Hilfe oder Beihilfe?

Höchste Zeit für die Repolitisierung von NGOs

Warum ist über NGOs zu reden? Weshalb eine Debatte über zivilgesellschaftliche Organisationen, die für viele von uns nicht als Teil des Problems gelten, sondern für Veränderung stehen? Ein Plädoyer zum kritischen Verständnis von NGOs und für eine neue Konzeption von Zivilgesellschaft.

1. Die wachsende Bedeutung von NGOs - ein Reflex auf den Neoliberalismus?

Seit den 1980er Jahren hat eine wachsende Zahl von NGOs die politische Bühne betreten. Darunter lokale Bürgerinitiativen, gemeinnützige Wohltätigkeitsvereine, internationale Menschenrechtsorganisationen, Öko-Aktivisten usw. – ihre Zahl wird unterdessen auf 50.000 bis 100.000 weltweit geschätzt. Sie alle beanspruchen, selbstlos und für das Gemeinwohl, wenn nicht der gesamten Menschheit tätig zu sein. NGOs wurzeln in unterschiedlichen Kontexten und Epochen. Manche sind im Zuge der Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts entstanden, andere entstammen religiösen Zusammenhängen. Zuletzt bildeten sich viele NGOs als Reaktion auf jene gewaltigen politischen Transformationen, die mit der neoliberalen Globalisierung einhergegangen sind. Zwei Aspekte müssen dabei hervorgehoben werden. Der eine bezieht sich auf das ideologische Gerüst des Neoliberalismus, der andere auf dessen Auswirkungen auf die gesellschaftlichen Verhältnisse.

Bekanntlich zählt zum Kern der neoliberalen Strategie die Behauptung, dass private Initiative prinzipiell der öffentlichen überlegen sei. Mit ihrer These: „There is no such a thing as society“, pries Margret Thatcher Ende der 1980er Jahre die Vorstellung, dass es zur Gestaltung gesellschaftlichen Lebens letztlich gar keiner Politik bedarf. Vor allem sozialstaatliche Instanzen könnten durch Marktmechanismen ersetzt werden. Pierre Bourdieu, der französische Soziologe, sprach in diesem Zusammen von einer „Politik der Ent-Politisierung“, die an die Stelle von gesellschaftlicher Verantwortung die Eigenverantwortung gesetzt und so die Privatisierung gesellschaftlicher Institutionen vorangetrieben hat. Im Zuge dieser Politik ist – ob gewollt oder nicht – auch die private Initiative von NGOs befördert worden.

Der zweite Grund für die wachsende Bedeutung von NROs hat mit den Auswirkungen der wirtschaftlichen Globalisierung zu tun, genauer: mit der zerstörerischen Dynamik, die mit der weltweiten Entfesselung des Kapitalismus einhergeht. Bekanntlich schrumpften im Zuge der fortschreitenden Deregulierung der Ökonomie die Spielräume der Politik. Multinationale Unternehmen entzogen sich der Kontrolle nationaler Regierungen; letztere sind heute kaum noch imstande, für grenzüberschreitende Probleme wie den Klimawandel, der Schattenwirtschaft, den Auswüchsen des Finanzmarktes, dem illegalen Waffenhandel usw. nachhaltige Lösungen zu entfalten.

Während die Welt auf wirtschaftlicher Ebene zusammengerückt ist, hat sich auf politischer Ebene keine entsprechende internationale Struktur herausgebildet. Weder entstand ein „Weltstaat“, noch eine funktionierende internationale Föderation von Staaten, noch multinationale Institutionen, die zu einer demokratisch legitimierten politischen Steuerung (governance) der Verhältnisse befähigt wären. In diese Lücke sind NGOs vorgestoßen. Mit einigem Erfolg drängen sie seitdem auf neue rationale Formen von global governance. So spielten NGOs eine wichtige Rolle bei der Schaffung des Internationalen Strafgerichtshofs, bei der Verbesserung des Zugangs zu antiretroviralen Medikamenten, beim Verbot von Landminen usw.

2. NGOs als ambivalente Akteure

Der erste Teil des Kompositums „Non governmental-“ beinhaltet keineswegs, dass NGOs staatliche Politik also solche ablehnen. Im Gegenteil: viele NGOs suchen nachgerade die Zusammenarbeit mit Staaten und leisten dabei oft das, was eigentlich von Regierungen zu erwarten wäre.

Sie helfen bei der Benennung gesellschaftlicher Probleme und kümmern sich um die Beeinflussung der politischen Tagesordnung. Sie fungieren als Frühwarnsysteme, mobilisieren das Wissen für mögliche Lösungen und planen deren Umsetzung. Sie sorgen für Wohltätigkeit und jene Sozialfürsorge, die Staaten nicht mehr leisten, sei es, weil ihnen dazu die fiskalischen Mittel fehlen oder weil sie darin keine öffentliche Aufgabe mehr sehen. Ihre soziale Aufgaben und Verpflichtungen konnten die Staaten umso eher vernachlässigen, wie sie von NGOs übernommen wurden. Wobei mitunter ein skurril anmutender Rollentausch zu beobachten ist und es parallel zur Privatisierung von staatlichen Aufgaben zu einer Art „Staatswerdung“ von NGOs gekommen ist. Ein grundlegender Unterschied darf dabei nicht übersehen werden: Im Gegensatz zu staatlichen Institutionen sind NGOs den Bedürfnissen und Rechtsansprüchen der Menschen nicht formell verpflichtet. Gegenüber öffentlichen Einrichtungen können Einzelne noch Rechte einklagen, nicht aber gegenüber NGOs. So gesehen ist mit dem Bedeutungszuwachs von NGOs nicht nur ein Zugewinn an Demokratie verbunden. NGOs sind zugleich auch Ausdruck des Gegenteils: von fehlender Demokratie.

Das Problem aber geht sogar noch tiefer. Indem NGOs Systemfehler abfedern und beispielsweise die humanitären Auswirkungen bestehender sozialer Ungleichheiten lindern, stabilisieren sie letztendlich den Status quo und tragen zur Legitimierung eines sich auf Ungleichheit gründenden Systems bei. NGOs sind beides: Sie können Teil der Lösung sein und gleichzeitig auch Teil des Problems. Eine solche Sicht mag auf Befremden stoßen; sie bedarf gewiss der weiteren Erläuterung.

3. NROs als Teil des „erweiterten Staates“

NROs gehören zu dem, was wir Zivilgesellschaft nennen. Unsicher werden wir aber, wenn es heißt, den Begriff „Zivilgesellschaft“ zu definieren, zumal heute ganz unterschiedlicher Verständnisse von Zivilgesellschaft miteinander konkurrieren.

Es lohnt der Blick auf die Konzeption, die Antonio Gramsci mit dem Begriff Zivilgesellschaft verband. Gramsci betrachtete Zivilgesellschaft nicht als etwas, das von der politischen Sphäre des Staates völlig getrennt existiert. Im Gegenteil: die politische Sphäre (die Verwaltung, der Regulierungs- und Justizapparat) ist eng mit der Zivilgesellschaft (den politischen Parteien, den Medien, den Gewerkschaften, den Graswurzelorganisationen, dem Unternehmenssektor) verbunden. Beide zusammen, die politische Sphäre gemeinsam mit der Zivilgesellschaft, bilden in Gramsci Verständnis den „erweiterten Staat“.

Es wäre vollkommen irreführend, Zivilgesellschaft als etwas Homogenes anzusehen, das am Ende gar nur aus Akteuren mit „guten“ Absichten zusammengesetzt ist. Das Weltsozialforum ist ebenso Ausdruck von Zivilgesellschaft wie das von der Industrie beherrschte Davoser Weltwirtschaftsforum.

Mit Zivilgesellschaft sind im Verständnis von Gramcsi weniger bestimmte Akteure gemeint, als vielmehr jener gesellschaftliche Ort, an dem sich Meinungsbildung ereignet, politische Entscheidungen vorbereitet werden und der Kampf um „kulturelle Hegemonie“, wie Gramsci es nannte, ausgefochten wird.

In den letzten drei Jahrzehnten waren es neoliberale Grundsätze, die den öffentlichen Diskus dominierten. Journalisten, Wissenschaftler und Politiker stimmten darin überein, dass öffentliche Institutionen ineffektiv seien, Gemeingüter durch Marktangebote ersetzt werden müssten, an die Stelle öffentlicher Verantwortung und Solidarität die privatwirtschaftliche Initiative und das Unternehmertum zu treten habe. Solche Überzeugungen fanden selbst unter denjenigen Widerhall, die schließlich am meisten unter den negativen Auswirkungen des Neoliberalismus zu leiden hatten. Heute gibt es eine leichte Tendenz in die entgegengesetzte Richtung. Mit Blick auf die multiple Krise, die kaum noch zu verleugnen ist, verstärkt sich die Einsicht, dass der Neoliberalismus keine heilbringende, sondern eine zutiefst zerstörerische Strategie markiert.

Die öffentliche Auseinandersetzung, mit der Gesellschaften ihr politisches Handeln ausrichten, umschreibt sehr gut das, was mit „Kampf um die kulturelle Hegemonie“ gemeint ist. Die Eroberung kultureller Hegemonie aber ist die Voraussetzung für Veränderung. Das ist auch in den bereits erwähnten Erfolgsgeschichten – dem Kampf der HIV-Bewegung für Zugang zu AIDS-Präparaten oder die Kampagne gegen die Landminen – zu studieren. Sie waren erfolgreich, weil sie es vermochten, einen Missstand, den anfangs nur Betroffene oder Experten thematisierten, zu einem öffentlichen Thema zu machen. Der Kampf für den Zugang zu AIDS-Präparaten begann mit ein paar Aktivisten. Ihm schlossen sich Studierende in aller Welt an, die den Skandal überzogener Profite anprangerten. Das nahmen Journalisten zum Anlass von Berichterstattungen, was schließlich jene Öffentlichkeit schuf, die Politiker zum Handeln drängte.

4. NGOs zwischen öffentlichen und privaten Interessen

Die politische Sphäre von Staaten folgt weniger den Interessen der Allgemeinheit, sondern in erster Linie den Interessen derjenigen, die die Zivilgesellschaft beherrschen. Die aktuellen Bemühungen zur Lösung der Finanzkrise machen das deutlich. Regierungen handeln zugunsten privater Interessen, dem Bankensystem, das als systemrelevant gilt. Mit der Rettung der Banken stabilisieren sie auch das System. Aus gutem Grund sah Marx in Staaten jenen „ideellen Gesamtkapitalisten“, der - besser als das einzelne private Akteure je könnten - für den Fortbestand des Kapitalismus zu sorgen hat. Öffentliche Institutionen dienen also nicht per se öffentlichen Anliegen.

Andererseits stehen auch Akteure der Zivilgesellschaft im Konflikt zwischen öffentlichen und privaten Interessen. Selbst NGOs, die auf radikale Veränderungen zielen, können nicht losgelöst vom vorherrschenden politischen und wirtschaftlichen System agieren. Sie müssen mit begrenzten Mitteln haushalten, Personal vergüten, Gelder für ihre Arbeit beschaffen, usw. Manche NGOs akzeptieren staatliche Zuschüsse in großem Umfang und geraten darüber in Abhängigkeit. Andere werden kommerziellen Unternehmen, etwa der Pharmaindustrie finanziert und rufen nach Arzneimitteln für Hilfsprogramme, denen die Industrie bei entsprechender Bezahlung - ob steuer- oder spendenfinanziert - nur zu gerne entsprechen will. Um ihr öffentliches Profil zu schärfen, neigen NGOs zu Aktivitäten, die den Medienzugang erleichtern. So lässt sich über spektakuläre Naturkatastrophen viel einfacher berichten als über strukturelle Probleme wie etwa die internationale Migration. Aufgrund interner wirtschaftlicher Zwänge können NGOs nicht jedes beliebige Thema öffentlich ansprechen.

Auf diese Weise fällt die Unterscheidung zwischen Privatem und Öffentlichem – vor allem, wenn das Private für das Böse stehen soll und das Öffentliche für das Gute – nicht so einfach. Eine politischere Unterscheidung scheint vonnöten.

Anstatt die verschiedenen Akteure lediglich nach den Kriterien „öffentlich“ und „privat“ einzuteilen, ziehe ich eine Unterscheidung vor, die „öffentlich“ und „privat“ um di Frage des Eigentums erweitert. Auf der einen Seite stehen (öffentliche wie private) Akteure, die sich der Verteidigung und des Ausbaus jener Gemeingüter verschrieben haben, die auf „sozialem, öffentlichen Eigentum“ fußen, auf der anderen Seite denjenigen, die zuallererst auf den Schutz und die Mehrung von „Privateigentum“ zielen.

Das Beispiel der Weltgesundheitsorganisation macht deutlich, dass beide Stoßrichtungen ein und dieselbe Organisation beeinflussen können. Als öffentliche Einrichtung ringt die WHO intern mit konkurrierenden Gesundheitskonzepten. Auf der einen Seite steht ein Gesundheitsverständnis, das die Bedeutung von Menschenrechten und einer gemeinschaftlich getragenen Verantwortung betont; auf der anderen die Betrachtung von Gesundheit als Ware und Gesundheitsversorgung zuallererst als ein lukratives Geschäftsmodell.

5. NGOs – empfänglich für Instrumentalisierung

Eines der Hauptprobleme von NGOs ist, dass sich nicht vor Instrumentalisierung gefeit sind. Selbst ein Engagement, das auf sozialen Wandel drängt, kann von gegenläufigen Zielsetzungen untergraben werden. Anstatt Menschen dabei zu unterstützen, Elend und Abhängigkeit zu überwinden, können NGOs ungewollt diejenigen Kräfte stärken, die für die prekäre Lage der Welt verantwortlich sind.

Die Gefahr, von anderen in Dienst genommen zu werden, ist umso größer, wie sich NGOs über den politischen Rahmen, der ihnen seitens der wirtschaftlichen und politischen Macht gesetzt wird, nicht im Klaren sind. Immer wieder betonen NGOs eine Art neutrale über den politischen Auseinandersetzungen stehende Haltung und werden damit umso anfälliger für eine Indienstnahme für politische oder kommerzielle Interessen.

6. NGOs als „Verstärkung der Streitkraft“

Es war der ehemalige US-Außenminister Colin Powell, der zu Beginn des Irak-Krieges humanitäre Hilfsorganisationen offen als „Machtmultiplikator und wichtiger Teil der Truppen“ definierte.

Es sollte nicht überraschen, dass NGOs den Verlauf von kriegerischen Auseinandersetzungen beeinflussen können, zum Guten wie zum Schlechten. Es ist bekannt, dass Kriegsparteien beispielsweise humanitäre Hilfsgüter als wichtige wirtschaftliche und politische Ressource begreifen.

Kriegsparteien, die notleidenden Menschen den Zugang zu internationaler Hilfe ermöglichen, verbessern ihr Image und erweitern ihren Wirkungskreis. Kriegsparteien, die diese Lektion gelernt haben, versuchen deshalb seit längerem schon, NGOs systematisch in eine zivil-militärische Zusammenarbeit einzubinden. In Einsatzhandbüchern des Pentagon wird Hilfe unverhohlen als „nicht-tödliches Waffensystem“ eingestuft.

Die meisten NGOs lehnen ihre Einbettung in militärische Strategien ab, aber manche sind nach gerade stolz darauf, mit Soldaten zu kooperieren. In den USA ist der Erhalt von öffentlichen Mitteln daran gebunden, sich gegebenenfalls in sicherheitspolitische Strategien einbinden zu lassen. Sicherheitspolitik drängt nicht auf die Herstellung sozialer Gerechtigkeit, sondern darauf, den Status quo wirksam aufrechtzuerhalten. Kern der „Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik“ der EU ist die Gefahrenabwehr. Das Set an Mitteln, das zur Gefahrenabwehr eingesetzt werden kann, reicht von Militäraktionen, Polizeieinsätzen, über wirtschaftliche Zusammenarbeit bis hin zur Entwicklungshilfe und sogar der Menschenrechtspolitik. Letztere wird nicht mehr als Wert an sich gesehen, sondern lediglich als ein Instrument zur Gefahrenabwehr.

Solange NGOs ihre Instrumentalisierung für Sicherheitsstrategien nicht zurückweisen, laufen sie Gefahr zur Geisel einer Sicherheitspolitik zu werden, die ausschließlich auf die Festigung bestehender Privilegien und damit auch des Elends abzielen. Unter solchen Umständen verkümmern NGOs zu einem auf Dauer gestellten „Krisenmanagement“, das nicht mehr „soziale Gerechtigkeit“ schaffen will, sondern nur noch die Tag für Tag größer werdende soziale Kluft abfedert.

Aber auch diejenigen, die eine formelle zivil-militärischer Zusammenarbeit ablehnen, können unbeabsichtigt für militärische Zwecke missbraucht werden. Indem sie die öffentliche Aufmerksamkeit z.B. auf die Notlage von Flüchtlingen richten, können NGOs zur Erhöhung der Akzeptanz für militärische Interventionen beitragen. Auch das Anprangern von Menschenrechtverletzungen kann das Machtgefüge zwischen den Konfliktparteien verändern.

Solche Dilemmata lassen sich nicht eigentlich auflösen, und schon gar nicht, wenn NGOs versuchen, das Kriegsgeschehen auf ein humanitäres Problem zu reduzieren. Aber anstatt sich der Illusion hinzugeben, NGOs könnten zwischen den Fronten die Rolle eines neutralen Akteurs einnehmen, gilt es ein kritisches Verständnis des eigenen Handelns zu entfalten, sich selbst als politische Organisation zu begreifen.

7. NROs als Werbeträger für kommerzielle Interessen

Die Instrumentalisierung von NGOs geschieht nicht immer auf direktem Wege. NGOs können auch indirekt in Dienst genommen werden. Wenn Umweltgruppen eigene Mittel für die Entwicklung energiesparender Kraftfahrzeuge aufwenden, muss das die Industrie nicht schrecken. Sie kann Ausgaben für teure Entwicklungsprogramme reduzieren und sicher sein, dass das herrschende Mobilitätskonzept, das auf motorisiertem Individualverkehr fußt, nicht in Frage gestellt wird.

Wenn sich Gesundheitsinitiativen lediglich darauf konzentrieren, den Zugang zu Medikamenten und anderen technischen Lösungen zu verlangen, ohne ihr Augenmerk zugleich auf den für Gesundheit notwendigen sozialen und politischen Wandel zu richten, dienen sie auch den Interessen der Pharma-Industrie. So sehr es außer Frage steht, dass Medikamente benötigt werden, eröffnet das ausschließliche Werben für bio-medizinische Lösungen immer auch neue Profitmöglichkeiten.

Wissen ist eine Grundvoraussetzung für die Verwirklichung wirtschaftlicher und politischer Interessen. Mit ihrer Expertise können NGOs zur Stützung des vorherrschenden Wirtschaftsmodells beitragen. Sie können es aber auch herausfordern.

Besonderes Augenmerk muss auf diejenigen zivilgesellschaftlichen Akteure gelegt werden, die man „Philanthrokapitalisten“ nennt. Ich beziehe mich dabei zum Beispiel auf die „Bill & Melinda Gates Foundation“, die sich unterdessen zum weltweit größten privaten Förderer von Gesundheitsmaßnahmen aufgeschwungen haben. Philanthrokapitalisten aber stellen nicht nur Geld zu Verfügung, sie nehmen auch Einfluss auf das, was mit dem Geld geschieht. Sie beeinflussen globale Gesundheitsstrategien. Geschäftsleute wie Bill Gates sind es gewöhnt, Engagement im Zusammenhang von Investition und Ertrag, von Input und Output zu sehen. Die Lösung von Problemen, auch die von gesellschaftlichen Problemen, betrachten sie vor allem als Frage der effizienten Verknüpfung von Marktkräften und Technik. Die Beteiligung betroffener Gruppen scheint dagegen weniger wichtig.

Philanthrokapitalisten sehen sich in der Rolle jener „Macher“, die nicht lange überlegen müssen, sondern die Dinge anpacken und umsetzen. Für ihr „zupackendes Handeln“ brauchen sie weder kultursensible Analysen und schon gar keine Ursachenforschung. So entstehen „one-fits-all“-Konzepte, die Menschen von außen übergestülpt werden.

Auf der Weltgesundheitsversammlung 2011 kündigte Bill Gates an, seine Anstrengungen künftig auf den Bereich Entwicklung und Verteilung von Impfstoffen zu konzentrieren: „Wir können zehn Millionen Leben retten!“. Keine Frage, Impfprogramme sind wichtig, aber sie helfen nicht bei der Überwindung der skandalösen sozialen Ungleichheit, die der eigentliche „Killer“ ist.

Diejenigen, die das „zupackende Handeln“ von Geschäftsleuten loben, übersehen, dass Stiftungen, wie die Gates-Stiftung nur dann etwas zu verteilen haben, wenn sie sozusagen das Problem vergrößert haben. Ein Großteil der 25 Mrd. US-Dollar, die Gates während der letzten zehn Jahre in Gesundheitsprogramme stecken konnte, stammt aus Erträgen von Kapitalanlagen in der einschlägig bekannten Pharma-, Chemie- und Lebensmittelindustrie.

8. NGOs als Beschaffer von politischer Legitimität

Auch so manche NGOs pflegt unterdessen ein „zupackendes Handeln“. Wie Gates ziehen sie eine pragmatische Herangehensweise vor. Sie fragen nicht nach den Ursachen von Hunger, sondern beschränken ihre Aktivitäten auf Nahrungsmittelhilfe.

Natürlich ist es ein ethischer Imperativ, Hunger leidenden Menschen zu helfen. Doch wenn NGOs die Bedingungen ignorieren, die zu Hunger führen, tragen sie perfekt zur jener Ideologie bei, nach der es „keine Alternative“ gebe, nach der Hunger nicht abgeschafft, sondern nur gelindert werden könne und der Verlierer unvermeidbar seien.

Der Erfolg einer solchen apolitischen Herangehensweise misst sich in der Regel an technisch-pragmatischen Kriterien und betriebswirtschaftlichen Kennziffern: an der Quantität der bereitgestellten Hilfeleistung und der Zahl der damit erreichter Menschen. Qualitative Veränderungen, wie eine nachhaltige Verbesserung von Lebensbindungen, treten in den Hintergrund. Mit ihrem „zupackenden Handeln“ helfen NGOs bei der Überwindung politischer Legitimationsdefizite. Eine Welt, die nur Menschen kennt, die entweder Hilfe bereitstellen oder Hilfe empfangen, wirkt viel sympathischer als eine Welt, in der ein paar Reiche sich ihre Privilegien auf dem Rücken von einer Masse von sozial Ausgegrenzten sichern.

Zugegeben, der Pragmatismus, von dem sich heute viele NGOs leiten lassen, ist kein Problem von NGOs allein. Die irrige Vorstellung, sozialer Wandel lasse sich mit betriebswirtschaftlichen Bewertungskriterien messen, ist weit verbreitet. Die McKinseys dieser Welt haben auch vor den Türen der NGOs nicht Halt gemacht. Leider verwechseln auch NGOs viel zu häufig Effektivität mit Effizienz und.

Erst neulich hat eine Gruppe von NGOs eine universelle, flächendeckende Gesundheitsversorgung (Universal Health Coverage (UHC)) gefordert. Das Positionspapier ruft nach Effizienz und führt so betriebswirtschaftliches Denken ein. Wird diesem Ruf gefolgt, steht zu befürchten, dass die Gesundheitsversorgung letztendlich ausschließlich an dem Prozentsatz behandelter Menschen gemessen werden wird. Solche Statistiken aber sagen nichts über die Qualität der Gesundheitsversorgung aus.

Es herrscht große Einigkeit, dass Gesundheit keine Ware ist. Allerdings haben viele Organisationen die betriebswirtschaftliche Perspektive bereits in ihre eigenen Strategien aufgenommen. Immer häufiger sprechen auch NGOs von Stakeholdern, Kontrollmechanismen, Wirkungsanalysen, Verwaltungsmanagement etc. obwohl bekannt ist, dass sozialer Wandel nicht auf dem Reißbrett geplant werden kann.

Es überrascht daher nicht, dass wirtschaftsnahe NGOs weniger zögerlich sind, mit dem Unternehmenssektor zu kooperieren. Als sich medico gemeinsam mit seinen Partnern der „Democratising Global Health Coalition“ gegen die Einrichtung eines Weltgesundheitsforums innerhalb der Weltgesundheitsorganisation aussprach, das zentrale Akteure aus der Industrie, internationale Institutionen wie die Weltbank und einige NROs zusammen an einen Tisch bringen soll, gerieten wir in einen Konflikt mit anderen NGOs, die ein solches Forum ausdrücklich gut geheißen hatten. Die Aufgabe der WHO aber ist es private Akteure zu regulieren, statt sie zu Regulatoren zu machen und damit die Interessenskonflikte anzuheizen.

9. Die Perspektiven von NROs – wie Instrumentalisierung verhindern?

Die NGO-Bewegung steht heute an einem Scheideweg. Um ihre weitere Instrumentalisierung zu verhindern, müssen NGOs die Rolle, die sie innerhalb der globalen Gesundheitspolitik einnehmen, von Grund auf überdenken. Die Beachtung der nachfolgenden fünf Prinzipien könnte bei der Repolitisierung von NGOs helfen:

  • NGOs müssen ein kritisches Verständnis von ihrem eigenen Tun entwickeln. NGOs stehen für wachsende demokratische Teilhabe. Aber gleichzeitig sind sie auch Ausdruck eines sich verschärfenden Mangels an Transparenz und Rechenschaftspflicht von öffentlichen Institutionen. Einige NGOs beanspruchen für sich, jene zu vertreten, die keine Stimme haben. Sicherlich können NGOs Anwaltschaft übernehmen und sich für die Sache der Armen engagieren; sie können aber die Armen und Ausgegrenzten dieser Welt nicht formell repräsentieren. Weder werden NGOs gewählt, noch sind sie der Ort, am dem Menschen ihre Rechte einklagen können. Dafür sind gesellschaftliche Institutionen notwendig, die NGOs nicht ersetzen können.
  • NGOs müssen erkennen, dass sie nicht losgelöst vom herrschenden politischen und wirtschaftlichen Machtgefüge handeln. Nur indem sich NGOs politisch positionieren, können sie sicherstellen, dass ihre Aktivitäten nicht missbraucht werden. Das Konzept einer allgemeinen Gesundheitsversorgung (UHC) muss über Verbesserungen technischer Art hinausgehen. Wird es ernst genommen, ist die Forderung nach UHC ein Politikum, das unmittelbar mit den Interessen derer kollidiert, die aus den bestehenden Ungleichheiten in der Gesundheitsversorgung ihren Profit schlagen. NGOs müssen verstehen lernen, dass Menschenrechte nicht von oben gewährt, sondern von unten durchgesetzt werden müssen. Es sind die jeweiligen Gesellschaften, nicht die Staaten, die den institutionellen Rahmen zur Sicherstellung eines gleichberechtigten Zugangs zu den Menschenrechten schaffen müssen.
  • NGOs sollten sich um ein Höchstmaß an Unabhängigkeit bemühen. Veränderung wird es nur geben, wenn NGOs aufhören, denjenigen zu folgen, die nach einer realistischen Haltung rufen. Wir müssen den Pragmatismus hinter uns lassen. Wenn wir uns anschauen, wie sich die Welt im Namen des Realismus entwickelt hat, wird klar, dass die einzig realistische Haltung heute das utopische Drängen auf Alternativen ist.

Und die Bedingungen für Veränderung sind günstig. Das TINA-Prinzip, nach dem es keine Alternativen gebe, überzeugt die Menschen nicht mehr. Veränderung ist möglich, wenn es einen „Willen zur Veränderung“ gibt, der durch eine engagierte Öffentlichkeit, durch soziale Bewegungen, durch Interessensgemeinschaften und NGOs aktiv geäußert wird. Nur wenn es eine starke Öffentlichkeit gibt, die Regierungen das Leben schwer macht, wird sich jenes „diplomatische Fenster“ öffnen, das Einflussnahme auf politische Entscheidungen zulässt. Veränderung bedarf einer „Gegenmacht“, an deren Zustandekommen NGOs Anteil haben können.

  • NGOs sollten nie ihre Herkunft vergessen. Es ist nicht nur die professionelle Expertise, die NGOs zu akzeptierten Akteuren gemacht hat, sondern es ist die Öffentlichkeit, die NGOs überhaupt erst zum Handeln ermächtigt hat. Nur wenn sich NGOs ihrer Verwurzelung in sozialen Bewegungen, die auf Veränderung drängen, bewusst bleiben, können sie wirklich etwas verändern.
  • Da Veränderung das gemeinsame Handeln möglichst vieler braucht, sollten sich NGOs aktiv vernetzen. Und dies auch dann, wenn es auf Kosten ihrer Sichtbarkeit geht. Politische Wirkkraft entsteht nicht aus der Häufigkeit, in der ein bestimmtes NGO-Logo in der Öffentlichkeit auftaucht. Diejenigen NGOs, die politische Wirkung an der eigenen Sichtbarkeit messen, sind bereits in die Marktfalle getreten.

Zu lange haben wir die Zivilgesellschaft nur verschieden interpretiert. Es kommt jedoch darauf an, sie zu verändern.

Basierend auf einem Vortrag von Thomas Gebauer, Geschäftsführer von medico international, gehalten auf der dritten „People's Health Assembly“, Kapstadt, 8. Juli 2012

Veröffentlicht am 28. Januar 2013

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