Libanon: Am kalten Fluß

Die Tragödie im palästinensischen Nahr el-Bared.

Von der Weltöffentlichkeit nahezu unbemerkt, vollzog sich im Sommer 2007 nördlich der libanesischen Hafenstadt Tripolis eine blutige Tragödie. In monatelangen Kämpfen gegen eine fundamentalistische Miliz zerstörte die libanesische Armee das palästinensische Flüchtlingslager Nahr el-Bared. Eine Reportage aus einer rechtlosen Zone, in der der Notstand permanent ist.

Auf der staubigen Straße flirrt die Luft in der Mittagszeit. Es ist heiß geworden und Taiwsir Achmed Il-Sawiad ist seit acht Uhr früh auf den Beinen. Er verschnauft und schiebt sich den Bauhelm in den Nacken. Mit routiniertem Blick taxiert er die Überreste eines vierstöckigen Wohnhauses. Die obersten Stockwerke sind eingestürzt, auf der noch stehenden ersten Etage sind Plastikplanen als Sichtschutz zwischen geborstenem Baustahl gespannt. Holzbalken stützen notdürftig die Treppenreste. Der 63-jährige Bauingenieur geht vorsichtig hinauf und ruft nach den Bewohnern. Nur ein Junge erscheint, dem er ein Formular mit einer Telefonnummer gibt. Die Eltern sollen sich melden. Dann notiert er ein rotes Kreuz in seiner Kladde. "Hohe Einsturzgefahr", sagt er. "Eigentlich dürfte hier niemand mehr wohnen." Der stämmige Mann arbeitet für die "Architectes de l'urgence", eine Gruppe von Ingenieuren und Architekten, die im Auftrag der UNRWA (United Nations Relief und Works Agency), der UN-Agentur für palästinensische Flüchtlinge, die Gebäudeschäden im Lager Nahr el-Bared auflistet. "Im alten Zentrum ist jedes Gebäude abbruchreif", sagt der Ingenieur. "Es ist schlimmer als in Bagdad." Achmed Il-Sawiad hat 28 Jahre im irakischen Industrieministerium gearbeitet. Im Jahr 2006 ließ ihn die eskalierende Gewalt in Bagdads Straßen nach Nahr el-Bared heimkehren. "Nachdem ich meine Ersparnisse auf der konfiszierten irakischen Staatsbank verloren hatte, blieb mir nur noch mein Elternhaus im Flüchtlingslager." Er zündet sich eine Zigarette an und meint, dass sich das Schicksal der Palästinenser nach dem Angriff der libanesischen Armee wiederhole: Flucht auf Flucht. "Wie beim Exodus aus Palästina im Jahre 1948 mussten wir wieder zu Fuß fliehen. 15 Kilometer bis ins benachbarte Beddawi-Camp." Dann der Schock nach dem Ende der Kämpfe: "Wir kamen in eine Welt zurück, in der kein Stein mehr auf dem anderen stand. Wo früher unsere Viertel waren, sind nur noch Trümmerfelder."
Laut Angaben der UNRWA wurden bei den Auseinandersetzungen zwischen der libanesischen Armee und der sunnitisch-fundamentalistischen Gruppe Fatah al-Islam im Sommer 2007 fast alle Gebäude auf dem dicht bebauten, nur zwei Quadratkilometer großen inneren Areal des Lagers zerstört. Die abzutragende Schuttmenge dieser Ruinenlandschaft beträgt eine halbe Million Kubikmeter. Wo vormals Straßen waren, schlängeln sich jetzt Fußwege durch Häuser-Skelette, Krater und zerquetschte Fahrzeuge.

Der Feind kam von außen

Das palästinensische Flüchtlingslager Nahr el-Bared ("der kalte Fluss") nahe der nordlibanesischen Hafenstadt Tripolis trägt den Namen des Wasserlaufs, der durch das Lager hindurch ins Mittelmeer fließt. Hier leben 42.000 Menschen in Vierteln, die nach den Herkunftsorten ihrer Bewohner im alten Palästina benannt sind. Das Lager ist weder an die öffentliche Müllabfuhr noch an die kommunale Strom- und Wasserversorgung angeschlossen; das öffentliche Schul- und Gesundheitssystem wird von der UNRWA und zahlreichen palästinensischen NROs bereitgestellt. Auf den Märkten von Nahr el-Bared wurden steuerfreie Waren gehandelt, die mit Hilfe der syrischen Armee, die fast drei Jahrzehnte in Tripolis präsent war, über den Land- oder Wasserweg geschmuggelt und dort zu erheblich billigeren Preisen als in der Umgebung verkauft wurden. Auch viele Libanesen besuchten die Märkte. Bis zum Ende des Jahres 2006 war es ein ruhiger Ort.
Der libanesische Militäreinsatz im Sommer 2007 gegen die fundamentalistische Fatah al-Islam, die sich zuvor in dem Flüchtlingslager festgesetzt hatte, war erschreckend brutal und rücksichtslos. Die Kämpfe begannen, nachdem sich Mitglieder der Fatah al-Islam in einem Vorort von Tripolis Schießereien mit der örtlichen Polizei geliefert hatten. Die Gruppe verschanzte sich daraufhin in Nahr el-Bared. Die libanesische Armee kappte die Strom- und Wasserversorgung für die gesamte Bevölkerung und griff ohne Vorwarnung an. Nicht nur an die 250 Kämpfer der Fatah al-Islam verloren in den Kämpfen zwischen Mai und September ihr Leben, auch 163 Soldaten starben und Hunderte wurden verletzt. Die Mehrheit der Bewohner konnte nur in kurzen Feuerpausen der Armee eilig das Lager verlassen. Fast alle flohen ins benachbarte palästinensische Beddawi-Camp, dessen Bewohner sie mit großer Anteilnahme und Solidarität aufnahmen.
Im vergangenen Herbst konnte ein Teil der Flüchtlinge wieder nach Nahr el-Bared zurückkehren, aber noch im Frühjahr 2008 lebte die Hälfte weiterhin im benachbarten Beddawi-Camp oder in Übergangscontainern, die am Rande des zerstörten Lagers errichtet wurden. Erst im April dieses Jahres erlaubte die libanesische Armee, die bis heute das Lager komplett bewacht, den Beginn von Wiederaufbauaktivitäten. Die UN-Agenturen begannen mit Hilfe palästinensischer NROs, darunter auch der langjährige medico-Partner Popular Aid for Relief and Development (PARD), die zerstörte Wasser- und Stromversorgung zu reparieren. Henri Disselkorn, der engagiert wirkende UNRWA-Verantwortliche für Nahr el-Bared, versichert im Gespräch, dass das Lager spätestens in drei bis vier Jahren neu aufgebaut sein wird.

Verbitterte Rückkehrer

Wie viele Bewohner, misstraut auch der Kioskbesitzer Abu Harira Tamir diesen Ankündigungen. "Was ist passiert? Gab es einen Plan, das Lager auszulöschen, wie damals in Tel al-Zaatar?" Er wiegt seinen zwei Monate alten Sohn im Arm und erinnert an das Jahr 1976, als nach Beginn des libanesischen Bürgerkriegs das damals größte Palästinenser-Camp von christlichen Milizionären dem Erdboden gleich gemacht wurde. In seinem blauen Kaftan und mit seinem langen Bart entspricht der frischgebackene Vater, der am Rande der Container-Häuser einen Laden betreibt, ein wenig dem westlichen Klischee eines islamischen Eiferers. Der Eindruck ändert sich, als er über die Katastrophe spricht, als im Herbst 2006 die ersten Anhänger der Fatah al-Islam im Lager auftauchten. "Sie hatten neue Geländewagen, moderne Waffen und offensichtlich viel Geld. Ihre Frauen waren völlig verschleiert." Auffällig war, dass sie mehrheitlich keine Palästinenser waren, sondern aus Marokko, Saudi-Arabien, dem Irak und Afghanistan stammten. Die Glaubenskrieger begannen die Bewohner zu gängeln, wenn sie Musik hörten. In der Umgebung ihrer Zentren rissen sie Plakate mit dem Konterfei von Hassan Nasrallah, dem Chef der schiitischen Hizbullah-Partei, von den Wänden. "Ihre Prediger behaupteten, dass die Schiiten Ungläubige sind." Viele Lagerbewohner vermuteten damals schon, dass die sunnitischen Jihadisten der Fatah al-Islam Verbindungen zum Netzwerk der Al Qa'ida hatten.
Das dachte auch Ijad Abid, der Markthändler, dessen gut florierendes Gemüse- und Obstgeschäft ausbrannte. "Nur mein Haus ist mir geblieben", sagt der 56-jährige achselzuckend. Mit Maurerkelle und Zement versucht er, die durchlöcherten Außenmauern zu flicken. "Maschinengewehrgarben", sagt er. Ich soll das oberste Stockwerk sehen. Im Hausflur zeigt er auf obszöne und rassistische antipalästinensische Parolen, die von libanesischen Soldaten stammen. Ijad Abid ist empört: "Wir haben nie für möglich gehalten, dass muslimische Brüder uns so etwas antun." Entfernen will er die Schmierereien erst, wenn der PLO-Vertreter sein Haus gesehen hat. Wann das sein wird? Er weiß es nicht, wie er überhaupt keine Vorstellung hat, was kommen wird. "Sie haben uns alle im Stich gelassen." Dann erzählt er, wie unverantwortlich das Lagerkomitee handelte, als die "Terroristen", wie er die Fatah al-Islam ohne Umschweife nennt, in das Camp gekommen waren. "Die islamischen Gruppierungen sagten uns, dass sie nicht auf ihre Brüder schießen. Die anderen Organisationen hatten Angst, selbst angegriffen zu werden." Seine Verachtung trifft auch die offiziellen PLO-Vertreter: "Sie haben mit der libanesischen Armee noch kooperiert, als die bereits unsere Häuser zerstörte." Im obersten Stockwerk sind alle Zimmer verwüstet. Die Wände sind rauchgeschwärzt. In der Küche liegen verschmorte Plastikwannen und zerbrochenes Geschirr. Seine Verbitterung war endgültig, als er nach der Rückkehr feststellen musste, dass es unter der libanesischen Armee zu systematischen Plünderungen gekommen war. "Alle Elektro- und Küchengeräte, sogar die Klimaanlage, die Sofas und selbst Schlafzimmereinrichtungen waren weg." Ein Sofa fand Ijad Abid auf einem Markt der Umgebung wieder. Nein, eine Entschädigung erwartet er von niemandem. Und die Zukunft? "Gibt es nicht", sagt er knapp. Mag sein, dass irgendwann die Häuser wieder stehen, aber die Armeekontrollen am Lagereingang bleiben. "Kein Libanese wird hier wieder zum Einkaufen kommen. Wir sind verloren und rechtlos."

Keine Zukunft ohne Rechte

Wie die Milizionäre der Fatah al-Islam betrachtete auch die libanesische Armee Nahr el-Bared als de facto rechtsfreie Zone. Die Zerstörung des Lagers ereignete sich in aller Öffentlichkeit. Die Verbitterung vieler Palästinenser über die politische Schwäche ihrer eigenen Organisationen, weist auf das dramatische Machtvakuum und den "exterritorialen Status" der Flüchtlingscamps hin. Dieser außergesetzliche Raum ist eine Zone permanenten Notstandes, in der nicht nur die libanesische Armee, sondern auch palästinensische und vermehrt fundamentalistische Organisationen nach eigenen Regeln handeln. Der libanesische Staat machte die Einwohner von Nahr el-Bared zu einer Art homo sacer, also zu einer Bevölkerungsgruppe, deren Eigentum nicht nur zerstört, sondern auch ungestraft geplündert werden kann. Solange den Palästinensern im Libanon die elementarsten Bürgerrechte und der uneingeschränkte Zugang zum Arbeitsmarkt verweigert bleiben, stehen viele Flüchtlingslager kurz vor der Katastrophe.
Martin Glasenapp

 

Projektstichwort

In In Nahr el-Bared und im nahen Beddawi-Camp arbeitet medico mit den palästinensischen Hilfswerken NAMSC und PARD, zwei alten und erfahrenen medico-Partnern. Das Bürogebäude von NAMSC in Nahr el-Bared wurde zwar zerstört, aber ihr sozialmedizinisches Ausbildungszentrum in Beddawi arbeitet weiter und hat zusätzliche Studierende aus dem zerstörten Nachbarcamp aufgenommen. PARD half nicht nur während der Kämpfe den Flüchtlingen, sondern beteiligt sich mit seiner in langen Jahren erworbenen Expertise auch an der Wiederherstellung der Wasserversorgung in Nahr el-Bared. Beide Partner brauchen Ihre Unterstützung. Damit Palästinenser im Libanon eine Zukunft haben können. Um nicht weniger geht es. Das Spendenstichwort lautet: Libanon.

 

 

Veröffentlicht am 26. Juni 2008

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