(Schau-)Spielerische Kritik

Premiere im Freiheitstheater Jenin

Die israelische Tageszeitung Haaretz berichtet über die Premiere von Orwells „Farm der Tiere“ im Flüchtlingslager Jenin. Wir dokumentieren den Artikel aus der Ausgabe vom 25.3.09:

Palästinenser nutzen das Stück „Farm der Tiere“ um die Politik vor Ort zu kritisieren

George Orwells satirisches Werk „Farm der Tiere“ von 1945 wurde diese Woche als Erstinszenierung am Freedom Theater im Flüchtlingslager Jenin mit einer unverwechselbar palästinensischen Note uraufgeführt. Abgezielt wurde auf innenpolitische Themen sowie auf die Verbindung zwischen Israel und dem Palästinenserpräsident Mahmoud Abbas. In der ersten Szene des Stücks ermordet der Bauer Jones den Anführer der Tiere. In Szene zwei sammeln sich die Tiere - ein paar Pferde, ein Esel, eine Kuh, ein Huhn und einige Schweine - um eine renitente Sau mit Namen Schneeball, die einen Aufstand gegen den sie alle unterdrückenden Herrscher anführt. „Intifada!“ rufen die Tiere, und benutzen damit das arabische Wort für Aufstand. Lichtblitze und Heavy Metal Musik erfüllen den Raum, als sie Jones von der Farm jagen.

Während hier das klassische Thema der ihre Unterdrücker imitierenden Revolutionäre aufgegriffen wird, repräsentiert alleine die Aufführung an diesem Ort schon eine Revolution. Die Tatsache, dass eine solche Schule den Vorhang heben kann in einem Camp, das einst bekannt war für brutale Kämpfe mit israelischen Truppen, zeigt, in welchem Maße dieser Teil des Westjordanlandes zur Normalität zurückgekehrt ist.

„Die Wahl des Stückes repräsentiert ebenso eine Infragestellung palästinensischer Traditionen“, erklärt der Generaldirektor des Theaters Juliano Mer Khamis, Sohn einer jüdischen Mutter und eines palästinensischen Vaters. „Uns fehlt eine Kultur des Kritisierens. Uns fehlt eine Kultur des freien Denkens“, sagt der bärtige Mer Khamis in seinem schwarzen Hemd und Jackett. „Eine unserer Rollen ist es, dies zu hinterfragen.“

„Diese Engstirnigkeit war es, die das Theater oft zum Ziel von Protesten werden ließ, manche davon gewaltsam“, erklärt Mer Khamis, Bühnen- und Filmschauspieler in Israel. Letzte Woche habe jemand in der benachbarten Musikschule ein Feuer gelegt, sagt er, wenngleich es gelöscht werden konnte, bevor es auf das Theater übergriff.

Gewalt beeinträchtigt ebenso die künstlerischen Entscheidungen. Anfänglich wählte das Theater „Den Leutnant von Inishmore“, eine Satire auf gewaltsamen Widerstand des irischen Theaterautoren Martin McDonagh, für die Erstinszenierung. Nachdem jedoch die Scheiben an Khamis Auto eingeschlagen wurden, änderte das Theater seine Auswahl. Die Mitwirkenden befürchteten, dass die Aussage des Stücks nach Israels jüngster Offensive im Gazastreifen missverstanden werden könnte.

Daher fiel die Wahl auf „Farm der Tiere“, obwohl ein Theater in Ramallah der Jeniner Gruppe die Nutzung seiner Räumlichkeiten versagte und eine palästinensische Kulturstiftung seine Unterstützung verweigerte. Beide befürchteten laut Mer Khamis, dass das Stück Kontroversen schüren könnte.

Das Stück „Farm der Tiere“ ist als Anspielung auf die Stalin-Ära im Russland vor dem zweiten Weltkrieg zu verstehen. Nachdem sie den Bauern Jones vertrieben haben, leiden die Tiere unter der zunehmend korrupten Herrschaft einer Gruppe von Schweinen, die schrittweise menschliche Verhaltensweisen annehmen, wie aufrecht gehen, das Tragen von Anzügen und Alkohol trinken.

Das Stück endet, als das führende Schwein sich mit einem Menschen trifft, um die Geschäfte der Farm zu diskutieren: der ultimative Ausverkauf der Revolution. Direktor Nabil al-Raee meint, die Jeniner Produktion adaptiere dieses Originalthema während sich zu palästinensischer Politik geäußert werde. „Was überall um uns herum in Palästina passiert, hat einen Bezug zu „Farm der Tiere.“

Bestimmte Inszenierungsentscheidungen betonen diesen Vergleich. So umgibt sich das führende Schwein, Napoleon, nach der Intifada mit zwei schwarz bekleideten, mit Kalaschnikows bewaffneten Hunden, die angezogen sind wie palästinensische Sicherheitskräfte. Und nach dem Umzug in das Haus des Bauern hängt Napoleon ein Bild von sich in schwarzem Anzug und Krawatte über den Hof - ähnlich denen, die von palästinensischen Politikern in den Regierungsbüros hängen.

Der Mensch, der in dem Geschäftsgespräch am Ende des Stückes auftritt, spricht hebräisch - eine wenig verschleierte Anspielung auf die Kooperation zwischen Israel und der palästinensischen Autonomiebehörde von Mahmud Abbas.

Dessen Sicherheitskräfte und israelische Truppen gehen im Westjordanland gemeinsam gegen die Hamas vor, jene militante Islamistengruppe, die sich im Juni 2007 gewaltsam den Gazastreifen aneignete. Laut Al-Raee kritisiere das Stück gleichermaßen Israel wie die Palästinenser, die sich durch interne Kämpfe hätten entzweien lassen.

 

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Nach der Premiere plant der Direktor, das Stück an Schulen und Universitäten aufzuführen, oder Publikum aus den umliegenden Dörfern herbeizutransportieren. Die Schauspielschule öffnete im September mit einer ersten Klasse von 10 Studenten für ihr dreijähriges Programm. Sie führt die Arbeit weiter, die Mer Khamis’ Mutter Arna 1980 mit einem provisorischen Theater im Jenin Camp begann, um Kindern bei der Verarbeitung von Traumaerfahrungen zu helfen. Das Theater wurde 2002 während einer militärischen Offensive gegen palästinensische Kämpfer von israelischen Truppen zerstört.

Einer der Schauspielstudenten ist Rabea Turukman, 23, ehemaliger Kämpfer der Al Aqsa Brigaden, einem militanten Arm der Fatah-Bewegung von Mahmud Abbas. Während der zweiten Intifada, die im Jahr 2000 ausgerufen wurde, erlitt Turukman drei Schussverletzungen und verlor Freunde in den Kämpfen mit Israel. Im Jahr 2007 legte er die Waffe nieder und akzeptierte eine Amnestie durch Israel als Teil eines politischen Abkommens. Die Al-Aqsa-Brigaden verübten eine Reihe von bewaffneten Angriffen auf Israelis, aber Turukman bestreitet, Terrorist gewesen zu sein. „Ich trug die Waffe nie, weil ich sterben wollte, sondern weil ich leben wollte“, sagt er. „Ich kam zum Theater nachdem ich das Kämpfen aufgab, weil das auch eine Form von Freiheit ist.“

Einige seiner ehemaligen Miliz-Kollegen haben seine Entscheidung infrage gestellt. „Sie sagen: ’du hast den Widerstand und deine Waffe aufgegeben, um Theater zu spielen?’“. Sogar seiner Mutter fiel es schwer, zu verstehen, warum er seine Waffe aufgab, um Schauspieler zu werden. „Dann sah sie die Aufführung. Sie sagte, ich solle weitermachen.“

Projektstichwort

100 Aufführungen und 16.000 Zuschauer in den letzten beiden Jahren, Freundschaften aus vielen Ländern und auch aus Israel: Das Freiheitstheater steht für eine grenzüberschreitende Solidarität im Zeichen der Besatzung. Seine Macher hoffen auf die Ausstrahlungskraft des Theaters. Sie wissen, dass nur die lokale Verwurzelung eine nachhaltige Wirkung zeitigt. Ihr nächstes Ziel ist es, verstärkt die Bewohner von Jenin-Stadt, die das "gefährliche und ärmliche" Flüchtlingslager eher meiden, in die Aufführungen zu locken. Mit Erfolg: Die Hälfte der Mädchen in der Theatertherapie kommt bereits aus der Stadt. Die Bühne am Rande der Welt ist ein kleines Wunder und ein therapeutisches Antidot für Mitmachende und Zuschauer zugleich. Unterstützen Sie das Freiheitstheater in Jenin. Das Stichwort lautet: Israel-Palästina.

 

Veröffentlicht am 27. März 2009

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