Nicaragua: Erfolg des Eigensinns

Mit ihrem Projekt El Tanque beweisen nicaraguanische Bauern, daß eine andere Globalisierung möglich ist

Am 29. Oktober 1998 zog Hurrikan Mitch eine Spur der Verwüstung durch Mittelamerika. Mehrere Tausend Menschen kamen ums Leben. Ganze Landstriche wurden auf Jahre, wenn nicht auf Dauer unbewohnbar. Das Naturunglück wurde zum Symbol für die Katastrophe schlechthin. Denn seit die Länder Nicaragua, Guatemala und El Salvador ihre geostrategische Bedeutung verloren haben, was sie viele Menschenleben und jahrzehntelangen Bürgerkrieg kostete, gelten sie nur noch als Standort der in zollfreien Zonen produzierenden Maquilla-Industrie und als Herkunftsländer von Arbeitsmigranten. In Nicaragua erschien mehrere Jahre nach der Hurrikan-Katastrophe das Buch eines renommierten Wirtschaftswissenschaftlers zur ökonomischen Situation des Landes, auf dessen Deckel stilisiert die durch Mitch ausgelöste Schlammlawine am Vulkan Casita prangte. Die Nicaraguaner verstehen das Zeichen über das Ereignis hinaus zu lesen: Als fänden sich in ihrem Land keine Mittel mehr den Abwärtsstrudel zu stoppen. Denn schon dieses Unglück am Vulkan Casita war in seinen dramatischen Auswirkungen menschengemacht.

Der Auslöser des Erdrutsches war der Hurrikan. Daß allerdings am Casita damals in wenigen Stunden mehr als 2000 Menschen ihr Leben unter einer Schlammlawine verloren, hatte seinen Ursachen in der Armut und Unterentwicklung. Aus der Ebene vertriebene Kleinbauern, die während der Somoza-Diktatur den Baumwollplantagen weichen mussten, betrieben am Casita Subsistenz-Wirtschaft. Ein bißchen Mais-Anbau, Gemüse zur Selbstversorgung, das Brennholz kam aus dem Wald. Die Erosion am Casita war so vorprogrammiert. Nach der Katastrophe tat die Regierung von Arnoldo Alemán das, was sie vorher hätte tun sollen und erklärte die Region zur No-Go-Area. Was mit den überlebenden Menschen geschehen sollte, darüber machte sich der damalige Regierungschef keine Gedanken. Alemán sitzt mittlerweile wegen seiner sagenhaften Korruptheit im Gefängnis.

Alemáns denkwürdiges Schicksal ändert allerdings nichts daran, daß seitdem die Menschen in Nicaragua in Erwartung der nächsten Katastrophe leben: Angefangen bei den sinkenden Kaffeepreisen und der darauffolgenden Hungersnot in den Kaffee-Regionen, über die Schuldenkrise bis hin zu den heftigen Auseinandersetzungen um die Privatisierung des Wassers, mit allen bedrohlichen Folgen für die Gesundheit.

Die Unterstützung von Opfern des Hurrikans mußte aus der Sicht von medico international deshalb auch diesen Katastrophenkontext berücksichtigen. Nothilfe mußte in sich Schritte beinhalten, die den Menschen auch eine Perspektive zur Selbsthilfe bietet. So entstand die Unterstützung von 130 nicaraguanische Bauernfamilien – Überlebende des Erdrutsches am Casita – bei der Neugründung ihrer Existenz. Wohlwissend, daß man ihnen keine neue Existenzgrundlage verschaffen werde, hatten sie im Dezember 1998 brachliegendes Land in der Ebene zwischen León und Posoltega besetzt. Mit der Unterstützung von medico international errichteten sie provisorische Zelte. Sie erhielten das notwendigste Material, um auf der Brache zu »überwintern«. Die Anfangszeit von »El Tanque« – der Name der besetzten Finca wurde kurzerhand zum Namen des neugegründeten Dorfes – erscheint aus heutiger Sicht geradezu heroisch. Wie haben es diese schwer traumatisierten Menschen, die oftmals unzählig viele Angehörige beim Unglück verloren hatten, nur aushalten können in der brennenden Wintersonne, in notdürftigen Verschlägen, unter Androhung der erneuten Vertreibung? Der Kampf um die Sicherung von El Tanque war lang: der Bau der Häuser, die juristischen Auseinandersetzungen um die Landtitel, die psychosoziale Arbeit, die kontinuierlich notwendig ist, um Vertrauen und Lebensmut zu stärken, der Kampf gegen die Unwissenheit mit Alphabetisierungskampagnen und Vermittlung von Landwirtschafts-Kenntnissen, der Schulbau und die Einrichtung eines Kindergartens, die Stärkung der kommunalen Strukturen. All das und vieles mehr wäre zu berichten, um zu verstehen, warum ein Experiment, das zum Scheitern verurteilt war, nun doch zu gelingen scheint. Denn während viele Nicaraguanerinnen & Nicaraguaner unter dem Zwang der ökonomischen Verhältnisse in die USA, nach Mexico und insbesondere nach Costa Rica abwandern, um mit schlechten Jobs zu überleben, sind in El Tanque die meisten Menschen geblieben. Von 800 Bewohnern sind nur acht nach Costa Rica gegangen. Und einer ist zurückgekehrt. Er wird in diesem Heft vorgestellt. In Zeiten der neoliberalen Globalisierung, in der immer mehr Menschen und Regionen de facto für überflüssig erklärt werden, zeigt diese Erfahrung von El Tanque, daß es für alle, auch für die Ärmsten, eine selbstbestimmte Lebensperspektive geben kann. El Tanque ist außerdem ein Ort, der beweist, daß eine andere Globalisierung möglich ist. Denn ohne die große Unterstützung der Spenderinnen und Spender wäre El Tanque – diese Insel der Vernunft – nicht möglich gewesen. So aber gelang es, auch das Bundesministerium für Zusammenarbeit und Entwicklung für ein dreijähriges Förderungsprogramm zu gewinnen, die allerdings 2004 ausläuft. Das Experiment El Tanque jedoch geht weiter.

Veröffentlicht am 01. November 2003

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