Interview

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Gemeindehelferinnen, Community Care Worker, kämpfen für soziale Teilhabe und würdige Arbeitsbedingungen in Südafrika.

Das Ende der Apartheid brachte eine kurze Ära progressiver Gesundheitspolitik mit sich, die allzu schnell abgelöst wurde von einer neoliberalen Form kapitalistischer Gesundheitskonzepte inklusive der Privatisierung des Gesundheitssystems und der Beschwörung einer Ideologie von Eigenverantwortung. Ein globales Phänomen, das in Südafrika besonders virulent wurde:

Während der Apartheid waren Gemeindehelferinnen (Community Care Worker, CCW) Teil oppositioneller Gesundheitsarbeit und bezogen sich auf das Konzept einer Basisgesundheitsversorgung, das die Beteiligung der Gemeinden und der direkt Betroffenen vorsah. Die Menschen sollten ihre Gesundheitsbelange selbst formulieren und sich für deren Umsetzung einsetzen.

Das Ziel der ersten demokratisch gewählten Regierung ab 1994 unter Nelson Mandela, den Zugang zu Gesundheit umzusetzen, scheiterte zum einen an der rasant wachsenden HIV/Aids-Krise, zum anderen aber auch an der neoliberalen Wende ab 1996. Dann wurde die Teilung des Gesundheitswesens in einen boomenden Privatsektor und einen defizitären öffentlichen Bereich eingeleitet. In der Folge verschwanden die meisten emanzipatorischen Gesundheitsprojekte.

Im Zuge der AIDS-Krise, die eine riesige Mehrbelastung des Gesundheitswesens mit sich brachte, wurden ab Anfang 2000 zehntausende Community Care Worker als Freiwillige angeworben, um die Notlage vor allem in den Armutsvierteln abzufedern. Auf diese Weise lagerte die staatliche Gesundheitsversorgung die Verantwortung aus, die AIDS-Kranken wurden unsichtbar und die Community Care Worker zu einem festen Bestandteil der Versorgung, aber ohne Rechte, anständige Arbeitsbedingungen und Bezahlung. Seit einigen Jahren formiert sich eine Protestbewegung gegen diese Entwicklung.

Anna Genu vom South African Care Workers Forum, die seit den 1980er Jahren als Community Care Worker arbeitet und sich für ihre Interessen engagiert, und die Juristin Violet Kaseke von der Organisation Section 27, die sich für die Anerkennung von Care Workern einsetzt, berichten von ihren sozialen Kämpfen.

Community Care Worker sind aus dem südafrikanischen Gesundheitssystem nicht mehr wegzudenken. Wie lässt sich ihre Rolle beschreiben?

Anna Genu: Wir Community Care Worker sind die Mittlerinnen zwischen Krankenhäusern und Community, wir leben in der gleichen Community wie diejenigen, um die wir uns kümmern. Die Menschen, um die wir uns kümmern, sind die Ärmsten in der Gesellschaft und haben oft keine Möglichkeit, einen Arzt aufzusuchen. Angesichts der großen und vielfältigen Probleme geht unsere Arbeit über die gesundheitliche Versorgung hinaus hin zu den krankmachenden Bedingungen. Im Winter werden die einfachen Baracken, die Shacks, in denen die Menschen leben, oft mit durch den Regen überflutet. Wir müssen wissen, wie wir damit umgehen können, an wen wir uns wenden müssen, um Abhilfe zu schaffen. Probleme gibt es manchmal mit dem Gesundheitspersonal in den Kliniken. Die wollen oft nicht, dass wir das Bindeglied zwischen Krankenhaus und den Gemeindemitgliedern sind. Doch unsere Kampagne hat zu einem besseren Verständnis von Care Work beigetragen.

Violet Kaseke: Gerade jetzt sehen wir das grundlegende Problem in den studentischen Kämpfen rund um die Erhöhung der Gebühren an den Universitäten. Es ist klar, dass der Protest über die Studiengebühren hinausgeht. Wir sehen dieselben Ungleichheiten in unserem Gesundheitssektor – nur dass hier die CCW die vorhandene Lücke zu füllen versuchen. Der Zugang zu Gesundheit für schwarze Menschen hinkt immer noch hinterher. Beide Aspekte, Gesundheit und Bildung, haben etwas mit sozialer Ungleichheit, Ressourcenverteilung und Korruption zu tun. Das Recht auf Bildung ist nicht vom Recht auf Gesundheit zu trennen. In dem gleichen Maße wie der finanzielle Muskel Zugang zu qualitativer Bildung garantiert, passiert es mit dem Gesundheitsservice. Diejenigen die reich sind, können beides mit Leichtigkeit in Anspruch nehmen.  

Anna, du arbeitest seit den 1980er Jahren als CCW. Wie hat sich die Arbeit der CCW von der Apartheid bis heute verändert?

Anna: Es war ziemlich hart damals. Es gab Restriktionen in der Bewegungsfreiheit. Wenn schwarze Menschen - vor allem die Frauen - versucht haben, von einer Provinz in die andere zu gelangen, um dort Gesundheitsversorgung zu erhalten, waren sie ohne staatliche Erlaubnis unterwegs und immer in Gefahr, festgenommen zu werden. CCW wurden nicht vom Staat sondern von oppositionellen Gesundheitsorganisationen unterstützt, die sich gegen diese Bedingungen wehrten. Viele Male, wenn ich jemanden zur Klinik begleitete, kamen Sicherheitsleute. Und so habe ich ziemlich viel mit ihnen gestritten und ihnen gesagt: Es dreht sich gerade nicht darum, ob wir eine Erlaubnis haben oder nicht. Diese Person ist krank und muss behandelt werden.

Violet, wann und warum bist Du eine Care Work Aktivistin geworden?

Violet: In meiner Zeit in England habe ich über viele Jahre meinen Lebensunterhalt als Care Worker verdient und damit mein Jura-Abschluss finanziert. Ich kam nach Südafrika zurück und bekam eine Stelle bei der Organisation Section 27, die sich für das Menschenrecht auf Gesundheit und auf Bildung einsetzt und lustigerweise hatte gleich der erste Fall, der bei mir landete, etwas mit Community Care Worker zu tun. Die Parallelen zwischen England und Südafrika sind frappierend, die CCW werden hier wie dort von Agenturen ausgebeutet, genauso wie vom Gesundheitsministerium.

Nach den ersten freien Wahlen in Südafrika 1994 postulierte die neue Regierung den freien Zugang zu Gesundheit für alle und betrachtete die CCW als Relikt der Apartheidzeit, die nun nicht mehr gebraucht würden. Mit welchen Folgen?

Violet: Die Regierung hat sich damals zunächst bemüht, das Programm für freie und öffentliche Gesundheit für alle umzusetzen. Doch dann kam die HIV/Aids-Epidemie. Es starben zahlreiche Menschen und das Land hatte nicht ausreichend Geld, um das öffentliche Gesundheitssystem zu stützen, das von den vielen AIDS-Kranken überfordert war. Die CCWs mussten einfach zurück in die Gemeinden. Sie merkten, dass sich die Communities in Gräber verwandelten. Erst bekamen sie für ihre Arbeit gar kein Geld, später erhielten sie Aufwandsentschädigungen in Höhe von umgerechnet 50-100 Euro im Monat.

Die Regierung hat missachtet, wie entscheidend die Rolle eines Community Care Worker für das Funktionieren eines öffentlichen Gesundheitssystems ist. Denn die Krankenhäuser und Kliniken waren auch nach dem demokratischen Wandel weiterhin in den weißen Gebieten und den großen Städten.

Im Zuge der HIV/AIDS-Krise in den frühen 2000er Jahren wurden  zehntausende von CCW über private Träger als Freiwillige angeworben, anstatt das Gesundheitssystem weiter auszubauen.

Violet: Ja, als Thabo Mbeki 1999 Präsident wurde, begann die Ära der AIDS-Leugnung, was die CCW ziemlich unter Druck gesetzt hat. Sie versorgten Menschen mit einer Krankheit, von der der Präsident behauptete, es gäbe sie nicht. Das hat innerhalb des öffentlichen Gesundheitssektors etwas Dysfunktionales verursacht.

Mit welchen Problemen seid Ihr heute konfrontiert?

Anna: Es gibt keinerlei garantierten Arbeitsschutz! Wenn es in den Kliniken Handschuhe gibt, bekommen wir welche, aber wenn es keine gibt, müssen die Kranken ohne jeglichen Schutz besuchen. Wir müssen selbst schauen, wie wir uns schützen.

Ihr seid zu Fuß in den ärmsten Communities unterwegs und macht Hausbesuche. Werden Care Worker auch  Opfer gewalttätiger Angriffe?

Anna: Es gibt ein großes Problem. Der einzige Weg wie wir miteinander kommunizieren können, ist übers Handy. Wenn die Carers das Büro verlassen, müssen sie die Handys im Büro zurücklassen aufgrund der Gefahr, dass sie gestohlen werden. Daher können wir während des Tages nicht kommunizieren und bei Gefahr niemanden verständigen. Wir hoffen darauf, dass die Leute uns nicht verletzen wollen, weil sie uns kennen und schätzen. Doch leider passiert es manchmal, dass CCW angegriffen werden.

Violet: Dabei wäre es die Aufgabe der Regierung ist, für den Arbeitsschutz zu sorgen!

Anna: Seit einiger Zeit wurde ein Tuberkulosemedikament als Droge entdeckt. Die Gangs in Townships wissen, was wir in den Taschen haben und überfallen uns, um aus den diesen Tabletten Drogen herzustellen. Um das zu verhindern, haben wir versucht, einige von den Gang-Mitgliedern in unseren Räumen den ganzen Tag über zu beschäftigen. Wir kochten sogar für sie, weil sie auf die Frage, warum sie all diese Dinge tun, antworteten: Wenn wir hungrig sind. Aber dieses Programm haben wir aus unserer eigenen Tasche bezahlt. Mehr können wir nicht für unseren Schutz tun.

Um die Probleme zu überwinden, formiert sich seit einigen Jahre eine Protestbewegung, progressive Ideen zur Basisgesundheitsversorgung wieder verwirklichen will und sich für würdige Arbeitsbedingungen einsetzt. Was war der Ausgangspunkt für diese Kampagne?

Anna: Unser Care Workers Forum formierte sich, um die Akzeptanz der Arbeit zu erhöhen. Wir erkannten zudem, dass wir uns auch um uns selbst kümmern müssen, wenn wir anderen helfen wollen. Wir organisierten einen landesweiten Workshop, tauschten Erfahrungen aus und entwarfen Strategien. Mit dem Forderungskatalog gingen wird zum Gesundheitsministerium. Wir fordern seither, in die Reformüberlegungen aktiv integriert zu werden. „Nichts für uns ohne uns!“ lautet unser Motto.

Violet, wie könnt ihr diese Graswurzelbewegung unterstützen?

Violet: Wir als Section 27 haben unterstützend eine nationale Kampagne gestartet, die helfen soll, die Community Care Workers in ganz Südafrika zu organisieren, damit sie mit einer einzigen kämpfenden Stimme sprechen können. Wir versuchen ganz grundsätzlich, die Menschen zu ermächtigen, ihre Rechte zu verteidigen - notfalls auch mit juristischen Mitteln.

Die südafrikanische Regierung überlegt derzeit, das progressive Konzept der Basisgesundheitsversorgung zu reaktivieren und die Community Care Worker in das staatliche Gesundheitskonzept zu integrieren. Habt Ihr damit Euer wichtigstes Ziel erreicht?

Violet: Bei allen Risiken denke ich, das ist ein notwendiger Schritt. Es besteht jedoch die große Gefahr, dass mit der Integration in den formellen Sektor die ältere Generation der Community Worker, die all die notwendigen Erfahrungen und die Leidenschaft für diese Arbeit hat, ausgefiltert wird.  Das Ministerium will die Arbeitslosenrate senken, indem sie die jüngeren Graduierten in den Care Sektor integriert. Viele haben aber nicht die Leidenschaft und die Liebe für diesen Job.

Anna: Wir sehen diese Gefahr auch und werden versuchen, das zu verhindern. Dennoch überwiegen die Vorteile, denn nur die Integration in den formellen Arbeitsmarkt kann die Akzeptanz und den notwendigen Arbeitsschutz gewährleisten. Als neulich zwei junge CCW einen neuen Job gefunden haben, nachdem wir sie zu Weiterbildungen geschickt hatten, habe ich mich für sie gefreut.

Das Interview führte Anne Jung. Übersetzt und redaktionell bearbeitet wurde es von Timo Dorsch.

Mit einem Netz aus Partnerorganisationen unterstützt medico international ein dreijähriges Projekt, das zum Ziel hat, die Selbstorganisierung der CCW landesweit zu unterstützen und ihre fachliche Kompetenz und Rolle im öffentlichen Gesundheitssektor zu stärken.

Veröffentlicht am 01. Dezember 2015

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