Für eine neue eigene Ökonomie

REOCONE: Für eine neue eigene Ökonomie

Mexiko besaß einmal so etwas wie eine fortschrittliche Sozialversorgung. Zu ihren Stiftern gehörte der Hamburger Arzt Max Frenk, der vor der Judenverfolgung der Nazis ins mexikanische Exil geflüchtet war. Er brachte aus Deutschland die Idee einer gesetzlichen Krankenversicherung nach dem Vorbild der Bismarckschen Sozialgesetzgebung mit. Im Mittelpunkt des unter seiner Mitarbeit ab 1942 aufgebauten Systems stand das Instituto Mexicano de Seguridad Social (IMSS), das allen formell beschäftigten Arbeitern eine Renten- und Krankenversicherung gewährte. Grundlage der Pflichtversicherungen war das Solidarprinzip: die Gesunden bezahlen die Behandlung der Kranken. Im Vergleich zu anderen Ländern Lateinamerikas und vor allem zum nördlichen Nachbarn USA war die damalige mexikanische Sozialgesetzgebung äußerst komfortabel, zumindest in den großen und mittleren Städten. Auf dem Lande blieb die Idee jedoch ohne Wirklichkeit. Das Ethos der sozialmedizinischen Versorgung wurde rationiert: es galt nicht für die indigene Bevölkerung.

»The way indigenous people are treated by States and the international community will be a major test of the seriousness of our commitment to a genuinely universal human rights regime. If we are serious about development, political participation and human rights, we must address the special situation of indigenous people.«

UN-Generalsekretär Boutros Boutros-Ghali, Eröffnung der »International Year of the World’s Indigenous People«, 10. Dezember 1992

Chiapas: »The survival of the fittest«

Die Antwort auf die Wirtschafts- und Sozialpolitik der mexikanischen Regierung erfolgte am Neujahrstag 1994: der Aufstand des »Zapatistischen Befreiungsheeres« (EZLN) bedeutete den Beginn einer folgenreichen sozialen Revolte. Heute ist die ganze Region Chiapas, die an der Grenze zu Guatemala liegt, militärisch von 50.000 Regierungssoldaten besetzt. Das bedeutet Mord, Vergewaltigung, Flucht & Vertreibung und Verschleppung in Gefängnisse. In solchen Lagen ist Resistenzfähigkeit die Voraussetzung fürs Überleben. Es gelang so über 40 Dorfgemeinschaften der Aufbau einer autonomen Demokratie und Verwaltung. Nun macht das Beispiel des Armenhauses Chiapas sogar Schule in anderen Teilen Mexikos.

»Autonomie«: lokal, aber mit weitem Horizont

Gerade die vielfach mißverstandene Forderung nach »Autonomie« dient hier nicht zur Abschottung nach außen, sondern als Kraftfeld zur Bildung sozialer Widerstandsressourcen, die eine Intervention in den Sphären nationalen und internationalen Handelns ermöglichen. Angesichts eines gemeinsam erkannten Übels, eines bis in die Wurzeln korrupten Staatsapparates, suchen die politisch oft differenten sozialen Organisationen den Austausch untereinander zu intensivieren. REOCONE ist eine solche Transferstation der Vermittlung zwischen sozialen Fraktionen, Dorfgemeinschaften und autonomen Einheiten. In der Erkenntnis, daß der Feind nicht unter den Kleinbauern, Artesaniaverkäufern und Gesundheitspromotoren zu finden ist, bietet REOCONE, Chiapas, ein Forum des Austausches, ein Atelier des Wiederfindens von gemeinsamen Interessen, Wünschen und Bedürfnissen. Verbunden mit dem Aufbau auch ökonomischer Überlebensstrukturen: gerichtet auf die weitere Fundierung von Basisorganisationen als Protagonisten einer zukünftig menschlicheren Gemeinschaft. REOCONE ist eine soziale Bühne: Hier treffen die Kaffeekleinbauern aus Tila und Motozintla auf die Kunsthandwerksproduzenten aus Venustiano Carranza, die Gesundheitsarbeiter aus Chamula auf die Honigproduzenten aus Pantelho. In gemeinsam organisierten Diskussionsrunden sondiert man Differenzen und Gemeinsamkeiten. Nähert sich einander. Man sucht nach Lösungen, die nicht nur keine neue Armut und Abhängigkeit ergeben, sondern vielmehr beitragen, eine Assoziation freierer Menschen aufzubauen.

Das Ziel von REOCONE, Chiapas, besteht eben nicht nur darin, eine wirtschaftliche Überlebensalternative für ihre Mitglieder zu finden, sondern eine solidarische Ökonomie zu begründen, die eigene Ressourcen hat, basierend auf der sozialen Stärke jeder einzelnen Mitgliedsorganisation – um politisches Eingreifen zu ermöglichen: weit über Chiapas hinaus. Wir bitten unsere Spenderinnen & Spender ganz herzlich um Unterstützung für dieses seit 1997 geförderte Projekt unter dem Stichwort: »Mexiko«.

Veröffentlicht am 01. November 1999

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