Transkontinentale Vernetzung

20 Jahre psychosoziale Praxis bei medico international

Der Stand der Dinge

Wie wirken sich politische und soziale Gewalt auf die Gesundheit von Menschen aus? Welche Folgen haben Kriege im Kontext von extremer Armut und sozialer Ausgrenzung? Wie bewältigen Individuen und Gesellschaften diese Erfahrungen? Solche Fragen stellen sich der Hilfe in einem gewaltgeprägten Kontext, die mit komplexen Folgeproblemen auf der politischen, ökonomischen, sozialen und individuellen Ebene zu tun hat. Diagnosen, die einer kriegsbetroffenen Bevölkerung einen hohen Prozentsatz an posttraumatischen Störungen und anderen psychischen Gesundheitsproblemen attestiert (1), gewannen ab Mitte der 90er Jahre an Einfluss und hatten zahlreiche Trauma-Hilfsprogramme zur Folge. Populär wurden kurzfristige Interventionen in Form von "Debriefing" (stark strukturierte Gespräche über traumatische Erfahrungen, die so früh wie möglich stattfinden sollen) und ähnliche Methoden, die die "Chronifizierung" von Traumatisierungen in Post-Konflikt-Regionen verhindern sollten.

In den letzten Jahren sind jedoch zahlreiche praktische, theoretische wie politische Einwände gegen solche Ansätze formuliert worden. Kritisiert wird, dass soziale Gewalterfahrungen auf der Basis der Konstruktion einer "posttraumatischen Belastungsstörung" pathologisiert und Interventionen medikalisiert werden.(2) Selbst die WHO sah sich gezwungen, eindeutig Stellung gegen Debriefing-Methoden zu beziehen: "Umfangreiche aktuelle Befunde sprechen deutlich gegen ein pauschales Angebot von isolierten psychologischen Debriefing-Sitzungen, das Menschen dazu drängt, ihre persönlichen Erfahrungen über das Maß hinaus mitzuteilen, das ihren natürlichen Neigungen entsprechen würde".(3)

Hinzu kam die Kritik an der Notwendigkeit eines Interventionsbedarfs. Traumatische Erfahrungen bedeuten nicht automatisch, traumatisiert zu sein. Insbesondere bedeutet es nicht zwangsläufig, hilfsbedürftig zu sein und professionelle (externe) Unterstützung zu benötigen. Pupavac (4) bezeichnet ein solches Bestreben als "therapeutic governance", das Menschen nicht als selbstagierende, soziale und politische Subjekte sieht, sondern als "vulnerable" Personen, die des Schutzes anderer bedürfen, die in Gestalt von Psychologen und Helfern auftauchen. In dieser Form kann Therapie zur Disziplinierungsmaßnahme im Kontext eines sozialen Risikomanagements werden, die mit ihrer Arbeit Wut und Hass "wegtherapieren" soll. Darüber hinaus ist die Bewältigung von sozialen Gewalterfahrungen ganz zentral von kulturellen und gesellschaftlichen Sinnkonstruktionen abhängig. Es ist irreführend zu glauben, dass weltweit ähnliche Phänomene auch überall dasselbe bedeuten. Vorstellungen über die Natur des Menschen, über den Ort von Krankheit, den Begriff von Zeit und Erinnerung oder den Ort moralischer Autorität sind keineswegs universell. Nur im Kontext ist die Kategorie "Trauma" begreifbar. Heilung ist häufig weniger ein individueller als ein sozialer, ökonomischer und kultureller Prozess des praktischen Wiederaufbaus, der öffentlichen Diskussion und Sinngebung. Das Wohlbefinden (oder Leiden) von Gewaltüberlebenden scheint wesentlich von ihrer Fähigkeit und Möglichkeit abhängig zu sein, soziale Netze und stabile Lebensbedingungen wiederherzustellen.(5)

2005 konstatierte die WHO einen wachsenden Konsens unter Fachleuten über "Psychische und soziale Gesundheit nach Katastrophen in ressourcenarmen Ländern": Sinnvoll seien Prinzipien der "psychologischen ersten Hilfe", die nicht-bedrängende emotionale Unterstützung umfasst, die Versorgung der Grundbedürfnisse, Schutz vor weiterer Verletzung und die Organisation von sozialer Unterstützung und von Netzwerken. Langfristig plädieren die Autoren für soziale Interventionen und die Integration von spezifischen Trauma-orientierten Hilfsangeboten in die öffentliche psychosoziale Versorgung.(6) Dieser Konsens im Umgang mit den Auswirkungen von Katastrophen und Gewalt, der den sozialen Charakter solcher traumatischen Erfahrungen akzeptiert, spiegelt sich auch in verschiedenen Guidelines und Standards wieder, die zuletzt für Interventionen nach dem Tsunami formuliert wurden.(7)

Die Realität von psychischem Leid politisieren

So hilfreich ein professioneller Konsens in der Praxis auch sein kann, beunruhigend ist die Akzeptanz von Trauma und psychischem Leid als relevantem Gesundheitsproblem. Die Professionalisierung und Standardisierung im Umgang mit den Auswirkungen von Gewalt läuft Gefahr, den Schrecken über diese Realität zu verdrängen. Wenn sie das Ausmaß solcher Erfahrungen nicht mehr skandalisiert, trägt sie dazu bei, Ursachen und Kontext des Traumas zu entpolitisieren. Engagierte Hilfe für Gewaltüberlebende sollte den Widerspruch zwischen Hilfe und Prävention stets virulent halten und auf die Grenzen und die Ohnmacht der Hilfe hinweisen. Eine Professionalität, die psychisches Leid nicht in Bezug zu seinen sozialen, politischen und ökonomischen Ursachen setzt, läuft Gefahr, eine solche "Resilience" (Widerstandsfähigkeit) ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken, die auf Anpassung und Überlebensfähigkeit von Menschen an traumatisierende Verhältnisse und nicht die Verhinderung von Zerstörung ausgerichtet ist. Engagierte HiIfe muss nach Ursachen und politischer Verantwortung fragen und sich in Unrechtsverhältnisse einmischen. Jedoch mit einer Haltung, die viele verschiedene soziale Erfahrungen und Sichtweisen zulässt und keine fertigen Antworten behauptet. Die Geschichte der psychosozialen Arbeit bei medico international spiegelt solche Suchbewegungen, die von zeitgeschichtlichen Diskursen und Experimenten geprägt sind. Sie nähern sich den aufgeworfenen Fragen an, indem sie sich selbst und die eigenen Kategorien und Praxen immer wieder reflektieren.

Transkontinentale Verflechtungen – die eigene Geschichte verstehen

"Weil es zueinandergehört, die Menschen sowohl aus materieller als auch psychischer Not zu befreien – von Anfang an" – so hat medico Mitte der 1980 er Jahre die erste Unterstützung von psychosozialer Arbeit, von "Salud Mental" in Nicaragua begründet. Vor dem Hintergrund des revolutionären Versuches eines kleinen mittelamerikanischen Landes, das viele internationale Sympathien und noch mehr Projektionen auslöste, hat das "Équipo Internacionalista Marie Langer" versucht, beim Aufbau eines menschengerechten Gesundheitswesens mitzuarbeiten. Marie Langer, eine Wiener Psychoanalytikerin, die als Kommunistin und Jüdin vor den Nazis nach Argentinien floh und von dort vor der Diktatur nach Mexiko (8), war die Leiterin einer international zusammengesetzten Ausbildungsgruppe. Gemeinsam mit nicaraguanischen Ärzten und Gesundheitsarbeitern reformierten sie die nicaraguanische Psychiatrie und integrierten ein Verständnis von psychischer Gesundheit und Krankheit in die Basisgesundheitsversorgung.

Das Team aus Psychoanalytikern und Sozialpsychologen arbeitete unentgeltlich aus Solidarität. medico finanzierte Material- und Fahrtkosten, weil die meisten der Ausbilder in Mexiko lebten. Ihr theoretisches Selbstverständnis definierte die Gruppe so: "Für die Betrachtung des Individuums in der Familiengemeinschaft legen wir die Kenntnisse der psychoanalytischen Theorie zugrunde, für die Betrachtung der Beziehung innerhalb der Familie den systemischen Ansatz und für die Eingliederung der Familie in die Gesellschaft den marxistischen." In diesem Prozess entwickelten sie einen neuen Ansatz von "Salud Mental Communitaria", der die Subjekte bei der Veränderung und Verarbeitung ihrer Lebensbedingungen unterstützen will und ihnen hilft, sich bewusst mit den Folgen des Krieges und der vorangegangenen Repression auseinander zu setzen. Sie schafften die geschlossene Psychiatrie mit Elektroschocks u.ä. ab, errichteten gemeindenahe psychosoziale Tageskliniken, entwickelten Ausbildungskurse für Basisgesundheitsarbeiter und organisierten Balintgruppen zu deren Unterstützung. "Salud Mental Communitaria ist kein Massentherapieprogramm. Es geht vor allem darum, soziale Unterstützungsnetze zu stabilisieren und Solidarität zu stärken. In einem zweiten Schritt muss vermieden werden, dass Verelendung chronisch wird, dass Menschen nicht völlig passiv werden. In Gruppen wird das Thema Passivität / Aktivität aufgegriffen. Leute müssen wieder Protagonisten ihrer Entscheidungen werden. Erst ganz zuletzt, wenn Leute von diesen Strukturen nicht mehr aufgefangen werden können, kann es sinnvoll sein, im engeren Sinne therapeutisch die traumatischen Erfahrungen zu behandeln," erklärte Leticia Cufré aus dem Team das Public Health Modell ihres Ansatzes in einem medico Interview.(9)

Salud Mental Communitaria

Marie Langer wurde zum Symbol einer "Psychoanalyse im Dienste des Volkes", wie eine von medico mit herausgegebene Publikation 1988 über Salud Mental in Nicaragua betitelt war. Verwunderung und Skepsis begegneten damals der psychosozialen Arbeit in einem von Krieg und Armut bedrohten Land. "Gibt es in dem objektiv bedrohten Nicaragua nichts wichtigeres zu tun, als die Menschen auf die Couch zu legen?" war der Kommentar eines deutschen Magazins angesichts einer Rundreise von Marie Langer, die medico organisierte. Die Abwahl der Sandinisten in Nicaragua 1990 im Kontext der weltpolitischen Veränderungen und bedingt durch die Zermürbung in einem langen Krieg veränderte die Rahmenbedingungen in Nicaragua derart, dass sich die Arbeit des "Equipos" nicht mehr lange fortsetzen ließ. Sichtbar wurden dabei auch einige ideologische Projektionen der Internationalisten, die die Sandinisten idealisierten und nicht ganz vor einer Instrumentalisierung der psychosozialen Arbeit gefeit waren. So zeigt sich zum Beispiel die Behandlung von kriegstraumatisierten Soldaten ambivalent. Ihre Leiden wurden zwar in Gruppensitzungen behandelt und nicht jeder wurde wieder an die Front zurückgeschickt. Aber die Interpretationen des supervidierenden Teams spiegelten manchmal mehr die Bedürfnisse der Revolution als die der "Klienten": "Der nervöse Zusammenbruch entspricht einem Riss der Beziehung zu den bisher idealisierten Figuren der Vorgesetzten, die das sandinistische Heer verkörpern und damit auch die Identifizierung mit den Kameraden. Aber gerade diese Art therapeutische Gruppe bietet ein geeignetes Terrain, um die libidinöse Bindung zu den Genossen durch die verschiedenen, in der Gruppe auftauchenden Identifizierungen wiederherstellen zu können."(10) Trotz des Scheiterns der sandinistischen Revolution und selbstkritischer Auseinandersetzungen blieben die Ideen der Salud Mental Communitaria lebendig und verbreiteten sich in viele andere Länder Lateinamerikas. "Wir arbeiteten in Guatemala, El Salvador und Chiapas, Paty brachte es bis Frankreich, Alicia nach Buenos Aires. Aber wenn wir uns wiedergetroffen haben, merkten wir, dass wir noch ähnliche Gedanken haben, an ähnlichen "Linien" arbeiteten, auch wenn wir sie jeweils in eine spezifische Richtung weiterentwickelt haben. Wir sind in Kontakt geblieben, beraten uns heute noch gegenseitig."(11)

Hilfe für Folteropfer - Therapie und Menschenrechte

Mitte der 80 er Jahre hatte medico ebenfalls begonnen, psychosoziale Arbeit mit Folteropfern in Chile zu unterstützen, die nach der Haft massive Beschwerden hatten. Dabei ging es im Wesentlichen um Einzelfallhilfe in einem eher klandestinen Kontext, war die Zerschlagung von sozialen Zusammenhängen und Solidarität ja gerade Ziel der Repression. Der zunehmend kritische Blick auf die Komplexität traumatischer Störungen und Behandlungsmöglichkeiten führte dazu, dass medico das geförderte Projekt einer Evaluierung unterzog. Dabei erwies sich vor allem eine traditionell diagnostische Orientierung als Problem, die sich stärker an Symptomen als an einer Situationsanalyse anlehnte und eher medizinisch pharmakologisch behandelte. "Auch wenn im Rahmen der Denunzierung von Verbrechen dem Team sehr klar ist, wie wichtig die repressive Erfahrung ist. Im Rahmen der Annäherung an die Pathologie behalten sie eine Trennung zwischen beiden Aspekten bei, was im schlimmsten Fall eine erneute Dekontextualisierung der beobachteten Störung bedeuten könnte," heißt es in dem Gutachten (12). "Die Fälle von Extremtraumatisierung, in denen die Traumatisierung Produkt einer ganz speziellen soziopolitischen Situation ist, erfordern ein Verständnis des Subjekts, wo in der Diagnostik ebenso wie im Verständnis der Pathologie, ebenso wie in der Behandlung der soziopolitische Aspekt und der persönliche Aspekt miteinander integriert werden müssen. Wenn dies nicht stattfindet, was unserer Ansicht nach im Projekt momentan passiert, besteht das große Risiko, dem Patienten nicht wirklich zu helfen."

Das Gutachten wurde vom Team der chilenischen Organisation ILAS erstellt, das in der Folge seine kritische Position symptomorientierten Konzepten (wie dem PTSD) gegenüber explizit ausarbeitete. Selbst praktisch in der therapeutischen Arbeit mit Opfern der Diktatur tätig, entwickelten sie neue Standpunkte und Methoden der psychoanalytischen Arbeit mit Folteropfern. Sie kritisierten ausführlich das Konzept der Posttraumatischen Belastungsstörungen (PTSD), das in den USA nach der Erfahrung mit Leiden von Vietnamveteranen entstanden war, als ungeeignet für die Arbeit mit politisch Verfolgten. Medico unterstützte die Arbeit von ILAS und machte die Kritik durch Rundreisen mit ILAS-Vertretern und Publikationen bekannt. Gleichzeitig förderte medico ein neu entstandenes Netzwerk psychosozialer Organisationen in Lateinamerika, das sich mit Salud Mental und Menschenrechten beschäftigte und sich über Konzepte austauschte. Es stärkte die Kompetenz und Konzeptentwicklung innerhalb Lateinamerikas, machte aber auch Unterschiede in den verschiedenen Regionen deutlich. In einer vergleichenden Studie über Jugendliche in El Salvador, Guatemala, Chile und Argentinien, die das Netzwerk durchführte, zeigten sich vor allem in Guatemala die Grenzen von psychotherapeutischen Ansätzen und psychoanalytischem Denken. Die Bedeutung, die die Kultur der Maya auf das Selbstverständnis sozialer Beziehungen und Identität hat, machte deutlich, dass der Blick auf kulturelle Fragen der psychosozialen Arbeit gelenkt werden muss: auf Familienstrukturen, Deutungsebenen, die Rolle traditioneller Kollektive und spiritueller Verarbeitungsformen. Hinzu kam der spezifische Charakter der guatemaltekischen Repression, die sich nicht (nur) gegen politische Gegner richtete, sondern gegen die Existenz und kulturelle Identität der gesamten Maya Gemeinschaft, die kollektiv als potentielle Unterstützer der Befreiungsbewegung betrachtet wurden. Aufgrund von Exil-Erfahrungen in Nicaragua hatten die Ideen der Salud Mental Comunitaria Einfluß in der sozialen Gemeindearbeit in Guatemala gewonnen, die sich als Teil des Widerstands gegen die Diktatur verstand, und sie entwickelten das Konzept entlang der kulturellen Fragen weiter.

Politische und soziale Gewalt im rassistischen Kontext

Parallel zu den lateinamerikanischen Auseinandersetzungen über psychosoziale Arbeit mit politisch Traumatisierten hatte auch die südafrikanische Apartheidopposition Mitte der 80 er Jahre nach Hilfsangeboten gesucht, die Opfern von Folter und politischer Gewalt noch während des Widerstands helfen könnten. Im Rahmen eines medizinischen Notdienstes von oppositionellen Gesundheitsarbeitern während der Demonstrationen und Unruhen, den medico unterstützte, organisierten kritische Psychologen Unterstützungsangebote für Haftentlassene und schwer Traumatisierte. Aufgrund der Apartheidpolitik waren Psychologen in Südafrika fast ausschließlich Weiße, die räumlich getrennt von den zumeist schwarzen Gewaltopfern lebten. Zusätzlich erschwert durch massive Polizei- und Militäreinsätze konnten keine regelmäßigen Einzel- oder Gruppengespräche stattfinden, so dass sich die psychosoziale Unterstützung neben medizinischer und juristischer Hilfe oft auf ein einmaliges Gespräch konzentrieren musste.

Dem Wunsch nach Helfen stand jedoch die konzeptionelle Hilflosigkeit in der Praxis gegenüber, die weiße Psychologen mit der sozialen Erfahrung von Ausgrenzung, Unterdrückung und Gewalt von Schwarzen hatten und die die psychosoziale Arbeit in den Anfangsjahren prägte. Sie drückte sich auf vielen Ebenen aus: trotz radikaler Politisierung mangelnde Selbstreflektion, Fixierung auf klinische individualtherapeutische Konzepte, unbewusste Identifizierung mit der Täterperspektive. Nicht wenige Betroffene standen dem Hilfsangebot misstrauisch gegenüber und fühlten sich erneut in eine Objektposition gedrängt. Dabei spielte im südafrikanischen Widerstand psychoanalytisches Denken keine Rolle, war es dort ausschließlich als konservative Methode für "weiße Luxusprobleme" bekannt. Viel einflussreicher waren Ideen der Black Consciousness Bewegung eines Steve Biko, die antikolonialen und sozialpsychologischen Schriften von Frantz Fanon oder die Ideen und das Menschenbild von Paulo Freire (13). Im Mittelpunkt stand die Kritik an psychologischen Theorien als Herrschaftswissen und Legitimation von Apartheid und weißem Herrenmenschendenken (14). In den schwarzen Townships entwickelten sich kollektiv und spirituell geprägte Formen der psychosozialen Unterstützung bei der Verarbeitung von Gewalterfahrungen, die häufig von Kirchen und Menschenrechtsorganisationen getragen wurden. medico unterstützte Tagungen und Veröffentlichungen zu diesem Thema und förderte Ende der 80 er Jahre auch den Anfang des "Project for the Study of Violence" (heute das "Center for the Study of Violence and Reconciliation" CSVR), mit dem einige der engagierten weißen Psychologen begannen, psychologische Analyse auf die soziale Gewalt zu richten und politisch einzusetzen. Parallel dazu eröffneten sie eine "Traumaklinik", in der sie systematischer und selbstkritischer angemessene Hilfsangebote entwickeln wollten, konnten sich aber von klinischen Konzepten nicht ganz frei machen.

Die massiven bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen Anfang der 90 er Jahre, die den Verhandlungsprozess begleiteten, ließen erneut die Suche nach Interventions- und Hilfsangeboten in den Townships zum Thema werden. In Imbali bei Pietermaritzburg entwickelte eine Sozialarbeiterin und Gemeindeaktivisten ein erstes Rehabilitationsprogramm für Jugendliche, nachdem die offene Gewalt gestoppt werden konnte. Musik und Theater standen methodisch im Mittelpunkt des "Rehab"-Projekts, das von medico unterstützt wurde. Gleichzeitig suchte das Projekt nach Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen für die Jugendlichen im Rahmen von Wiederaufbauaktivitäten. Politische Turbulenzen beendeten das Projekt, doch die Projektgründerin brachte ihre Erfahrungen in den Anfangsjahren bei Sinani ein, dem KwaZulu-Nata Programme for Survivors of Violence. Die Abschaffung der Apartheid 1994 und die Wahl einer demokratischen Regierung machten den Umgang mit den Gewalterfahrungen während der Apartheid zu einem nationalen Thema. Die Wahrheits- und Versöhnungskommission wurde eingerichtet und begann 1996 ihre Arbeit.(15) In ihrem Kontext entstanden zahlreiche Projekte der Traumaverarbeitung, aber auch Selbsthilfegruppen der Betroffenen. medico unterstützte Khulumani Support Group, die Organisation der Apartheidopfer, die vor der Wahrheitskommission aussagten. Sie wurden vom CSVR begleitet, das die Khulumani Fieldworker therapeutisch unterstützte und sie für die Gruppenarbeit ausbildete. So wichtig dies auch war, für die Opfergruppen standen ihre existentiellen Sorgen und der Wunsch nach ausgleichender Gerechtigkeit häufig im Vordergrund. Sie organisierten Kampagnen zur Entschädigung und forderten die Aufklärung über den Verbleib von verschwundenen Angehörigen. 2003 reichten sie vor einem US-Gericht Klage ein gegen internationale Banken und Unternehmen, die von der Apartheid profitierten. Zusammen mit anderen Initiativen organisierte medico eine internationale Unterstützungskampagne für die Forderungen der Opfer nach Entschädigung.

Schnelle Eingreiftruppe Seele

Weltweit begann in den 90 er Jahren die Diskussion um die Auswirkungen traumatischer Erfahrungen und das Wachsen von Traumaprojekten, das sich zum Beispiel in Bosnien zu einem wahren Boom entwickelte. Vor dem Hintergrund des Jugoslawienkrieges und des Völkermords in Ruanda hatte sich die Sensibilisierung gegenüber den subjektiven Folgen von Gewalterfahrungen erhöht, gleichzeitig aber auch die (medienwirksame) Instrumentalisierung der Betroffenen. Themen wie Kindersoldaten weckten zum ersten Mal größere Aufmerksamkeit, besonders nach dem Ende des mosambikanischen Bürgerkriegs, in dem fast 10.000 Kinder zumeist zwangsrekrutiert gekämpft hatten. 1996 begann medico die Unterstützung eines psychosozialen Programms zur Reintegration von Kindersoldaten in Mosambik, das ein in Deutschland ausgebildeter mosambikanischer Psychologe leitete. Der Versuch, psychotherapeutische Ansätze und traditionelle Reinigungsrituale zu verbinden, erwies sich als schwierig, die Zielgruppe Kindersoldaten als noch viel schwieriger. Trotzdem wurden viele neue konzeptionelle Wege beschritten, einen integrativen Ansatz zu entwickeln, der auch die ökonomischen und identitätsbildenden Realitäten der ehemaligen Kombattanten nicht außer Acht lässt. Sie hatten sich während der Demobilisierung diskriminiert gefühlt, weil sie keine Eingliederungsbeihilfen bekamen, sondern "nach Hause" geschickt wurden. Für sie war der Frieden eine erneute traumatische Erfahrung. Die Arbeit in Mosambik machte die Herausforderungen von psychosozialer Arbeit in einem ländlichen Kontext Afrikas mit einer Zielgruppe deutlich, in dem herkömmliche Konzepte nicht greifen. Deutlich wurde, wie wichtig es ist, exakt den kulturellen, sozialen und politischen Kontext zu kennen, um Gewalt und ihre Auswirkungen zu verstehen und angemessene Hilfsangebote entwickeln zu können. Die Übertragbarkeit von Konzepten ist begrenzt. Jeder Kontext erfordert andere Maßnahmen. Hinzu kommt die extreme Belastung der Projektmitarbeiter in einem Kontext, der große Erwartungen weckt, aber wenig professionelle Ressourcen hat, die die Helfer unterstützen könnten. Während die Arbeit in Mosambik medico noch einmal mit diesen Einsichten konfrontierte, war im öffentlichen Diskurs zum Thema Trauma der umgekehrte Prozess entstanden: Das Konzept der posttraumatischen Belastungsstörungen (PTSD) hatte sich zum zentralen Begriff für Gewaltauswirkungen entwickelt. Daraus leiteten sich standardisierte klinische Kurzbehandlungen auf verschiedenen Ebenen ab, die auch Eingang in die Not- und Entwicklungshilfe fanden. Das führte zu einer völlig entpolitisierten Diskussion um Traumatisierungen in Ländern des Südens. Sie wurden nicht mehr in Bezug gesetzt zu den Ursachen der Gewalt, sondern nur noch als (individuelle) Störung wahrgenommen, deren Symptome mit flächendeckenden professionellen Programmen behandelt werden sollten. An verschiedenen Orten regte sich Kritik an diesem eindimensionalen Diskurs, der auf der Praxisebene psychosoziale Arbeit mit "quick impact"-Effekt forderte. 1997 publizierte medico einige der zentralen Kritiken unter dem Titel: "Schnelle Eingreiftruppe Seele", das in der Fachpresse häufig zitiert und diskutiert wurde. Ungefähr zeitgleich suchten angolanische Sozialarbeiter(innen) von CCF, die mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen (darunter auch ehemalige Kindersoldaten) arbeiteten, nach anderen Konzepten jenseits des PTSD, das sie für ihre Praxis als völlig unzureichend empfanden. Angeregt durch die differenzierte und scharfe Kritik am PTSD-Konzept von ILAS begannen sie mit Unterstützung von medico einen Austausch mit den chilenischen Therapeuten, aus dem sich ein mehrjähriges Supervisions- und Fortbildungsprogramm entwickelte. Der Austausch wurde zu einem Selbsterfahrungsprozess sowohl der Angolanerinnen als auch der Chileninnen. Und er bestärkte die Angolanerinnen, nach eigenen Konzepten zu suchen, die spezifisch auf ihren Kontext bezogen sind.

Loyalität und Verrat

Die 1990 er Jahre standen auch unter dem Zeichen der radikalen Aufarbeitung linker Befreiungsmythen und Projektionen. Als 1990 eine Gruppe von freigelassenen Häftlingen an die Öffentlichkeit trat, die von der namibischen Befreiungsbewegung SWAPO unter unmenschlichen Bedingungen in Erdlöchern gefangen gehalten worden waren, entstand nicht nur eine heftige Diskussion über die Haftbedingungen, sondern auch über den stalinistischen Umgang von Befreiungsbewegungen mit internen Kritikern und vermeintlichen Feinden. Unter dem Schock der Berichte schrieb medico eine Protestnote an die SWAPO und erfuhr dafür viel Ablehnung aber auch Anerkennung innerhalb der Solidaritätsbewegung in Deutschland. In der Folge entstand Kontakt zu den Ex-Gefangenen, die eine Selbsthilfegruppe gründeten. Die Auswirkungen der Gewalt, aber besonders die Erfahrung des Verrats durch die eigene Befreiungsbewegung – der man sich als loyales Mitglied mit dem Ziel der Befreiung Namibias angeschlossen hatte – hatten schwere traumatische Symptome zur Folge. Doch nicht Therapie, sondern öffentliche Anerkennung ihres Leids und das Unrechtseingeständnis der SWAPO, stand für die Betroffenen im Vordergrund. medico unterstützte öffentliche Filmvorführungen und Diskussionen und die Dokumentation von Zeitzeugenberichten auf Video. Doch der Kontakt mit der schwertraumatisierten Gruppe war nicht einfach. Auf ganz andere Weise setzte sich eine Gruppe von Ex-Kombattanten der südafrikanischen Befreiungsbewegung ANC mit ihrer Geschichte auseinander, die medico ebenfalls unterstützt. Nach dem Ende der Apartheid fanden sich die vormaligen Befreiungshelden als mittellose, vom Krieg gezeichnete Outsider wieder, mit denen das neue Südafrika nicht viel zu tun haben wollte. Sie gründeten eine Selbsthilfegruppe, um sich selbst in die Gesellschaft zu reintegrieren und wieder historische Subjekte zu werden. Exkursionen durch die Geschichte der Apartheid und des Widerstands am Beispiel ihrer Erfahrungen in Kapstadt für Touristen und Einheimische helfen ihnen dabei, sowohl eigene traumatische Erfahrungen zu bewältigen als auch Einkommen zu erwirtschaften. Gleichzeitig mischte sich das "Direct Action Centre for Peace and Memory" mit Gedenkveranstaltungen, öffentlichen Diskussionen, Gedichten und Texten in den offiziellen Diskurs über die Vergangenheit ein, der die fortgesetzte ökonomische Ausgrenzung und Verelendung der Mehrheit – die soziale Apartheid – nicht mehr mit der Geschichte in Verbindung bringen will.

Konzeptentwicklung und Vernetzung

Auf ähnliche Weise begann medico auch in anderen Regionen innovative psychosoziale Projektarbeit zu fördern. Im kurdischen Nordirak wurden die überlebenden Frauen der Anfal-Massaker unterstützt, in Libanon die kulturelle Auseinandersetzung mit dem Bürgerkrieg gefördert, sowie Arbeit mit palästinensischen Jugendlichen über ihre Flüchtlingsidentität. In El Salvador und Palästina organisierte die Schweizer medico-Schwester Psychodrama-Fortbildungen für psychosoziale Helfer. Auch die psychosoziale Hilfe für Flüchtlinge in Deutschland wurde in kritischen Phasen punktuell unterstützt und die Vernetzung der Zentren gefördert. 2000 organisierte medico eine große Tagung mit Vertreter(inne)n von 20 dieser psychosozialen Projekte aus Lateinamerika, Afrika und dem Nahen Osten, die eigene, spezifische Konzepte entwickelt hatten (16). Ziel war ein fachlicher Austausch über Konzepte und Herausforderungen, der gleichzeitig der deutschen Öffentlichkeit die Komplexität dieser Arbeit, die hohe Fachkompetenz der Mitarbeiter und das Niveau der Auseinandersetzungen zum Bewusstsein bringen sollte. Ein intensiver bereichernder Austausch begann, der einige wesentliche Grundprinzipien psychosozialer Arbeit bestätigte, ohne vom Prinzip des kontextspezifischen Vorgehens Abstand zu nehmen. Die Ergebnisse wurden in einer Dokumentation und einer mehrsprachigen CD-Rom festgehalten. In der Folge entwickelten sich Netzwerke zwischen den Beteiligten und weiterer regionaler Austausch.

In der Praxis waren zwischenzeitlich komplexe integrierte Programme entstanden, die sich den psychosozialen Herausforderungen von verschiedenen Seiten näherten. Sowohl in Guatemala (ECAP) und Nicaragua (El Tanque) als auch in Südafrika (Sinani) und Angola (CAPDC) hatte medico über viele Jahre die Entwicklung von gemeindeorientierten Ansätzen unterstützt, die neue konzeptionelle Wege bei der Integration von Traumabearbeitung, gesundheitlicher, sozialer und kultureller Rekonstruktion, politischer und juristischer "Aufarbeitung" und ökonomischer Entwicklung probierten. ECAP, die mit Überlebenden der Massaker aus den 80er Jahren arbeiten, betont die Realität der "Cosmovision" der Maya. Sie kann zu einer kulturellen Ressource bei der Bewältigung von Gewalterfahrungen werden, wenn sie sich ihrer ideologisch geprägten, repressiven Elemente bewusst wird. Rituale, Symbole und Metaphern der Mayakultur, die Ausdruck der 500-jährigen Geschichte der Unterdrückung und des Widerstands sind, können sich mit sozialpsychologischen Konzepten der Salud Mental Communitaria verbinden, wenn sie sich auf der Basis von Respekt, Gleichberechtigung und dem Ziel sozialer Gerechtigkeit, ökologischer Balance und Menschenwürde treffen. Das El Tanque-Projekt in Nicaragua, das die Wiederansiedlung von Hurricanopfern zum Ziel hat, begleitete den ganzen Prozess psychosozial. Angesichts der Folgen des Wirbelsturms, der nicht nur einen Erdrutsch, sondern die Erinnerung an viele traumatische Erfahrungen mit sich brachte, sprachen die psychosozialen Helfer von einem vielfach verwundeten, vielfach traumatisierten, vielfach trauernden Land. Sie begannen gemeinsam mit den Opfern ein "Inventar der Wunden" zu sammeln, die nie bearbeitet oder überwunden werden konnten, weil die schnelle Folge dramatischer Ereignisse keine Zeit dazu ließ. Sie überlegten Interventionsformen, die individuelles wie soziales Leid berücksichtigten. Sinani, das in den gewaltbetroffenen Gemeinden in KwaZulu-Natal arbeitet, hat Ansätze aus der systemischen Familientherapie und ökologischer Organisationsentwicklung in seiner Gemeindearbeit weiterentwickelt, die sich mit der Philosophie und dem Verständnis von Kollektivität im afrikanischen Konzept des Ubuntu ("Ich bin weil wir sind") treffen. Trauma bedeutet aus dieser Perspektive vor allem die Zersplitterung und Zerstörung des sozialen und spirituellen Beziehungsnetzes, das neu geknüpft werden muss. Neben Einkommen schaffenden Aktivitäten, die eine Anerkennung des Überlebensdiktats unter Elendsbedingungen sind, bietet Sinani Orte zur "persönlichen Entwicklung". Hier sind soziale Ressourcen und Subjektperspektive der Betroffenen der zentrale Ansatzpunkt. Auf diese Weise entsteht die Wiederherstellung von Beziehungen, das Zusammenfügen und Überwinden von Spaltungen. Das kann auch politische und ökonomische Entwicklungen ermöglichen.

CAPDC in Angola schließlich arbeitet mit Minenopfern, denen nicht nur eine Prothese verpasst, sondern auch Unterstützung für eine umfassende psychosoziale und ökonomische Rehabilitation angeboten wird. Dazu gehört auch die Minenaufklärung wie eine offensive Behindertenpolitik, die sich gegen Diskriminierung und Ausgrenzung wendet. Die Prinzipien der CAPDC-Arbeit finden sich in den Bad Honnef Richtlinien zum Minenaktionsprogramm wieder, die medico mitentwickelte und die inzwischen breite Akzeptanz bei Minenhilfsprogrammen gefunden haben.

Erfahrungen weitergeben

Allen innovativen, integrierten Programmen gemeinsam ist jedoch, dass im Alltag dieser schwierigen Arbeit wenig Zeit für Dokumentation und Reflektion bleibt. Gemeinsam mit solchen langjährigen Partnern begann medico, sich über die Systematisierung und Übertragbarkeit der Erfahrungen Gedanken zu machen. Erstes inhaltliches Ergebnis sind die Thesen zur psychosozialen Arbeit, die konzeptionelle Prinzipien zusammenfassen und zur Diskussion stellen. Ein praktisches Pilotprojekt zur Übertragbarkeit von Konzepten und Erfahrungen entstand 2004 im Rahmen einer "Süd-Süd" Fortbildung über gemeindeorientierte psychosoziale Arbeit in Sierra Leone. 30 sierra leonische Praktiker aus 23 verschiedenen Trägerorganisationen nahmen an einer von Sinani (aus Südafrika) veranstalteten Fortbildung teil. Dabei stellten sie ihren Arbeitsansatz, ihre konzeptionellen Überlegungen und ihr Material in einem partizipativen Prozess vor, um die Konzeptentwickung und Kapazität der Sierra Leoner zu unterstützen. Bei einer ersten Evaluierung zeigte sich ein großes positives Feedback der Teilnehmer. Die Fortbildung schien eine Dynamik zu erzeugen, die eine Kompetenzerweiterung, Stärkung und Vernetzung der sierra leonischen Fachleute auf dem psychosozialen Gebiet zur Folge hatte.

Herausforderungen

Eine solche Arbeit stellt hohe Ansprüche an Hilfswerke wie medico, die beständig die eigene Rolle und Unterstützungsform reflektieren müssen. Neue Gewaltformen im Schatten der Globalisierung, die eine "Diffusion kriegerischer Gewalt in "regulative" Gewalt zur Steuerung (wirtschafts-)krimineller transnationaler Netzwerke" (17) bedeuten, verursachen eine neue Form sozialer und individueller Zerstörung. Das erfordert veränderte Ansätze von engagierter Hilfe und politischer Einmischung. Für die weltweit wachsenden Zonen sozialer Marginalisierung werden Erfahrungen von Spaltung, Verrat, Missbrauch und Terror immer mehr zur Normalität. Sie sind konstitutive Bestandteile einer gewaltregulierten Gesellschaftlichkeit, die politisch nicht legitimiert ist. Psychosoziale Hilfe muss diese Zusammenhänge sichtbar machen und auch die eigene Rolle politisch reflektieren. Dazu gehört das Eintreten für öffentliche Kontrollmechanismen über Legitimität und Qualität der Hilfe.

Darüber hinaus braucht kritische psychosoziale Arbeit eine radikale Ethik der Gleichberechtigung, Transparenz, Wertschätzung, des Vertrauens und Respekts. Im Kontext von Globalisierung und neoliberaler Entstaatlichung stellt Identitätspolitik zunehmend den ideologischen Zusammenhalt von sozialen Gruppen her. Diese Identitätspolitik wird nicht zuletzt menschenrechtlich legitimiert. Wachsamkeit gegenüber jeglicher Art der Instrumentalisierung von Gewaltüberlebenden und Opferidentitäten ist wichtig, damit psychosoziale Hilfe selbst nicht eine weitere Erfahrung von Missbrauch und Verrat wird.

Die Frage nach dem Subjekt von Veränderungsprozessen heißt 20 Jahre später nicht mehr, die Menschen aus materieller und psychischer Not befreien", sondern bedeutet die Schaffung von Räumen und Möglichkeiten, die Menschen hilfreich sein könnten, sich selbst "zu befreien" bzw. eine andere Gesellschaftlichkeit herzustellen. Dies anerkennt die umfassenden Bedürfnisse von Menschen, integriert ökonomische, soziale, persönliche und kulturelle Interessen und überlässt es den Betroffenen, Schwerpunkte und Prioritäten zu setzen. Ob die Gradwanderung zwischen Intervention und Respekt vor dem Subjektstatus des Anderen gelingt, hängt nicht zuletzt davon ab, ob selbstreflexive Prozesse der Helfer institutionalisierte Orte haben, die für dialogische Konzepte und kreative Methoden offen sind.

Die Autorin

Usche Merk ist Diplom-Pädagogin und arbeitet als Projektkoordinatorin für psychosoziale Arbeit bei medico international


Fußnoten

  1. Z.B. Inger Agger, Psychosocial Projects under War Conditions, 1995, Joop de Jong et al, The Trauma of War in Sierra Leone, 2000
  2. Bracken/Petty (ed.) Rethinking the Trauma of War, 1998, Summerfield, D. A critique of seven assumptions behind psychological trauma programmes in war-affected areas, 1999, s.a. medico report 20 Schnelle Eingreiftruppe Seele 1997
  3. WHO Mental Health Department: Single-session Psychological Debriefing: Not Recommended
  4. Pupavac, V., Therapeutic governance: Psycho-social intervention and trauma risk management, 2001, Psycho-social interventions and the demoralization of humanitarianism, 2004
  5. s.a. Almedom,A. (ed.), Mental well-being in settings of "complex emergency", 2004
  6. van Ommeren et al. Mental and social health during and after acute emergencies: emerging consensus? Bulletin of the WHO Jan 2005,83 (1)
  7. WHO Guidelines Mental Health in Emergencies 2003, Psychosocial Response to the Tsunami Crisis www.humanitariansrilanka.org/Pages/tsunami_PS.htm , Sphere "Minimum Standards in Health Services"
  8. Marie Langer Von Wien bis Managua: Wege einer Psychoanalytikerin 1986
  9. medico Interview Leticia Cufre 1999
  10. Rundbrief 8/1987
  11. a.a.O.
  12. Gutachten 1988
  13. z.B. Steve Biko, I write what I like, 1978, Frantz Fanon, Schwarze Haut, weiße Masken, 1980, Paulo Freire, Pädagogik der Unterdrückten, 1970
  14. Mental Health: Struggle and Transformation, OASSSA 1988, L.Nicholas/S.Cooper (ed) Psychology and Apartheid 1990, L.Nicolas (ed) Psychology and Oppression 1993
  15. s.a. medico report 21: Der Preis der Versöhnung – Südafrikas Auseinandersetzung mit der Wahrheitskommission, 1998
  16. medico report 23:Die Gewalt überleben – Psychosoziale Arbeit im Kontext von Krieg, Diktatur und Armut, 2001
  17. Peter Lock, Veränderte Gewaltformen im Schatten der Globalisierung, W+F 2003

Dieser Text erschien im medico-Report 26, Im Innern der Globalisierung, medico international 2005

Veröffentlicht am 17. April 2005

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