Lebensstil, nicht Beschäftigung

Über einen, der vom Migranten zum Aktivisten wurde

Die Geschichte von Rubén Figueroa als Menschenrechtsaktivist beginnt vor rund zehn Jahren auf einer Toilette in Durham im US-Bundesstaat North Carolina. Dort verdingte er sich als Lagerarbeiter bei der Kosmetikfirma „The Body Shop“. Auf der Toilettentür prangte damals ein Aufkleber von amnesty international. „Ich war kaum 19 Jahre und hatte keine Ahnung, was das war, aber mich interessierte diese Kerze mit dem Stacheldraht“. Immer wenn er konnte, ging Figueroa ins Internet und versuchte herauszufinden, was sich hinter dem Emblem verbarg. Über Monate lernte er so, was es mit der Organisation und den Menschenrechten auf sich hat. Figueroa war da gerade ein pubertierender Migrant, der mit 16 alleine daheim aus einem kleinen Dorf in Tabasco im Süden Mexikos ausgezogen war, der Armut zu entfliehen und seiner Mutter Geld zu senden.

Wanderer zwischen den Welten

„Ich entwickelte allmählich ein Bewusstsein für die Probleme der Menschenrechte in Lateinamerika“, erzählt Rubén. Und er wandte die neuen Erkenntnisse auf seine Welt eines „Indocumentado“ an, eines Wanderers zwischen den Welten ohne Papiere, der sich in der Heimlichkeit in einem fremden Land eine Wohnung mit vielen anderen in der gleichen Situation teilte, nur um seiner Familie daheim ein Auskommen zu sichern.

„Daheim in Mexiko waren wir daran gewöhnt, mit einem Paar Strümpfe und einem Paar Schuhe auszukommen. Ich konnte nur die mittlere Reife machen, weil das nächste Gymnasium weit weg und für den Schulweg kein Geld da war. Ich hatte nie eine Pizza gegessen, war nie im Kino gewesen“.

Vom Migranten zum Aktivisten

Mit 21 Jahren kehrte Rubén Figueroa den USA den Rücken. „Die Armut hatte mich fünf Jahre von meiner Familie getrennt, das war genug.“ Zurück daheim in seinem kleinen Dorf San Manuel im Norden von Tabasco ratterten weiter jeden Tag die Güterzüge hinter seinem Haus vorbei, auf denen nicht nur die Waren, sondern auch die Migranten Richtung USA unterwegs waren. So wie Rubén damals auch. „Ich nahm die Menschen auf den Waggons plötzlich ganz anders wahr, sie waren nicht mehr unsichtbar. Da war mir klar, was ich zu tun hatte.“

Er begann mit Freunden, den Reisenden Verpflegung an den Zug zu bringen, Wasser, Essen - und Mut. „Wir wollten ihnen den langen und schweren Weg in den Norden so würdig wie möglich gestalten. Denn Migranten sind mutige Menschen und keine Kriminellen, wie unsere Behörden behaupten. Auf den Zügen werden nicht Waffen oder Drogen gehandelt, sondern Erfahrungen und Lebensgeschichten weitergegeben.“

Eines Abends dann klopften Männer kurz vor Mitternacht an die Tür seines Hauses und fragten nach Unterschlupf. Es hatte sich rumgesprochen, dass die Figueroas helfen, wo sie konnten. „So begann unsere eigene kleine Migrantenherberge. Wir gehörten ja nicht zu einer Organisation und zu keiner Kirche. Wir waren nur eine Familie mit Bewusstsein für die Probleme unseres Landes.“ Das war 2006.

Mitarbeit in Menschenrechtsorganisationen

In Acht nehmen mussten sich die Wohltäter nur vor den Behörden. „Wir hatten ständig die Polizei zu fürchten, die uns jederzeit wegen Menschenhandel anzeigen konnte.“ Drei Jahre betrieb die Familie Figueroa ihre private Migranten-Pension. Im ganzen Land hörte man von der selbstlosen Eigeninitiative, eine Zeitung kam vorbei. Und Rubén erzählte wieder seine Geschichte von dem Aufkleber auf der Klotür im fernen Durham. Danach ging alles ganz schnell.

amnesty international schrieb ihm, nachdem sie den Artikel gelesen hatten. Die Organisation schickte eine Delegation, lud ihn nach Europa ein. So wuchs er in die Welt der Menschrechtsaktivisten hinein. 2009 dann sprachen ihn die Gründer des Movimiento Migrante Mesoamericano (M3) an, eine kleine Organisation gegründet und gefördert von Privatleuten mit Gewissen und der Gewissheit, dass die Migranten Unterstützung brauchten. Der junge Mann zögerte keinen Augenblick.

„Wenn wir es nicht tun, macht es niemand.“

„Der Einsatz für Menschenrechte ist kein Job, er ist ein Lebensstil“, sagt Rubén zum Ende eines längeren Gesprächs. Er weiß am besten, was das bedeutet. „Der Einsatz dauert 24 Stunden am Tag.“ Seine Heimat sind Busbahnhöfe, Überlandbusse, Nachtfahrten, Matratzen in einer Kirche oder in einer Herberge. Rubén Figueroa ist eigentlich immer unterwegs, wenn er Angehörige verschollener Zentralamerikaner sucht, mit den Migranten aus Solidarität auf die Züge springt oder sich an die Büros der Einwandererbehörde kettet. „Wenn wir es nicht tun, macht es niemand.“

Wenn Rubén Figueroa in die Zukunft schaut, hält er einen Moment inne und sagt dann: „Mein Traum ist es, dass meine Arbeit irgendwann überflüssig wird. Das ist dann, wenn in Mexiko die Menschenrechte respektiert werden.“ Bis es soweit ist, werden noch zigtausende Züge in den Norden fahren müssen und Millionen Migranten auf- und abspringen.

Von Klaus Ehringfeld

Täglich machen sich Menschen aus El Salvador, Guatemala, Honduras oder Nicaragua auf, weil sie zu Hause keine Zukunftsperspektive sehen und auf ein besseres Leben in den USA hoffen. Viele von ihnen kommen jedoch nie an. medico unterstützt die von der Mittelamerikanischen Migrationsbewegung (M3) organisierte Karawane Angehöriger aus Zentralamerika, die in Mexiko ihre verschwundenen Kinder suchen. Sie ist zugleich ein Protestmarsch gegen die Gewalt, der die Migrantinnen und Migranten auf dem Weg durch Mexiko ausgeliefert sind. Klaus Ehringfeld begleitete die Karawane und berichtete von Begegnungen unterwegs.

Projektstichwort

medico international finanzierte im Oktober 2012 zum zweiten Mal die Karawane Angehöriger aus Zentralamerika, die in Mexiko nach ihren verschwundenen Angehörigen suchen.

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Veröffentlicht am 23. November 2012

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