Kommerzialisierungs-Agenda

Wer wissen will, woran die Hilfe in Afghanistan vielfach scheitert, der schaue sich die Privatisierungsdebatte an: zum Beispiel bei der Minenräumung. Ein Gespräch mit medico-Projektkoordinator Sönke Widderich.

Welche Projekte in Afghanistan beschäftigen einen medico-Koordinator zur Zeit am meisten?

Gemeinsam mit Rita Velásquez, die zuständig ist für die finanzielle Betreuung der Projekte, bin ich derzeit am meisten mit zwei großen Minenräumprojekten betraut. Durchgeführt werden sie von unseren beiden afghanischen Partnern, dem Mine Detection and Dog Center (MDC), das Minen mit Hunden überall in Afghanistan räumt, und der Organisation for Mine Clearance and Afghan Rehabilitation (OMAR), die vor allen Dingen im Westen und in Kabul mit Minenräumern unterwegs ist und außerdem Aufklärungsunterricht über Minengefahren abhält. Dabei geht es um viel Geld. Am 1. März beginnt die neue Bewilligungsperiode für die nächsten 12 Monate: Die beiden vom Auswärtigen Amt geförderten Projekte haben ein Finanzvolumen von 3,6 Millionen Euro.

Ist das Minenräumen nach wie vor von solcher Bedeutung?

In Afghanistan sind drei Viertel aller Distrikte von Verminung betroffen. Es gibt 4,1 Millionen Afghanen, deren Lebensraum direkt davon bedroht ist. Unsere Partner räumen monatlich eine Fläche, die 67 Fußballfeldern entspricht. Gerade kürzlich haben wir erlebt, wie Bauarbeiter auf einer als minenfrei ausgewiesenen Fläche mit der Spitzhacke auf eine Antifahrzeugmine stießen. Auf das Gelände sollten Wohnungen für rückkehrende Flüchtlinge aus Pakistan gebaut werden. Die Fläche wurde umgehend als Minenfeld ausgewiesen. MDC hat ein Team geschickt und vier weitere Antifahrzeugminen gefunden. Die wären in dem Moment hochgegangen, wenn die Bauarbeiter mit ihren Maschinen auf das Feld gefahren wären. Es ist also nach wie vor ein absolut drängendes Problem.

Ist Minenräumen ein attraktiver Job?

Wenn man vom Gehalt ausgeht, das nichtkommerzielle Organisationen zahlen können, kann man die Frage nicht positiv beantworten. Ein Minenräumer verdient 180 Dollar, ein Teamleader 280 Dollar im Monat. Unsere Partner haben kürzlich den Durchschnittswert eines Grundbedarf-Warenkorbs ermittelt und festgestellt, dass man mit dem Verdienst gerade so überleben kann. Auch im Vergleich mit Gehältern, die sonst im Zusammenhang mit ausländischen Geldgebern bezahlt werden, sind sie niedrig. Vor dem Sturz der Taliban, so erzählen unsere Partner immer wieder, habe man von dem Gehalt nach einem Jahr sein eigenes Haus bauen können. Heute gelinge das nicht einmal nach 20 Jahren.

Was sind die Gründe für diese massiven Lohneinbußen?

Nach dem Sturz der Taliban wurden die Gehälter bei den Minenräumern erheblich gekürzt. Die Gelder zur Finanzierung des humanitären Minenräumens werden leider stetig zurückgefahren. Außerdem sind die Lebenshaltungskosten aufgrund der massiven ausländischen Präsenz enorm gestiegen. Das schafft erhebliche Probleme. Allein bei MDC sind im vergangenen Jahr 24 Hundeführer von einer kommerziellen US-amerikanischen Entminungsfirma angesprochen und abgeworben worden. Für MDC bedeutet das nicht nur den Verlust erfahrener Mitarbeiter, sondern auch die Notwendigkeit in die Ausbildung neuer Leute ungeplant investieren zu müssen.

Können private Minenräumfirmen mehr zahlen?

Es gibt zwei Formen von Minenräumung. Das humanitäre Minenräumen und das Minenräumen im Bereich des Wiederaufbaus, also der Entwicklung von Infrastruktur wie Straßen und Hochspannungsleitungen. Was auf den ersten Blick wie eine rein bürokratische Unterscheidung wirkt, verbirgt tatsächlich eine Konkurrenz zwischen privatem und öffentlichem Sektor. Das humanitäre Räumen kommt direkt der Bevölkerung zugute, bezieht sich auf Wohngebiete und Anbauflächen für die kleinen Bauern. Dieses Minenräumen wird von UNMACA organisiert, der UN-Organisation, die das Minenräumen in Afghanistan koordiniert. Hier stehen die Gehälter fest und hier arbeiten zumeist unsere Partner. Minenräumen im Bereich des Wiederaufbaus steht dagegen zunehmend nur kommerziellen Anbietern offen. Sie zahlen bessere Löhne. Das Geld für beide Töpfe kommt aber letztlich von internationalen staatlichen Gebern. Es gibt einen ständigen Kampf um die Finanzierung beider Programme. Da sind vermutlich einige Lobbyisten aktiv. Bis vor kurzem war das noch anders. Da wurden auch viele Minenräumaktivitäten im Bereich Wiederaufbau von UNMACA ausgeschrieben und humanitäre Organisationen haben sich daran beteiligen können. Mitte 2006 hat die amerikanische Entwicklungshilfeagentur USAID dann aber entschieden, aus der humanitären Minenräumung auszusteigen und ihre Projekte stattdessen kommerziell auszuschreiben. An kommerziellen Ausschreibungen wiederum dürfen sich Non-Profit-Organisationen wie MDC und OMAR nach afghanischem Recht nicht beteiligen. In der Folge der USAID-Entscheidung verloren landesweit 69 Minenräumteams ihren Job.

Kann man etwas gegen die Abwanderung von Mitarbeitern unternehmen?

Unsere Partner versuchen, gewisse finanzielle Nachteile durch eine gute Arbeitsatmosphäre auszugleichen. Das funktioniert auch bei den besser bezahlten Stellen. Aber die Arbeit als Minenräumer ist schwierig und gefährlich. Da ist es attraktiver und sicherer, für mehr Geld bei der UN als Fahrer zu arbeiten. Wir versuchen die Gehaltsstruktur zu beeinflussen und haben gemeinsam mit unseren Partnern bei UNMACA, die die Gehälter festlegt, durchsetzen können, dass die Löhne angehoben wurden. Aber sie liegen nach wie vor deutlich unter denen privater Firmen.

Gibt es unter den afghanischen Minenräumorganisationen Ängste, dass ihr Arbeitsgebiet komplett kommerzialisiert wird?

Fazel Karim von OMAR oder Shohab Hakimi von MDC, die beiden Direktoren, sind sich ihrer Position als kompetente Minenräumer bewusst. Aber sie sind natürlich damit konfrontiert, dass die Mittel immer wieder zur Debatte stehen und regelmäßig einzelne Teile ihres Programms unter Druck geraten oder gar gekürzt werden müssen. Das Minenräumen ist ein großer und lukrativer Markt. Afghanistan ist das am stärksten verminte Land der Erde, mit dem größten Programm zur Minenräumung und einer entsprechenden Mittelausstattung durch internationale staatliche Geber. Deshalb versuchen kommerzielle Firmen immer stärker in diesen Bereich vorzudringen. Dazu gehören solche dubiosen Unternehmen wie die südafrikanische Firma Mechem, die früher selbst Minen hergestellt hat und nun kräftige Gewinne im Bereich der Räumung macht. Die Kampagne zur Ächtung der Landminen hat einen solchen doppelten Profit immer wieder skandalisiert und gefordert, dass Rüstungsfirmen, die am Verkauf von Minen verdient haben, nicht noch von deren Beseitigung profitieren sollten. Doch in der allgemeinen Privatisierungswut werden solche Argumente allzu oft ignoriert.

Privatisierung als Entwicklungspolitik?

Wie überall wird der Privatisierungsdruck damit begründet, dass Privatfirmen effektiver seien. Man verweist dabei gern auf die bosnische Erfahrung. Im Gegensatz zu Bosnien gibt es in Afghanistan jedoch erfahrene, nichtkommerzielle Entminungsorganisationen unter afghanischer Führung und mit afghanischen Mitarbeitern. In der Entwicklungspolitik führt man gern das Wort "ownership" als Schlüsselbegriff im Mund. Dahinter verbirgt sich die richtige Idee, dass Selbstermächtigung der Menschen vor Ort der einzige Weg zu erfolgreichen und nachhaltigen Projekten ist. Die afghanische "ownership" muss bei den Minenräumorganisationen nicht erst noch mühsam eingeführt werden. Sie ist dort bereits geklärt. Sie liegt in afghanischen Händen. Angesichts der großen Probleme in Afghanistan darf man doch so etwas auf keinen Fall gefährden. Außerdem gelingt es unseren afghanischen Kollegen auch ohne Privatisierung, die Qualität ihrer Arbeit zu verbessern. Wir haben Uli Tietze, einen ehemaligen medico-Kollegen, der seit vielen Jahren im Minen-Bereich international tätig ist, nach Afghanistan geschickt, um Möglichkeiten der Qualitätssicherung und Effizienzsteigerung zu untersuchen und mit den Partnern zu besprechen. Das war sehr erfolgreich. Auch deshalb, weil es ein vertrauensvolles Verhältnis zwischen uns und unseren afghanischen Kollegen gibt.

Worin besteht die Rolle von medico bei diesen Projekten?

Wir akquirieren die Mittel, in diesem Fall beim Auswärtigen Amt. Wir tragen die Verantwortung für die Qualität der Arbeit und sind gegenüber den Gebern darüber rechenschaftspflichtig. Gleichzeitig nehmen wir gegenüber Dritten, die in dem Bereich auch noch tätig sind, die Interessen unserer Partner wahr. Leider haben wir auch gegenüber UN-Organisationen häufig noch ein besseres Standing als unsere afghanischen Partner.

Gibt es eine "neokoloniale" Überheblichkeit der internationalen Strukturen?

Man kann sie zumindest bei Einzelpersonen antreffen. Bei der UN gibt es immer mehr Afghanen in Führungspositionen. Das bringt klimatische Verbesserung. Aber es gibt auch immer wieder ausländische Experten, und manche in hochrangigen Positionen, bei denen der Habitus des "Aufräumers” sehr wohl verbreitet ist. Sie wollen ganz schnell alles neu und anders machen, ohne sich vorher mit der vorhandenen Situation ernsthaft vertraut gemacht zu haben. Eine solche Haltung ist nicht hilfreich und löst bei unseren Partnern Verunsicherung aus. Wir haben gerade deshalb ein sehr gutes Verhältnis zu unseren afghanischen Kollegen, weil wir sie in ihrer Kompetenz und Kenntnis ernst nehmen. Es braucht eine andere Haltung ausländischer Experten gegenüber den Anstrengungen der Menschen in Afghanistan. Damit wäre schon viel gewonnen.

Das Interview führte Katja Maurer.

Projektstichwort

Neben der staatlich finanzierten Minenräumung unterstützt medico zwei

OMAR-Frauen-Teams, die Frauen und Kinder über die Gefahr von Minen und nichtexplodierten

Sprengkörpern aufklären. Die Programme sind sehr beliebt, weil sie einen

didaktisch klug ausgearbeiteten und unterhaltsamen Unterricht anbieten.

Aus Spenden wird auch die hauseigene Tagesklinik von MDC gefördert, die

auch der lokalen Bevölkerung offen steht. Die Klinik bietet unter anderem

frauenärztliche Untersuchungen und Familienplanung an. Erstmals soll jetzt

auch eine Kombination aus Physio- und Psychotherapie für Frauen angeboten

werden. Für diese Arbeit brauchen unsere Partner dringend Unterstützung.

Das Stichwort dafür lautet: Afghanistan.

 

 

Veröffentlicht am 07. März 2007

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