aus der Bergarbeitergewerkschaft NUM traten 35.000 Mitglieder aus. Gleichzeitig entwickeln sich neue unabhängige Gewerkschaften.

Opfer der Apartheid wieder Opfer von Repressionen

Im Gespräch beschreiben AktivistInnen und UnterstützerInnen des medico-Partners Local Government Action (LGA), einem Bündnis von zivilgesellschaftlichen Organisationen für soziale Gerechtigkeit, die Situation als einerseits gefährlich, andererseits erkennen sie durchaus Chancen und eine gewisse Aufbruchsstimmung. Sie nehmen ein wachsendes Bedürfnis nach Debatte und Zusammenarbeit wahr, um die vielfältigen Auseinandersetzungen mit sehr unterschiedlichen Interessen und Machtkonstellationen zusammenzuführen. LGA hat vor kurzem dafür einen Social-Media-Auftritt lanciert, um eine Vernetzung über soziale Medien herzustellen. Gleichzeitig erwägen sie, bis zu den Wahlen nächstes Jahr lokale Konsultationen durchzuführen, die – wenn möglich – in einen landesweit abgestimmten gemeinsamen Forderungskatalog münden sollen.

Die großen politischen Themen, wie die fortgesetzte soziale Ungleichheit in Südafrika, beschäftigen auch die langjährigen medico-Partner von Khulumani, einer Organisation von Apartheidopfern und ihren Angehörigen. Mitglieder von Khulumani sorgten mit scharfen Statements bei einer großen Fernsehdiskussion zum Thema „Is our economy racist?“ für Aufsehen. Dies zeigt, dass die Stimmen der Apartheidopfer, ihre langjährigen zermürbenden Kämpfe, nicht mehr ignoriert werden können. Zumal viele der alten Apartheidopfer auch Opfer der neuen Menschenrechtsverletzungen sind: Khulumanimitglieder, die vor der Wahrheitskommission ausgesagt haben, sind durch das Marikana-Massaker Witwen geworden und kämpfen erneut um Wahrheit, Gerechtigkeit und eine öffentliche Stimme. Sogar die ANC-Fraktion sah sich – schon wegen der Vorwahlzeit – veranlasst, Khulumani einzuladen und ihre Forderungen nach Entschädigung und sozialer Gerechtigkeit zumindest anzuhören.

Kampf gegen HIV-Aids macht Fortschritte

Einzig im Gesundheitssektor gibt es auch erfreuliche Nachrichten. Der aktuelle Gesundheitsminister spielt eine sehr konstruktive Rolle, insbesondere bezüglich HIV-Aids. Inzwischen werden große Aufklärungs- und Testkampagnen sowie eine flächendeckende antiretrovirale Versorgung umgesetzt. So hat sich seit 2009 die Zahl der HIV-Infizierten, die medikamentös versorgt werden, auf 70 Prozent erhöht, die Zahl der Mutter-Kind-Übertragungen halbiert und die Zahl derjenigen, die einen HIV-Test durchführen ließen, von drei auf 15 Millionen erhöht. Trotzdem ist die Sterberate für diejenigen noch sehr hoch, die zu spät mit der Behandlung angefangen haben. Das zeigt sich auch am inflationären Verkauf von Beerdigungsversicherungen, die an jeder Supermarktkasse angeboten werden.

In diesem Kontext hat der medico-Projektpartner Sinani bei der Umsetzung eines großen HIVAids-Projekts gezeigt, wie sinnvoll NGO-Arbeit sein kann, die nicht stellvertretend staatliche Aufgaben übernimmt. In Zusammenarbeit mit Gemeindeführern, Gesundheitsarbeiterinnen, jungen Männern und Frauen sowie Kindern und Pflegefamilien in zehn Gemeinden gelang es Sinani den Zugang zu vorhandenen staatlichen Angeboten für HIV-Aids-Betroffene deutlich auszuweiten. Wenn nicht anders möglich, wurde das Recht auf Behandlung eingeklagt. Mit Erfolg. Gleichzeitig haben diese Maßnahmen dazu beigetragen, Diskriminierung und Stigmatisierung abzubauen.

Herausfordernd für unsere Partner bleibt das politische und soziale Umfeld, in dem solche Projekte durchgeführt werden. Der Zerfall familiärer und sozialer Bindungen nimmt zu, das Ausmaß häuslicher, sozialer, krimineller und politischer Gewalt ist erschreckend. Die Folgen zeigen sich in wachsendem Drogen- und Alkoholmissbrauch und im Anstieg der Selbstmorde insbesondere unter jungen Menschen. Auch die Zahl von Waisenkindern und pflegebedürftigen Erkrankten steigt, ebenso die Belastungen für Angehörige, Pflegefamilien und Gesundheitspersonal. Umso mehr verdienen Projektpartner Anerkennung und Unterstützung, die sich unter diesen Bedingungen ins Handgemenge begeben.

Usche Merk (Text aus dem medico Rundschreiben 2/2013)

Spenden für Südafrika

Local Government Action, Section 27, Khulumani und Sinani – die medico-Partner sind Teil eines losen kritischen Netzwerkes, das sich - fragmentiert, aber – immer lauter gegen die unsozialen Politiken im Post-Apartheid-Südafrika wendet. Unterstützen Sie die Arbeit unserer Partner mit Ihrer Spende.

Veröffentlicht am 25. Juni 2013

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