Indien

Tsunami, kein Thema mehr?

Versuche, den Fortgang der Katastrophe zu überleben

von Thomas Seibert

Nachdem das südasiatische Seebeben über Wochen die internationale Öffentlichkeit beherrschte, verschwanden die Bilder der Verwüstung fast von einem Tag zum andern aus den Medien. Manche Zeitung nimmt auf Seite Drei hin und wieder Spätfolgen der Flut in den Blick und die Bundesregierung machte noch einmal Schlagzeilen, weil sie von den 500 Millionen Euro, die sie im Hilfsboom der ersten Tage versprochen hatte, gerade eben fünf Prozent, nämlich 25 Millionen, der Zivilgesellschaft zur Verfügung stellt. Unterdessen spült der in Indien einsetzende Monsunregen den Zehntausenden in den eilends errichteten Lagern buchstäblich den Boden unter den Füßen weg, lässt nicht wenige der medienwirksam eingeweihten "Übergangsquartiere" im Schlamm versinken.

Dramatische Situation in Übergangslagern

Während sich die Medien anderen Dingen zuwenden, sind Betroffene und Helfer, aber auch Regierung und Verwaltung gerade jetzt auf Information angewiesen. Deshalb unterstützt medico den "Tsunami-Response-Watch" des Internetprojekts www.indiadisasters.org. Dessen Website berichtet fortlaufend aus den vom Tsunami betroffenen Ländern. Dokumentiert werden dort auch die Ergebnisse eines "People's Tribunal", zu dem im Mai über 250 Tsunami-Überlebende aus Kerala, Tamil Nadu und Pondicherry, Experten aus Politik und Hilfe sowie Aktivisten der Zivilgesellschaft zusammenkamen.

Nach zweitägigen Anhörungen beschloss das Tribunal, sich wegen vielfacher Diskriminierungen in der Hilfe wie in der Entschädigung und fehlender politischer Anerkennung direkt an den indischen Präsidenten und die Menschenrechtskommission zu wenden. "Wenn wir auch Katastrophen nicht verhindern können, so müssen wir doch dem Elend Einhalt gebieten", sagte Prof. Parasuraman, der Direktor des Tata Instituts für Sozialwissenschaften aus Mumbai. "Die Übergangslager sind wie Hochöfen, in denen die Menschen bei lebendigem Leib geröstet werden", ergänzte die 22jährige Thamara aus Azheekal, und beklagte besonders die Not der Frauen und Kinder: "Weil wir keine Möglichkeit haben, uns geschützt zurückzuziehen, wird uns der Aufenthalt dort zur furchtbaren Last." Justice H. Suresh, früher Richter des Obersten Gerichtshofs von Mumbai, erklärte: "Die Krankheiten nehmen rasant zu, jetzt schon leiden die Menschen überall an Krätze, Durchfall und Bindehautentzündung. Wird nicht bald gehandelt, wird eine Welle von Epidemien schließlich Menschenleben fordern." Auch Dr. Mohini Giri, frühere Vorsitzende der Nationalen Frauenkommission, verwies auf die besondere Gefährdung der Frauen und Kinder: "Wir sitzen auf einer Zeitbombe."

Neben den Betroffenen schilderten zwölf Experten dem Tribunal die sich dramatisch zuspitzende Lage. Dabei forderte Dr. Unnikrishnan vom People's Health Movement (PHM) noch einmal ein Frühwarnsystem und schlug vor, schon die Kinder in der Grundschule praktisch auf Katastrophen wie den Tsunami vorzubereiten: "Wir haben jetzt die Chance, künftig besser vorbereitet zu sein. Wir brauchen umfassende Programme, wie sie sich etwa auf Kuba schon seit Jahren bewährt haben."

Rehabilitation plus

Gerade wegen solcher Erfahrungen möchte der indische medico-Projektpartner CARDS nicht einfach nur den Zustand vor dem Seebeben wiederherstellen. Die Organisation, die sich im indischen Bundesstaat Andra Pradesh seit den 70er Jahren der ländlichen Gemeindeentwicklung verschrieben hat, errichtet derzeit in den vom Tsunami betroffenen Dörfern an der Küste mit finanzieller Unterstützung von medico Gesundheitszentren. Der Ansatz der Zentren geht weit über die klassische medizinische Minimalversorgung hinaus. Arbeiten werden dort Krankenpfleger, aber auch Studenten des Krankenpflegecolleges, das CARDS in der nahegelegenen Stadt Guntur unterhält. Sie kümmern sich um einfache, doch weitverbreitete Krankheiten ebenso wie um eine breitgefächerte Gesundheitsaufklärung und -vorsorge. Alle zwei Wochen wird ein "Health Camp" veranstaltet, an dem auch Ärzte teilnehmen. Darüber hinaus beherbergen die Zentren Vorschulkindergärten ("Balwadis") und dienen als Schutzraum gegen Unwetter wie Zyklone, von denen die Gegend immer wieder heimgesucht wird.

CARDS hat zudem ein auf die Bedingungen der Dörfer zugeschnittenes Katastrophenschutzprogramm entwickelt. Gemeinsam mit den Dorfbewohnern werden Workshops durchgeführt, die sich mit Verhaltensmaßregeln im Katastrophenfall beschäftigen. So entstand die Idee der Schutzräume, in die zuerst die gebracht werden sollen, die sonst den Naturgewalten schutzlos ausgeliefert bleiben: alte Menschen, Kranke und Kinder. Außerdem werden für alle Zentren Amateurfunkgeräte angeschafft, damit eingehende Frühwarnungen überhaupt an die besonders schlecht mit Kommunikationsmitteln ausgestatteten Dörfer weitergegeben werden können. Denn in den Dörfern, in denen CARDS tätig ist, leben Dalits, die "Unberührbaren". Neben den indischen Ureinwohnern gehören sie zur marginalisiertesten Bevölkerungsgruppe, die auch im Tsunami-Kontext die geringste Unterstützung erhalten hat. Der Tsunami allerdings erwies sich für sie als eine Katastrophe unter vielen. Denn nicht nur in Andra Pradesh müssen sie zu Hungerlöhnen und unter extrem schädlichen Gesundheitsbedingungen in der Chili-, Baumwoll- und Kalkproduktion arbeiten. Deshalb organisiert CARDS nicht nur Gesundheitszentren, sondern setzt sich auch für bessere Lebensbedingungen in Land- und Siedlungsprojekten und für die Rechte der Dalits ein.

Veröffentlicht am 19. August 2005

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