Nicaragua

Giftiger Zucker

Industrielle Landwirtschaft richtet Mensch und Natur zu Grunde

Es beginnt mit den Füßen, erzählt Alvaro Gonzalez Davila. „Auf einmal brennen sie wie Feuer.“ Alvaro ist Vater 50 Jahre alt. Fünf Kinder hat er großgezogen. Um seine Familie zu ernähren, hat der Nicaraguaner sein Leben lang hart gearbeitet. Bis seine Nieren aufhörten, richtig zu arbeiten und er deshalb entlassen wurde. Als die Ärzte seine Krankheit bemerkten, war es für die Heilung schon zu spät. Der Zerfall der Niere kann durch teure Medikamente und Dialyse lediglich verlangsamt und gelindert werden.

Zwischen 2005 und 2009 starben in Mittelamerika Recherchen des Internationalen Konsortiums Investigativer Journalisten zufolge jährlich etwa 2800 Männer an chronischer Niereninsuffizienz. In Nicaragua und El Salvador sterben inzwischen mehr Männer an chronischem Nierenversagen als an AIDS. Die meisten von ihnen haben wie Alvaro jahrelang auf den Feldern oder in den Fabriken der Zuckerrohrindustrie gearbeitet. Dabei ist sich die Forschung nicht einig, ob schwere körperliche Arbeit, Hitze und Flüssigkeitsmangel oder die Pestizide und das verunreinigte Wasser Nierenversagen auslösen. Auf jeden Fall ist der rücksichtslose Umgang mit Mensch und Natur aber die Kehrseite der landwirtschaftlichen Produktion für den Weltmarkt. Das Zuckerrohr wird zum Beispiel für Biosprit nach Europa exportiert. Für Alvaro ist klar: Die Agrarindustrie hat sein Leben zerstört.

Konzerne statt Kooperativen

Nach ihrer erfolgreichen Revolution enteigneten die Sandinisten in den 80er Jahren Großgrundbesitzer in Nicaragua und gründeten staatliche Agrarbetriebe und Kooperativen. Heute erlebt das Land eine Umkehrung des Prozesses: Immer mehr Land konzentriert sich in den Händen von immer weniger Großgrundbesitzern, transnationalen Konglomeraten und Agrar-Konzernen. Obwohl die sandinistische Partei seit 2006 wieder an der Macht ist, unternimmt sie ebenso wenig dagegen wie ihre (neo-) liberalen Vorgänger. Im Gegenteil: Die Zuckerrohrindustrie glänzt mit Wachstumszahlen im zweistelligen Bereich. Die Ölpalme breitet sich aus. Der weltweite Kampf um die Ressource Land ist in Zentralamerika in vollem Gange.

Die Familie Lacayo-Argüello, alteingessene Großgrundbesitzer und Industrielle, zum Beispiel, soll Anwohnern zufolge in den letzten Jahren circa 7.000 Hektar Land im Departamento León erworben haben. Der Bau einer eigenen Zuckerraffinerie soll bereits in Planung sein. Alvaros ehemaliger Arbeitgeber, der transnationale Agrar-Riese Pantaleón, hat laut einer Studie der Welternährungsorganisation mehr als 10.000 Hektar Land für den Zuckerrohranbau aufgekauft.

Keine Rechte, keine Wahl

Pantaleón kauft nicht nur Land, der Konzern pachtet es auch. Nicht selten enden Kleinbauern der Region rund um El Viejo als Tagelöhner und Saisonarbeiter auf den eigenen Feldern, für die sie die Nutzungsrechte langfristig abgegeben haben. Dort maximieren sie Profite, an denen sie selbst nicht teilhaben, denn der Lohn ist auch für nicaraguanische Verhältnisse sehr niedrig. Doch die Armut auf dem Land lässt vielen keine andere Wahl.

Der Großteil der Arbeiter wird nur als Saisonarbeiter oder Tagelöhner eingestellt. Das Zuckerrohr ernten sie unter extremer körperlicher Anstrengung in der Hitze des nicaraguanischen Sommers. Häufig wird 12 Stunden täglich und sieben Tage in der Woche gearbeitet. Es gibt kaum Pausen, um auszuruhen oder zu trinken. Wenn die Arbeiter etwas trinken, ist es meist das mit Pestiziden verseuchte Grundwasser.

Vergiftete Brunnen

Der exzessive Pestizideinsatz gefährdet nicht nur die Plantagenarbeiter, sondern auch die umliegenden Gemeinden. In der Comunidad El Pastoral, einem Nachbardorf von El Viejo, wissen und erzählen bereits die jüngsten Schüler, dass die Avionetas, die kleinen Flugzeuge, ihnen Krankheiten bringen. Ohne Rücksicht auf Verluste sprühen diese einen Cocktail verschiedener Gifte über die Felder und über die Dörfer, die von den Zuckerrohrfeldern eingekesselt sind. Das Grundwasser in der ganzen Region ist belastet. Die Kinder trinken es trotzdem – eine Alternative haben sie nicht.

Die lokale Wasserversorgung wird zusätzlich bedroht durch den hohen Wasserverbrauch zur Bewässerung der Felder und der Verarbeitung des Zuckerrohrs. In den Monaten der Trockenzeit versiegen die Brunnen der Kleinbauern, weil die tieferen Brunnen der Industrie ihnen wörtlich das Wasser abgraben.

Grüne Wüsten

Landraub, unwürdige Arbeitsbedingungen und Umweltverschmutzung sind keine vereinzelten Phänomene. Im Süden und an der Atlantikküste Nicaraguas, wo die Ölpalme industriell angebaut wird, kommt es zu ähnlichen Verwerfungen. Aus Honduras und Kolumbien wird berichtet, dass für den Anbau der Ölpalme in großem Stil Menschen vertrieben werden. Von grünen Wüsten aus Soja ist in Argentinien die Rede – um nur einige Beispiele zu nennen.

Unter anderem durch den steigenden Lebensmittelbedarf in aufstrebenden Wirtschaftsmächten wie China, Indien und Brasilien und den Trend zu pflanzlichen Treibstoffen wächst die Nachfrage für Agrargüter. Zucker, Palmöl und Soja breiten sich besonders stark in Lateinamerika aus, wie eine weitere Studie der Welternährungsorganisation belegt. Diese sogenannten „Flex Crops“ können in der Lebensmittelindustrie und zur Energiegewinnung genutzt werden. Deshalb stellen sie für die nationalen und regionalen Eliten Lateinamerikas eine so attraktive Kapitalanlage dar.

Internationale Institutionen wie die Weltbank und viele Regierungen Lateinamerikas - auch die dezidiert linken – fördern die industrielle Landwirtschaft für den Export. Wie der uruguayische Intellektuelle Eduardo Gudynas jüngst in einem Essay erinnerte, setzen echte progressive Reformen aber an den Produktionsverhältnissen an. Das gilt auch für die Landwirtschaft. Die aktuellen Entwicklungen dagegen verstärken die bestehenden sozialen Ungleichheiten, hinterlassen Umwelt- und soziale Probleme für kommende Generationen und treffen heute die schwächsten Gruppen der Gesellschaft.

Entschädigung, aber keine Veränderung

Doch es regt sich auch Widerstand. Seit er entlassen wurde, kämpft Alvaro um Entschädigung. Gemeinsam mit anderen Nierenkranken gründete er die Betroffenen-Organisation ASOTRAIRC, die mit immer radikaleren Methoden auf die Problematik aufmerksam machte. Sie hatten Erfolg. Konzern und Regierung traten mit den 400 organisierten Kranken in Verhandlung. Die Mitglieder von ASOTRAIRC und die Angehörigen der 135 bereits verstorbenen Mitglieder erhalten jetzt medizinische, materielle und finanzielle Hilfe. Sie konnten außerdem den Bau einer genossenschaftlichen Textilfabrik erkämpfen. Aufgrund der Proteste hat die Firma die Arbeitsbedingungen auf den Feldern leicht verbessert. Zumindest verkünden sie das in ihren Werbekampagnen.

Der Staat dagegen unternimmt weder gegen die Ausbeutung, noch gegen die Umweltzerstörung etwas. Zu verführerisch sind die Abgaben der Agrarindustrie für den Staatshaushalt. Zu groß ihr Einfluss auf politischer Ebene. Weiterhin wird jedes Jahr eine neue Generation kranker Arbeiter mittellos entlassen. „Solange sie sprühen, wird das Sterben weitergehen.“ schließt Alvaro entmutigt.

Veröffentlicht am 22. April 2013

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