100 Jahre ANC

Vom Befreiungskampf zur Staatsmacht – Wenn Befreiungsbewegungen an die Macht und in die Jahre kommen

Einführungsvortrag von Anne Jung (medico international) beim Tagesseminar „Vom Befreiungskampf zur Staatsmacht – Wenn Befreiungsbewegungen an die Macht und in die Jahre kommen“ am 6.10.2012 in Kooperation mit der Katholischen Akademie im Haus am Dom und dem EPN.

„Die schleppend vorangehenden Reformen verraten die Revolution“ stellte die südafrikanische Wochenzeitung Mail and Guardian im Frühjahr 2012 fest. Das tief verwurzelte Gefühl verraten worden zu sein, beschreibt die treffend Stimmung vieler Menschen im heutigen Südafrika. Dies gilt mehr als zuvor seit der blutigen Niederschlagung des Streiks von Minenarbeitern in Marikana, die von Vertreterinnen der Zivilgesellschaft, Gewerkschaftern und Kirchenvertretern übereinstimmend als Zäsur beschrieben wird: Durch diesen brutalen Übergriff hat die friedliche Revolution von 1994 endgültig ihre Unschuld verloren. Derzeit streiken Tausende Arbeiterinnen für bessere Löhne und Anglo American Platinum hat mehrere Tausend Arbeiter_innen entlassen.

Doch schon vorher waren es viele Probleme wie die schlechten Gesundheitsverhältnisse, die miserablen Wohnbedingungen von Millionen Menschen in sog. Shacks, der nicht abgeschlossene Versöhnungsprozess, das weiter andauernde Ringen um Versöhnung und Entschädigung für die Überlebenden der Apartheid, die fortschreitende ökonomische Ungleichheit und die extreme Gewalt im Land, an denen die in den Anfangsjahren weltweit gerühmte und bewunderte Regenbogennation zu zerbrechen droht. Im Index für Menschliche Entwicklung fällt Südafrika immer weiter nach hinten (in 2011 um 12 Plätze!) Jede/r dritte Südafrikaner/in lebt ohne gesichertes Einkommen, Südafrika hält den Rekord des weltweit höchsten sozialen Ungleichheit zwischen arm und reich (Gini Koeffizient). Aktivist/innen der neuen sozialen Bewegungen sprechen bereits von einer „ökonomischen Apartheid“, weil der Großteil der schwarzen Bevölkerungsmehrheit auch fast 20 Jahre nach dem politischen Wandel zu den Ausgeschlossenen gehört.

Parallel zu diesen Verwerfungen hat sich in den Übergangsjahren seit den ersten demokratischen Wahlen von 1994 eine schwarze Mittel- und Oberschicht etabliert, die Teil hat am gesellschaftlichen Reichtum. Die Befreiungsbewegung ANC (African National Congress) hat diese Entwicklung durch ihren jahrzehntelangen Freiheitskampf, mit dem sie dem rassistischen Regime ein Ende gesetzt hat, erst ermöglicht und ist bis heute mit großer Mehrheit an der Regierung.

Bei aller gerechtfertigter Kritik am ANC gilt es gleichsam festzuhalten, dass viele der heutigen gesellschaftlichen Zerrüttungen bis tief in die Zeit der Apartheid hineinreichen; sie haben ihre Wurzeln in der erlittenen Demütigung durch das vormalige Regime. Die Homelandpolitik, Zwangsumsiedlungen, Wanderarbeit und viele weitere Faktoren haben zum Aufbrechen des sozialen Zusammenhalts beigetragen.

Internationale Konzerne und (vor allem deutsche) Banken weigern sich auch 20 Jahre nach dem Ende der Apartheid eine Entschädigung für die Überlebenden des Regimes zu zahlen, obwohl sie durch die Kreditvergabe und die Lieferung von Militärfahrzeugen nachweislich zur Verlängerung des Regimes beigetragen haben. Die Entschädigungsklage u.a. gegen Daimler und Rheinmetall ist seit 2004 anhängig und schleppt sich zäh durch die Instanzen.

Gesellschaftliche Ungleichheit

Aus Sicht vieler sozialer Bewegungen im heutigen Südafrika wäre es zu kurz gegriffen, ausschließlich historische Faktoren für die heutige Situation verantwortlich zu machen. Südafrika ist heute das reichste Land in Afrika südlich der Sahara. Für die unfaire Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums kann und muss auch die heutige Politik des ANC in die Verantwortung gezogen werden.

Zivilgesellschaftliche Aktivist_innen kritisieren seit langem, dass der extremen ökonomischen Ungleichheit die oftmals sehr hohen Gehälter für ANC Funktionäre gegenüberstehen. Hat der ANC seine konspirative Strategie, die in Zeiten des bewaffneten Kampfes überlebensnotwendig war, nahtlos in die neue Phase der Regierungsverantwortung überführt? Führte genau dies zu Intransparenz und Korruption? Jeden Tag kann man in den Zeitungen kritischen Stimmen lesen, wie hemmungslos die ANC-Granden die Staatskassen plündern. Der ANC-Funktionär Smuts Ngonyama rechtfertigt diese Haltung mit dem Verweis auf den Befreiungskampf: „Ich habe nicht gekämpft, um arm zu sein“.

Eine Politik der Aneignung charakterisierte bereits die Politik des Apartheidregimes. Hat es der ANC versäumt sich radikal daraus zu lösen (wie es z.B. Thomas Sankara tat, als er Präsident von Burkina Faso wurde und den Renault 5 als Dienstwagen einführte)? Zwelinzima Vavi von COSATU kritisiert mit drastischen Worten, dass Südafrika auf dem Weg sei, ein „räuberischer Staat zu werden, in dem eine machtvolle, korrupte und demagogische Elite von politischen Hyänen vermehrt den Staat nutze, um sich zu bereichern.“ Etwas nüchterner formuliert: Es bildet sich eine Klassenformation heraus, welche die größer werdende Ungleichheit zwischen der Unterprivilegierten und einer schwarzen Elite hervortreten lässt, inklusive einer weiter fest im Sattel sitzenden weißen Elite.

Südafrika ist als einer der BRICS-Staaten das wirtschaftstärkste Land in Subsahara Afrika; viele Unternehmen expandieren in die umliegenden Länder. Gewerkschaften kritisieren, dass die ANC Regierung nicht dafür Sorge trägt, verpflichtende Sozialstandards einzuführen, die im In- wie im Ausland eingehalten werden.

Beim Umgang mit Flüchtlingen orientiert sich die südafrikanische Regierung ebenso an den in Europa erprobten Konzepten der Abschottungspolitik. Vor dem Hintergrund der xenophoben, also fremdenfeindlichen Gewalt in Südafrika ist zu fragen, ob die Regierung diese indirekt mit verantwortet, weil sie kaum Hilfen für die Flüchtlinge bereit hält.

Gegen diese Politik des Ausschlusses regt sich innerhalb und außerhalb des Bezugsrahmens des ANC zunehmend Widerstand in Südafrika. Neue soziale Bewegungen kämpfen für gesellschaftliche Teilhabe:

Die ANC-Regierung begegnet diesen Protesten mit einer Mischung aus Vereinnahmung und Repression. Gleichzeitig bietet die Verfassung und die politische Struktur Südafrikas immer noch genug Spielräume für eine lebendige und engagierte Zivilgesellschaft.

• Der Treatment Action Campaign gelang es, ein Umdenken in der Gesundheitspolitik vor allem zu HIV/AIDS herbei zu führen und durch öffentliche Protest und eine bessere Versorgung mit Medikamenten zu erstreiten. Dass die ANC Regierung heute offensiv mit der HIV-AIDS Herausforderung umgeht und einen sehr weitreichenden Entwurf für ein nationales Krankenversicherungssystem vorgelegt hat, ist auch ein Erfolg dieser Kampagne.

• Von lokalen Gemeinden getragene Sozialproteste (Service Delivery Protests) kämpfen für das Recht auf den Zugang zu Strom, Wasser und lebenswürdiger Unterbringung und kommt auf lokaler Ebene immer wieder Verbesserungen durchsetzen. Einige dieser Proteste entwickeln sich zu xenophoben, also fremdenfeindlichen Ausschreitungen oder werden für lokale und innerparteiliche politische Machtkämpfe instrumentalisiert. In einer Studie, an der Adèle Kirsten, eine unserer heutigen Referentinnen maßgeblich beteiligt war, wird der Zusammenhang von lokalen Protesten und xenophober Gewalt analysiert, die Bezüge zur Geschichte des Anti-Apartheidkampfes und die Ambivalenz zwischen emanzipatorischen Ansprüchen einer aufständischen Zivilgesellschaft und der Entwicklung neuer Herrschafts- und Gewaltstrukturen. In ihrem Input gibt sie über dieses Spannungsverhältnis Auskunft.

• Eine weitere wichtige öffentliche Stimme ist Khulumani, die mit über 60.000 Mitgliedern größte Selbsthilfeorganisation von Überlebenden der Apartheid, streitet in der Öffentlichkeit für die Sichtbarkeit der Überlebenden, für Entschädigung und eine gerechte Gesellschaft. Diejenigen Menschen, deren Würde von der Apartheid beschädigt wurde, werden von Khulumani begleitet, von Opfern zu aktiven Bürgerinnen und Bürgern Südafrikas zu werden. Tshepo Madlingozi von Khulumani gehört zu der ersten Generation derjenigen, die in der Postapartheidära aufgewachsen sind und wird aus seiner Perspektive über die Transformationsprozesse im Land Auskunft geben.

Die Politik von Spaltung und Ausgrenzung macht es auch für die die vormalige Solidaritätsbewegung nicht leicht, heute Orte der Solidarität auszumachen.

Literatur:

• Jens-Erik Ambacher und Romin Khan: Südafrika – Nach der Apartheid: Die Grenzen der Befreiung. Berlin 2010

• Friedrich Ebert Stiftung (Axel Schmidt): Zuma sorgt für Burgfrieden im ANC. Johannesburg 2010.

• Richard Pitthouse: Eine Vuvuzela für den ANC. Afrika Süd 3/2012

"The smoke that calls" – Insurgent citizenship, collective violence and the struggle for a place in the new South Africa, www.csvr.org.za 2011 (PDF)

• Renate Wilke-Launer (Hrsg.): Südafrika: Katerstimmung am Kap. Frankfurt 2010

Die Zeit: Eine Kerze für den ANC

Veröffentlicht am 17. Oktober 2012

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