Kommentar

Die WeltüberflüssigenEin Versuch über Dritte Wege, den Weltmarkt & die Aktualität der Utopie

Für Gianni Agnoli, zu seinem 75. Geburtstag: »senza paura«; die Redaktion.

Politiker werden kritisiert. Das gehört zum normalen Alltagsgeschäft der Öffentlichkeit und legitimiert sich durch die zahlreichen Fehlleistungen von Regierung und öffentlicher Verwaltung, durch italienische und französische Korruptionsfälle, neuerdings deutsche. Diese Kritik, mag sie auch notwendig sein, verstellt indes die Sicht auf das Wesen der Politik: Politik als System der Machteroberung, Erhaltung und -ausübung. Von diesem wirklichen Sinn, also von der institutionellen, teils konstitutionellen Form der Staatlichkeit, in die sich gesellschaftliche und ökonomische Herrschaft übersetzt, geht der nun folgende Text aus.

Aufgefordert, meine vor Jahren begonnene Kritik der Politik fortzuschreiben, das heißt, das kritische Geschäft von der Kritik der politischen Ökonomie und der kapitalistischen Produktionsweise weiterzutreiben zur Kritik des Zwangscharakters der gesellschaftlichen Reproduktion und deren »Zusammenfassung« in der Form Staat (Marx), sehe ich mich in der gegenwärtigen Lage mit einer entgegengesetzten Tendenz konfrontiert. Sie wirkt vor allem bei den gesellschaftlichen Bewegungen, Gruppierungen, teils auch Organisationen, die vormals radikale Veränderungen und Emanzipation anstrebten: Die ehemals emanzipatorische Linke läßt offensichtlich in der Ausweglosigkeit der eigenen Verstrickung mit der veränderten Wirklichkeit die Hoffnung fahren. Es stellt sich aber keine gemeine Resignation ein, noch zieht sich die Linke in privatisierte Nischen zurück. Vielmehr bleibt sie aktiv, ändert nur die Position, sagt dem früheren Standpunkt Lebewohl, drängt sich zur institutionellen Macht, macht sich selber zum Staat und wird – sozialdemokratisch.

Das Nachdenken soll diesem veränderten Bewußtsein gelten, das sich inzwischen vom kritischen Geschäft entfernt und nunmehr in die Staatlichkeit zurückgefunden hat. In den Mitteln des Staates sucht es das Heil gegen die Auswüchse des weltweit ausgebrochenen Neoliberalismus. Angesichts dieser Auswüchse, die zu einer verschärften Kritik an der siegreichen Produktionsweise und an deren politischer Organisation hätten führen sollen, findet sich auf der linken Seite des wieder einheitlich gewordenen Landes nur mehr das Gegenteil. Derart orientiert sich die Linke, ungeachtet der globalen Wirklichkeit, umkreisgebunden am vorhandenen Staat. Er soll nicht mehr abgeschafft, vielmehr in seinen besten Teilen ausgebaut werden. In diesem ordentlich verfassten Staat möchte sie, zusammen mit den etablierten Führungsgruppen, einen sozioökonomischen »Dritten Weg« einschlagen. (...)

Als Mussolini den Faschismus als Dritten Weg zwischen Kapitalismus und Kommunismus bezeichnete, klang es innovativ. Von der Sache her handelte es sich um einen reinen flatus vocis, einen Wortfetisch. Dabei hatte die Parole durchaus einen gesellschaftspolitischen Sinn. Es galt, eine nicht gerade kapitalfreundliche Industriearbeiterschaft und eine ebenso latifundienfreundliche Landarbeiterschaft in die »neu« genannte Ordnung zu integrieren.

Heute aber, da die traditionelle Entgegensetzung Kapitalismus – Kommunismus hinfällig geworden, erhält der Dritte Weg einen ganz anderen Sinn, denn die Frage ist, was als das Entgegengesetzte des losgelassenen Kapitals und der liberaldemokratischen Euphorie in der Gegenwart stehen soll. Ist der Gegenpol der verfasste Staat der Bundesrepublik und der in Europa sogenannte Rheinische Kapitalismus? Da scheint die Sache nicht recht zu stimmen, denn man wüßte nicht, warum die Wirklichkeit der Bundesrepublik in einem diametralen Gegensatz zur eigenen Wirklichkeit stehen sollte. Nein, gegenüber der neoliberalen Wirklichkeit kann ich mir nur eine utopische, dennoch richtige, obzwar unmöglich scheinende Theorie der Emanzipation denken: die Assoziation der Freien und Gleichen. Der Dritte Weg indes verläuft irgendwo zwischen jener Wirklichkeit und diesem Traum.

Die Linke akzeptiert die Wirklichkeit nicht voll und leugnet zugleich die Wahrhaftigkeit des Traums. Sie reiht sich in das Vorhandene, Erfreuliche, Effiziente ein: in die grundgesetzlich vorgeschriebene Ordnung. In ihr sucht sie, zusammen mit allen anderen Verantwortlichen, die Lösung. Nur, worin soll sie bestehen? In der Zähmung des wilden Kapitalismus, in einer gesetzlich oder sonst wie verwirklichten Milderung des entgrenzten, alles beherrschenden Marktes? Hier und da hört man sogar von einer »Humanisierung« des Kapitalismus reden, womit ungewollt seine Barbarei festgestellt wird. Der Dritte Weg läge also in einer grundgesetzlich geregelten, nicht ganz rücksichtslosen liberaldemokratischen Politik und in einer Eingrenzung der Rückkehr zum Manchester-Kapitalismus. Eine Politik des faktisch Möglichen und ein Kapitalismus mit sozialdemokratischem Antlitz. (...) Wenn Hegel meinte, daß die Wirklichkeit es nicht mehr aushält, wenn das Bewußtsein sich ändert, so können wir heute eine Umkehrung feststellen. Das linke Bewußtsein hat die Veränderung nicht aushalten können, die sich in der Wirklichkeit, vom Markt bis zur politischen Form, ereignet hat.

Nun taucht in jüngster Zeit die Möglichkeit eines ideologischen Auswegs auf, um die Hinwendung zum Verfassungsstaat zu rechtfertigen. (...) Nur sieht vom Standpunkt der angepassten Linken die Perspektive anders aus, zeigt sich doch der Verfassungsstaat als das, was in Ermangelung der Möglichkeit radikaler Veränderung an Positivem übrigbleibt: Er garantiert eine, durch Rechtskautelen gezähmte, durchaus menschenfreundliche, vielleicht sogar irgendwie alternativ verwendbare Form der politischen Macht. Über diese Brücke gelingt der Übergang von der Absage an das Kapital und seinen Staat zur Versöhnung mit dem einen, zur Zustimmung zu dem anderen; von der Theorie und dem Bewußtsein einer gesellschaftlichen Aufgabe zur Ideologie und zum falschen Bewußtsein einer falschen Wirklichkeit. Falsch, weil den Patrioten inzwischen die verfasste patria, dem Binnenmarkt der Weltmarkt, dem Nationalstaat das »wilde«, global gewordene Kapital davonläuft. (...)

Die Situation ist heute nicht anders, als sie schon bestand bei der Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise und beim Aufstieg des Bürgertums zur Macht. Diesem Aufstieg verdanken wir eine der erstaunlichsten politischen Leistungen der Geschichte. Mit dem zumindest ideologisch gegebenen Durchbruch der Volkssouveränität galt es, einer möglichen Anarchisierung der politischen Verhältnisse entgegenzutreten. So wurde das institutionelle Mittel erfunden, auf der einen Seite der zunehmenden Präsenz abhängiger Massen, des Volks also (Ausweitung des Wahlrechts bis endlich zum Frauenwahlrecht), Rechnung zu tragen, zugleich aber diese Massen aus den politischen Entscheidungsprozessen fern zu halten. Im repräsentativen System sorgt das Volk für den Personalwechsel (Parteien und Personen) unter den Machtträgern, deputiert ihnen dafür die Entscheidungsmacht. Dies alles in der Rückkoppelung der Macht an klare, übersichtliche Regeln. Im Gegensatz zu früher sind in diesem System die jeweils wechselnden Oligarchien an Recht und Gesetz gebunden. Die Leistung lag und liegt also in der Konstitutionalität, an die alle politischen Machtträger gebunden bleiben: in einer konstitutionellen Oligarchie, die wir uns angewöhnt haben, Demokratie zu nennen, genauso wie wir die UdSSR Sowjetsystem nannten, obwohl ein jeder wußte, daß die Sowjets zu einer Fiktion herabgesunken waren.

Das neue Problem indes liegt im veränderten Verhältnis von politischer Macht und Gesellschaft. Denn auch das globale Kapital erfordert die Regelung der gesellschaftlichen Reproduktion, die umso schwieriger ist, als wir zwar einen Weltmarkt, aber keine Weltgesellschaft haben. Die Richtung dürfte allerdings konstant bleiben: Eine Regelung muß gefunden werden, weil auch die globalisierte Ökonomie, trotz des Deregulierungsgeredes, ohne institutionell geordnete gesellschaftliche Verhältnisse nicht auskommt. Wie zur Zeit des Manchester-Kapitalismus kann nur eine solche Regelung die Selbstzerstörung des entgrenzten Marktes verhindern und die Weiterexistenz der Gesellschaft garantieren. Die »unsichtbare Hand« des freigelassenen Marktes reicht dazu ebenso wenig aus, wie auch der Binnenmarkt alten Stils nicht zurechtkam ohne staatliche Ordnung.

Wie ist aber im entfesselten Weltmarkt – ohne daß eine Weltgesellschaft existierte – Weltpolitik möglich? Wie wird sich in dieser Situation Herrschaft in eine institutionelle Macht gießen, die all die alten menschenfreundlichen Rechtskautelen berücksichtigt und das Prinzip der Volkssouveränität nicht als obsolet erklärt, obwohl es ein Weltvolk gar nicht gibt? Dies ist sogar nur eine Seite des Problems. Eine andere kommt hinzu, vor der die politische Reflexion sich fürchtet – und die jede Emanzipationsbewegung in eine arge Bedrängnis führt. Wir haben es nicht nur mit globaler Ökonomie, mit den Schwierigkeiten der sich so nennenden Industrienationen zu tun, sondern auch mit dem Rest der Welt, mit der redundant population.

Zuvörderst zu den Klassikern: Daß der Kapitalismus den Reichtum der Nationen schafft; galt nach Adam Smith als sicher. Hegel stimme dem durchaus zu, fügte in der Rechtsphilosophie indes etwas an, das weder Smith noch Ricardo gesehen hatten: daß sich die Anhäufung der Reichtümer vermehrt, dies zugleich aber zur »Vereinzelung und Beschränktheit der besonderen Arbeit und damit die Abhängigkeit und Noth der an dieser Arbeit gebundenen Klasse« (§ 243) führt. Hegel entwickelte das Problem weiter und kam zu dem Schluß, daß die bürgerliche Gesellschaft bei dem Übermaß des Reichtums nicht in der Lage ist, »dem Übermaß der Armut und der Erzeugung des Pöbels zu steuern« (§ 245). Was Hegel Pöbel nannte, waren die damals schon marginalisierten Massen. Hier hatte Ricardo die richtige Erkenntnis: Der Kapitalismus schaffe zwar Reichtum, aber auch redundant population. Im ersten Band des Kapitals ging Marx darauf ein, zollte Ricardo das ihm gebührliche Lob, meinte jedoch, dies sei eine zyklische Erscheinung. Beim Wiederaufschwung der Kapitalakkumulation würde die überflüssige Bevölkerung vom Produktionsprozess wieder absorbiert werden. Dabei hatten alle 4 Klassiker, Smith, Ricardo, Hegel und Marx, verständlicherweise nur Europa im Sinn. Der Rest der Welt kam für sie – kein Skandal, vielmehr verständlich – einfach nicht in Betracht.

Wir können heute feststellen, daß Ricardo Recht behalten hat. Überflüssige Bevölkerung gibt es im Rest der Welt in Milliardenhöhe. Sie fällt aus den Annehmlichkeiten des Weltmarkts heraus, gerät gleichwohl unter die Folgen der totalen Subsumtion ökonomisch-gesellschaftlicher Prozesse, unter die »Gesetze des Marktes« und die Erfordernisse der Akkumulation. Der Rest der Welt stellt ein Problem dar, dem wir wohl mit noch so ausgedehnten Sammlungen von Brot für die Welt nicht beikommen. Die überflüssige Bevölkerung ist eine Dauererscheinung. Die Frage ist, ob diese Überflüssigen eine Negation des sie außen vor lassenden Systems sein können. Sie sind jedenfalls – mögen sie auch noch im Zustand der Passivität, der Resignation und der ohnmächtigen Geduld verharren weder integriert noch integrierbar. Sie stehen vor den Toren des ökonomisch gesicherten und gesellschaftlich verteilten Wohlstands. Der Weltmarkt braucht sie höchstens als Ressourcenlieferanten, aber nicht als Subjekte gesellschaftlicher und ökonomischer Tätigkeiten. Wäre die redundant population nur im Rest der Welt zu finden, so könnten die Machtmittel des Nordens die Schwierigkeiten meistern. Inzwischen aber hat der Rest der Welt, der »Süden« den industrialisierten Norden eingeholt. Im ricardoschen Verstande des Wortes findet sich auch bei uns zu Hause überflüssige Bevölkerung in der landeseigenen Art der Arbeitslosen. Die Arbeitslosigkeit – hört man hin und wieder – sei durch technische Prozesse und Veränderungen in der industriellen Produktion und im Dienstleistungssektor »strukturell bedingt«, und das heißt nichts anderes als: keine zyklische Erscheinung, sondern ein Dauerzustand. Ricardo also und nicht Marx.

Die politische Form des bürgerlichen Staats mit seiner Symbiose von gesellschaftlichen und ökonomischen Führungsgruppen gründete sich auf der stabilen Koppelung von Binnenmarkt und National-Staat. Löst sich die Koppelung auf, so geht die Wirklichkeit des globalen Marktes neuen organisatorischen Formen entgegen. Eines Personalwechsels in der Politischen Klasse bedürfte es dabei nicht, denn das Personal bleibt verfügbar für jeden Formwechsel. Es wird sich – wieder einmal – eine »Neue Ordnung« etablieren, ausgestattet mit noch ordentlicheren Machtstrukturen. Eine Verhärtung des objektiven Zwangscharakters der Gesellschaft steht somit in Aussicht. Dies schließt nicht aus, daß anstelle der Willkürherrschaft eine neue geregelte Verfassung treten wird – wieder mit der erbaulich-himmlischen Seite der Deklarationen und der irdischen der Spielregeln. Die Errungenschaften bürgerlicher Revolutionen brauchen nicht verloren zu gehen. In dieser möglichen neuen Verfassung werden sie ihren gesicherten Platz haben, als blaue Blume am Knopfloch des Zwangsjacketts.

Nicht nur der Markt weitet sich aus, sondern auch die Aporie: im Denken, Tun, im Zusammenleben. Der Emanzipation stehen harte Bedingungen und schwere Zeiten bevor. Hier gilt es, die Utopie, die viel geschmähte von der Assoziation der Freien und Gleichen aus der Verbotszone zu befreien, in die interessierte Ideologen der Ideenlosigkeit, die Vertreter der zweckrationalen Vernunftlosigkeit sie gedrängt haben. (...) Für die Weltüberflüssigen sind Freiheit und Gleichheit ein materielles Ziel: Freiheit als Befreiung von Hunger und Not, Gleichheit als gleicher Zugang zu den Angeboten des Weltmarktes. In diesem Ziel liegt für sie der Sinn der Emanzipation. (...) Die Orientierung an der Utopie und am Prinzip Hoffnung ergänzt sich durch ein anderes Prinzip, das jeden Neubeginn kennzeichnet und aus dem alles Leben entsteht: das Prinzip Negation. (...) Die Verweigerung soll vielmehr in die gesellschaftliche Wirklichkeit eintreten, dort als das klare, bewußte, aber allemal wirksame Nein gegen die falsche Entwicklung handeln. Die Orientierung an der Utopie ist der einzig reale Ausweg aus der Inhumanität, in der sich die Weltgesellschaft befindet.

Johannes Agnoli, der Verfasser des Buches »Transformation der Demokratie«, lebt in der Toskana und wurde am 22. Februar 75 Jahre alt.

Veröffentlicht am 01. Juni 2000

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