Spanien

Nicht ohnmächtig

Der Widerstand gegen die Zerschlagung des öffentlichen Gesundheitswesens im Zuge der aktuellen Krise.

Von Harald Uetz

Bis vor drei Jahren war die Entwicklung des öffentlichen spanischen Gesundheitswesens eine Geschichte der sukzessiven Erweiterung sozialer Rechte. Mit dem Übergang der Franco-Diktatur in eine demokratische Staatsform hatte Gesundheit als Leitwert Eingang in die Verfassung gefunden. Seit 1986 steuerfinanziert, schloss das Gesundheitssystem seit dem Jahr 2000 alle in Spanien gemeldeten Personen in das Versorgungssystem ein.

Im Jahr 2011, also bereits mitten in der Krise, schrieb die sozialistische Regierung Zapateros mit dem „Gesetz der öffentlichen Gesundheit“ die Versorgung für alle im Staatsgebiet Lebenden fest, so dass auch Arbeitsmigrantinnen und -migranten sowie Flüchtlinge ein Recht auf eine fachgerechte medizinische Versorgung hatten. Das Gesundheitssystem mit einer überdurchschnittlich hohen Ärztedichte stieß in der Bevölkerung auf große Akzeptanz und trug zur höchsten Lebenserwartung in Europa nach der Schweiz bei. Dabei lagen die Ausgaben leicht unterhalb des OECD-Durchschnitts.

Rolle rückwärts

Im April 2012, inmitten der Krise, vollzog die konservative Partido Popular (PP) dann per Dekret (Real Decreto Ley 16/2012) einen tiefen Einschnitt in das Gesundheitswesen: Im Zuge der Sparpolitik sollten Leistungen zurückgefahren und privatisiert werden. Konkret wurde der Zugang zur öffentlichen Gesundheitsversorgung bis auf Migranten mit Arbeitserlaubnis auf spanische Staatsbürger begrenzt. Faktisch wurden dadurch bis zu eine Million Menschen aus der Krankenversicherung ausgeschlossen, insbesondere illegalisierte Arbeitsmigranten und Flüchtlinge ohne gültigen Aufenthaltsstatus. Zudem wurde zwischen Grund- und Zusatzleistungen unterschieden, wodurch viele bis dahin finanzierte Leistungen aus dem System herausgenommen wurden.

Schließlich wurden die Zuzahlungen für Medikamente und Heilmittel drastisch angehoben. Insgesamt ist das öffentliche Gesundheitssystem der Bereich, in dem im Zuge der Austeritätspolitik am stärksten gekürzt wurde, in manchen Region um bis zu 15%. Im Gegenzug wuchs der Markt für Versicherungen und private Krankenversorgung – der einzige Wachstumsmarkt in der Krise. Die Folgen für die Personen, die keinen Zugang zur Krankenversicherung mehr haben, sind teilweise dramatisch. Ihnen wird ärztliche Behandlung verweigert oder eine Behandlung wird erst nach Barzahlung durchgeführt.

Bereits am 15. Mai 2011 hatten sich zahlreiche Initiativen in ihrem Widerstand gegen die Austeritätspolitik zur „Movimiento 15-M“ zusammengeschlossen. Schnell bildeten sich neue Koalitionen zwischen Menschenrechtsgruppen, Flüchtlingshilfebüros und medizinischen NGOs. Im September 2012 ergoss sich die „weiße Flut“ („marea blanca“) auf die Straßen Madrids: Zehntausende weißbekittelte Demonstrantinnen und Demonstranten protestierten gegen eine neuerliche Privatisierungswelle im Gesundheitsbereich und konnten zumindest Teilerfolge erzielen, etwa die Rücknahme der Privatisierungspläne für sechs öffentlich erbaute Krankenhäuser. Aus diesen Protesten heraus entstand „Yo Sí Sanidad Universal“, eine unabhängige Bewegung, die sich für das Recht auf Gesundheit für alle Menschen einsetzt.

Ziviler Ungehorsam

In ihrem Kampf gegen das Dekret 16/2012 und für den Zugang aller in Spanien lebenden Menschen zu ärztlicher Behandlung haben sich Menschen, viele aus Gesundheitsberufen, in den Stadtteil- und Nachbarschaftskomitees von Yo Sí Sanidad zusammengeschlossen. „Mittlerweile gibt es allein in Madrid 24 Gruppen“, erzählt die Ärztin und Aktivistin Rosa Bajo. In regelmäßigen Stadtteiltreffen, sogenannten Asambleas, werden konkrete Hilfen für Personen aus dem Quartier in Gang gebracht. Diese bestehen jedoch bewusst nicht darin, selbst Gesundheitsdienste anzubieten und alternative Strukturen im Gesundheitsbereich aufzubauen.

Vielmehr pocht Yo Sí Sanidad auf der öffentlichen Verantwortung und dem Recht auf Gesundheit für alle. „Unsere Strategie“, ergänzt Ruiz-Giménez, ebenfalls Arzt, „ist professioneller ziviler Ungehorsam.“ So werden aus der Gesundheitsversorgung ausgeschlossene Kranke von Ehrenamtlichen zu Ärzten oder in Krankenhäuser begleitet, wo sie solange auf einer ärztlichen Behandlung bestünden, bis diese erfolge. In Workshops werden die Ehrenamtlichen in solchen Formen zivilen Ungehorsams geschult. Ruiz-Giménez: „Im Zweifelsfall wird ein Kranker dann eben zum Notfall, der behandelt werden muss.“

Neben dieser Basisarbeit hat Yo Sí Sanidad Universal auch Klage gegen das Dekret eingereicht. Zudem beteiligte sich die Initiative am „Aufruf zur Gewissensverweigerung“, eine Inititiative, in der Ärztinnen und Therapeuten öffentlich bekannten, sich nicht an die Auflagen des Dekrets zu halten und sämtliche Patienten zu behandeln. Ruiz-Giménez betont, wie wichtig die Kultur der Asambleas mit ihren demokratischen Entscheidungsstrukturen und der Stärkung der Betroffenen zu eigenem Handeln sei. Yo Sí Sanidad müsse unabhängig von Parteien und Gewerkschaften bleiben. Die Erfahrung der vergangenen Jahre habe gezeigt: „Wir können etwas ändern. Wir sind nicht ohnmächtig.“

Harald Uetz ist Mitglied der Tübinger medico-Ortsgruppe. Gemeinsam mit andern lokalen politischen Basisgruppen reisten sie im April 2015 nach Madrid, um sich mit unabhängigen spanischen Basisinitiativen auszutauschen, darunter Yo Sí Sanidad Universal.

Dieser Artikel erschien zuerst im medico-Rundschreiben 3/2015. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. <link material rundschreiben rundschreiben-bestellen internal-link internal link in current>Jetzt abonnieren!

Veröffentlicht am 15. September 2015

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