Irrwege, Auswege

Der Rundschreiben-Kommentar

»Wenn ich Sie von medico sehe«, so Herr N. kürzlich in Berlin, »denke ich immer an Leute, die in der Öffentlichkeit viel über Minen reden, aber noch nie eine geräumt haben.« »Das stimmt«, antwortete der Mann von medico und fügte anerkennend hinzu: »Minenräumung ist eine gefährliche Beschäftigung. Um sie entbehrlich zu machen, haben wir für das Verbot von Minen gestritten.«

I.

Wie man weiß, ist Vorbeugen besser als Heilen. Unausgesetzt ist heute davon die Rede – und Politiker aller Couleur betonen auch die Wichtigkeit von »Prävention«. Unklar bleibt dabei freilich, was sie darunter verstehen und auch, wie über gelungene präventive Aktionen zu berichten wäre. Letzteres, so absurd die Frage klingt, ist angesichts der gesellschaftlichen Dominanz der Medien und der Medialisierung von Politik durchaus von Bedeutung. Wenn keine Krise lärmend von sich reden macht und auch sonst nichts spektakulär zutage tritt, dann gibt es eben auch nichts, das für Einschaltquote und Profilierung garantieren könnte. Es käme einer Illusion gleich, darauf zu hoffen, daß zur besten Sendezeit über Menschen berichtet würde, die beispielsweise mit der Aufbereitung sauberen Trinkwassers beschäftigt sind oder für die Beseitigung des Mülls sorgen. Der aufsehenerregende neue chirurgische Eingriff, die Rettung eines in Trümmern Verschütteten, Umstände, die Gefühle von Angst und Hoffnung hervorrufen, all dies eignet sich viel eher für Primetime-News und Show-Time. Nein, Prävention als die Schaffung von Lebensumständen, die wirtschaftliche Zerrüttung, Massenarmut und Marginalisierung im vorhinein ausschließen, ist nicht die Sache der Medien, sondern Aufgabe der Politik.

Was aber, wenn die herrschende Politik zu einer menschenwürdigen Gestaltung der sozialer Verhältnisse offenkundig immer weniger imstande ist und der Zug, so der deutsche Außenminister, gar in die andere Richtung geht? Wenn Politik zur Verwaltung des Bestehenden verkommt und sich auf die Anpassung an scheinbar unumstößliche ökonomische und technologische Sachzwänge reduziert? Unter solchen Umständen steht es schlecht um die Idee der Prävention. Sie verkümmert zur bloßen Gefahrenabwehr und stabilisiert obendrein noch jenen prekären Status quo, der für einige Wohlstand bedeuten mag, für die vielen anderen aber Armut, Krankheit und Not in Permanenz.

Nicht, daß nicht alle um das Elend, das in der Welt herrscht, wüßten. Auch von der Not und den wachsenden Gefahren ist ja unablässig die Rede. Dabei geht es nicht zuletzt um die Durchsetzung eines gesellschaftlichen »Abwehrkonsenses«, der zur Unterwerfung unter die »Sachzwänge« veranlaßt. Angesichts der Klimakatastrophe, des drohenden Finanzcrashs und all der anderen globalen Krisen scheint eine wirksame Bekämpfung der Gefahren nur noch durch Einführung von immer unheilvollerer Technik und universeller Sicherheitspolitik möglich. Längst werden die Maßnahmen, mit denen der Krise begegnet werden soll, nicht mehr auf demokratisch legitimiertem Wege bestimmt. Über die Einführung von Gentechnik als vermeintlicher allround-Antwort auf die Nöte und Bedrängnisse der Welt wird ebensowenig durch demokratische Willensbildung entschieden wie über die neue NATO-Doktrin. Die politische Entscheidungskompetenz ist von den Parlamenten auf ein immer undurchsichtiger werdendes komplexes Geflecht von internationalen Organisationen, einigen Staaten, multinationalen Konzernen und zunehmend auch mafiöser Kreise übergegangen.

Die neue Welt, die so Gestalt annimmt, ist die Welt der internationalen Kapital und Finanzmärkte, deren Absicherung von mächtigen politischen Clubs, wie den »G7Treffen«, dem »Internationalen Währungsfonds« (IWF) oder der »Welthandelskonferenz« (WTO) gewährleistet wird. Dabei müssen sich die politischen Manager der »Sachzwänge« durchaus auch um das Elend der Welt kümmern und für »Konfliktbewältigung und Krisenprävention« sorgen. Die Ausbreitung von AIDS, die Zunahme gewalttätiger Konflikte, die massenhafte Flucht von Menschen, der unkontrollierte Handel von Diamanten, ja selbst Menschenrechtsverletzungen können zu ernsthaften Gefahren für den »Wirtschaftsstandort«, mit anderen Worten: für die Realisierung der Rendite werden. Eine Präventionsstrategie, die aber nur auf eine effizientere Verwaltung des Elends aus ist, hat mit Vorbeugung im eigentlichen Sinne nichts mehr zu tun. Ihre Absicht ist einzig noch die Früherkennung von Schäden, um sie mit technischen Interventionen in den Griff zu bekommen, bevor sie gefährlich außer Kontrolle geraten.

Wirkliche Prävention aber ist kein Eingriff, der autoritär von oben verordnet werden könnte. Prävention bedarf der sozialen Verankerung und der partizipativen Mitwirkung bewußt handelnder Menschen. Zwar können Interventionen, die sich allein aus der Logik der »Sachzwänge« legitimieren, kurzfristig Entlastungen ermöglichen. Auf Dauer aber führen sie gerade wegen des Verzichts auf demokratische Optionen notwendig in die Irre.

II.

Vorbeugen, so heißt es, kann man heute ohne Ende, die Krise ist immer bereits da. In Ländern wie Angola haben jahrzehntelange kriegerische Auseinandersetzungen zu einer fast vollkommenen Zerstörung dessen geführt, was Prävention zur Voraussetzung hat. Wo Menschen aufgrund prekärer Lebensumstände nicht über den Tag hinaus planen können und kein stabiles Sozialgefüge für ein Minimum an Sicherheit sorgt, können Überlegungen und Appelle, die in die Zukunft hinein reichen, schnell als Illusion abgetan werden. Daraus aber den Schluß zu ziehen, daß einzig noch die »humanitäre Intervention« helfe, mithin jener Mix aus militärischem Eingriff, Nothilfe, Sozialtechnik und Umweltschutz, auf den sich derzeit die NATO mit neuen Abteilungen und Konzepten für zivilmilitärische Querschnittsaufgaben vorbereitet. Prävention erfordert nicht die Ausweitung des militärischen Auftrages, sondern die Rekonstruktion des Sozialen. Auch wenn damit langwierige Prozesse verbunden sein mögen, die keinen »quick impact« zulassen. Die soziale und wirtschaftliche Reintegration der Opfer von kriegerischer Gewalt und Repression, für die medico sich u.a. in Chile, Südafrika, Mosambik, El Salvador und Angola einsetzt, gelingt nur, wenn zugleich zivilgesellschaftliche Macht zurückgewonnen wird. Mit ein paar geräumten Minen, mit Prothesen, Medikamenten und vereinzelter Psychotherapie, ist es nicht getan, auch wenn solche Hilfen für viele Menschen existentiell wichtig sind und von medico deshalb nach Kräften geleistet werden. Ziel von solidarischer Unterstützung muß die strukturelle Prävention sein, die umfassende Garantie der sozialen Menschenrechte, die Rückgewinnung einer nicht an elitären Interessen ausgerichteten Sicherheit, die Transformation von Bürgerkriegsökonomien in zivile Ökonomien und insbesondere die Gewährleistung von demokratischer Partizipation.

III.

Der Ausweg aus den prekären Weltverhältnissen erfordert die soziale Bewegung auf internationaler Ebene. Ansätze für eine zivilgesellschaftliche Gegenmacht, die im global Kontext noch aufzubauen ist, liegen in jenen internationalen Netzwerken, in den NGOs, lokale Selbsthilfeorganisationen, Basisbewegungen, Kirchen, Menschenrechtler und kritische Wissenschafter aus aller Welt gemeinsam für die Kontrolle und Veränderung des Globalisierungsprozesses streiten. Auch wenn Netzwerkarbeit in der Regel unspektakulär bleibt und auf die Not von Menschen nicht durch unmittelbar sichtbares »tatkräftiges Zupacken« antwortet, belegen gerade die Erfolge, die internationale Netze erringen konnten, daß sie auf dem richtigen Weg sind. Auch medico arbeitet seit Mitte der 80er Jahre verstärkt auch im Kontext von Kampagnen, die von internationalen Netzwerken getragen werden. Ob es gegenwärtig um die Verhinderung eines Staudammprojektes geht, das Zigtausenden von Menschen ihrer Existenz berauben würde, oder um die Erarbeitung von Konzepten für die psychosozialen Versorgung Menschen in kriegsgeschädigten Gesellschaften, wofür der Austausch über praktische Erfahrungen die Grundlage bildet, immer sind es eigenständige und international verbundene Zusammenschlüsse von sozialen Projekten, die für die Expertise und den nötigen öffentlichen Druck sorgen. Über Minen hat medico in den zurückliegenden Jahren in der Tat viel geredet. Gemeinsam mit Partnern in aller Welt haben wir nicht nur ein völkerrechtlich bindendes Waffenverbot durchsetzen können, sondern auch ein viel beachtetes Konzept für die Rehabilitation von Kriegs und Minenopfern erarbeitet, das dem sozialen und partizipativen Ansatz verpflichtet ist und die praktische Arbeit in aller Welt beeinflußt hat. Seit kurzen sind diese »Bad Honnef Guidelines«, die sich gegen jede Form von Interventionismus aussprechen, auch in arabischer und chinesischer Sprache erhältlich. Partnerschaftsorientierte Projekte, wie sie medico fördert, erweisen sich im Idealfall als die exemplarische Vorwegnahme von befreiten sozialen Verhältnissen, die in Eigenverantwortung gestaltet werden. Dazu muß sich Hilfe ins politische Handgemenge begeben und sich auf allen Ebenen stark machen: vor Ort in der solidarischen Begleitung von Menschen und ihren Projekten ebenso wie in der kritischen Auseinandersetzung mit den globalen Verhältnissen. Ohne eine kritische internationale Öffentlichkeit und ohne die Vernetzung der an der sozialen Basis arbeitenden Gruppen und Organisationen wird es keine Umkehr der herrschenden Krisendynamik geben und Prävention das bleiben, was sie im Sprachgebrauch der Mächtigen im Augenblick meint: die Absicherung einer privilegierten Elite vor den Gefahren, die von den anderen, den Ausgegrenzten, drohen, ein cordon sanitaire, der mithilft, die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich nicht zu überwinden, sondern unüberwindbar zu machen.

Thomas Gebauer

Veröffentlicht am 01. November 2000

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