Fehler im System

Gesundheit ist ein globales öffentliches Gut und muss bei den Post-2015-Entwicklungszielen beachtet werden

Wenn nationale Gesundheitssysteme nicht funktionieren, kann das weltweite Auswirkungen haben: Epidemien verbreiten sich über Grenzen hinweg oder schwere Krankheiten brechen wieder aus. Gesundheit ist daher ein globales­ ­öffentliches Gut und gute Gesundheitsdienstleistungen bereitzustellen eine ­internationale Verantwortung.

Syrien: Im Oktober 2013 wurden erste Fälle von Kinderlähmung registriert. Die Krankheit war in Syrien seit Jahren nicht mehr aufgetreten, aufgrund des Konflikts haben in den letzten Jahren jedoch mehr als eine halbe Million Kinder keinen Impfschutz mehr bekommen. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und das UN-Kinderhilfswerk (UNICEF) bereiten nun die größte Impfkampagne ihrer Geschichte vor. Sie wollen bis zu 20 Millionen Kinder in der ganzen Re­gion immunisieren, um zu verhindern, dass die beinah erfolgreich ausgerottete Krankheit wiederauflebt.

Griechenland: Im Sommer 2012 traten im Mittelmeerland erstmals wieder Malariafälle auf. Die Regierung hatte das Gesundheitsbudget drastisch gekürzt und die Programme zur Insektenvernichtung eingestellt. Auch die HIV-Infektionsrate verdoppelte sich, weil die Spritzentauschprogramme für Drogenkonsumenten massiv eingeschränkt wurden (Stuckler 2013).

Russland, Indien, Südafrika: Tuberkulose-Behandlungen werden in diesen Ländern immer schwerer. Es treten zunehmend multi-resistente oder sogar extrem-multi-resistente Tuberkel-Bazillen auf, die nur mit ex­trem aufwendigen, langwierigen, kostspieligen und nebenwirkungsreichen Medikamenten-Kombinationen und Therapien behandelt werden können, wie dem Global Tuberculosis Report der WHO zu entnehmen ist.

So unterschiedlich diese drei Beispiele sind, eines haben sie gemeinsam: Mangelnde Verfügbarkeit oder Qualität von Gesundheitsdiensten sind die treibenden Faktoren für die Zunahme von Krankheiten. Für die Verbreitung von Krankheiten werden meist Viren und Bakterien verantwortlich gemacht, viel zu selten werden die Ursachen im Gesundheitssystem gesucht.

Dabei liegen diese manchmal sogar ganz offen zutage – wie etwa im Fall von Syrien. Das staatliche Gesundheitssystem ist in vielen Landesteilen zusammengebrochen. Es gibt Millionen von Binnenvertriebenen aus den umkämpften Gebieten, die weder vom staatlichen Roten Halbmond noch von den Hilfslieferungen für die Rebellen erreicht werden. Schon seit drei Jahren können deshalb die Routine-Impfungen für Kleinkinder nicht mehr durchgeführt werden.

Im Falle Griechenlands wurde die Katastrophe für das Gesundheitssystem durch massive Budgetkür­zungen verursacht. Die griechische Regierung ging sie sehenden Auges ein, um ihren Haushalt zu sanieren – wenn auch forciert durch die Austeritätspolitik der Großschuldner Europäische Zentralbank, Europäische Kommission und Internationaler Währungsfonds. Die meisten Reportagen über die griechische Gesundheitskrise aus den letzten Jahren erzählten von akut kranken Patienten, die zusammen mit ihrem Arbeitsplatz auch den Krankenversicherungsschutz verloren. Sie mussten kostspielige Aufnahmegebühren in der Notaufnahme zahlen oder hohe Medikamentenrechnungen. Kaum beachtet wurden die Kürzungen an präventiven Programmen wie zur Moskitobekämpfung oder zum Spritzentausch, da sie keine unmittelbaren Auswirkungen hatten – bis sich der dadurch verursachte Anstieg der Krankheitszahlen nicht mehr verbergen ließ.

Im dritten Fall sind es dagegen die hausgemachten Probleme der Gesundheitssysteme, die gerade armen oder ausgegrenzten Patienten zu schaffen machen. Sie erhalten nur unzureichende Betreuung, sehen sich mit rigiden Strukturen konfrontiert oder mit hohen Kosten. Das betrifft nicht nur die Medikamente, denn die sind in den meisten Tuberkulose-Programmen kostenlos. Auch Fahrtkosten zum Behandlungszentrum, Einkommens- und Zeitverluste können gerade für Beschäftigte im informellen Sektor gravierend sein. Viele brechen die monatelange Tuberkulosebehandlung daher vorzeitig ab. Das ist zum einen für sie selbst gefährlich, weil durch den vorzeitigen Abbruch die Krankheit wieder ausbrechen wird. Zudem entwickeln dadurch die Bakterien Resistenzen gegen die Standard­medikamente. Zwar müssen Patienten heute nicht mehr monatelange Zwangsaufenthalte in Kliniken verbringen, da die Therapie mittlerweile ambulant begleitet werden kann. Dennoch bleibt die Behandlungsdauer eine große Herausforderung.

Internationale Verantwortung

An diesen Beispielen wird verständlich, weshalb Experten weltweit wieder verstärkt die Gesundheitssysteme in den Blick nehmen. Fachleute innerhalb und außerhalb der Weltgesundheitsorganisation (WHO) hatten sich jahrelang darauf konzentriert, große Krankheiten wie HIV/Aids, Tuberkulose und Malaria zu bekämpfen sowie globale Grippe-Epidemien und „neue Epidemien“ der chronischen, nicht infektiösen Herz-Kreislauf-, Atemwegs- und Stoffwechsel-Krankheiten. Allein einzelne Krankheiten zu bekämpfen reicht jedoch nicht. Für weltweiten Schutz vor Epidemien oder schweren Krankheiten ist es wichtig, dass die lokalen Gesundheitssysteme funktionieren – sonst können sich dadurch Krankheiten stärker verbreiten. Gesundheit ist daher ein Global Public Good und Gesundheitsleis­tungen bereitzustellen eine globale Verantwortung.

Das neue Schlagwort ist „Universal Health Coverage“ (Universelle Gesundheitssicherung, UHC). Prominent gesetzt von der WHO in ihrem Weltgesundheitsbericht 2010 ist UHC in Expertenkreisen zu einem der meistdiskutierten Begriffe geworden, vor allem auch in den Debatten um die globalen Entwicklungsziele ab 2015. Der Begriff „Coverage“ stammt dabei nicht zufällig aus dem Bereich des Versicherungswesens: Die „katas­trophalen Gesundheitskosten“, mit denen sich vor allem Arme (aber auch viele Familien aus den neuen Mittelklassen) in den zunehmend privatisierten Gesundheitssystemen der Entwicklungsländer konfrontiert sehen, waren schon seit Jahren ein zentrales Thema jeder Rede der WHO-Chefin. Bis zu 100 Mil­lionen Menschen verarmen dadurch jährlich, schätzt man. Viele der Allerärmsten kommen erst gar nicht in den Genuss von Krankheitsversorgung, weil sie die Gebühren im Gesundheitszentrum oder Krankenhaus nicht bar bezahlen können.

Für die WHO bedeutete UHC daher, dass alle Menschen sicheren Zugang zu Gesundheitsdiensten haben sollen, unabhängig davon, ob sie dafür zahlen können. Außerdem sollten sie vor exorbitanten Kosten geschützt werden. Die drei Stichworte sind Avail­ability, Accessibility und Affordability (Vorhandensein, Zugänglichkeit und Bezahlbarkeit). Doch es entzün­dete sich schnell substanzielle Kritik an diesem Verständnis von UHC. Kritikern zufolge konzentriert es sich zu sehr auf die ökonomische Zugänglichkeit von Gesundheitsdienstleistungen. Außerdem vermuten sie, die UHC könne privaten Gesundheitsdienstleistern ermöglichen, über die wohlhabende Oberklasse hinaus weitere Zielgruppen durch neue Finanzierungsmodelle zu erschließen. Der öffentliche Gesundheitssektor würde so zu einer reinen Restversorgung für die Ärmsten degenerieren.

Diese Erfahrung macht aktuell beispielsweise Brasilien. Das Land bietet formal allen Bürgern eine umfassende Gesundheitsversorgung an. Faktisch bindet aber der private Gesundheitsmarkt die Besserverdienenden mit Zusatzleistungen und besserem Service an sich. Die unrentablen, großen Gesundheitsrisiken dagegen trägt der öffentliche Sektor. Ein solches Mehrklassensystem existiert in den meisten Ländern. Es wäre daher unzureichend, wenn die Post-2015-Entwicklungsziele nur auf Finanzierungsmechanismen ausgerichtet würden. Experten befürchten zudem, dass sich das progressiv anmutende Konzept in der Praxis dem Druck der begrenzten Ressourcen beugen muss – und dass es in vielen Ländern doch nur ein Minimalpaket für die Ärmsten geben wird, auf das sie dann privat zu bezahlende Ergänzungspakete draufsatteln können.

Zudem kritisieren Fachleute und Aktivisten die Beschränkung des Konzepts auf den Gesundheitssektor. Es beinhalte zwar alle Dienste von Information und Aufklärung, Prävention, Behandlung bis zu Rehabilitation, es berücksichtige aber nicht die sozialen Determinanten von Gesundheit. Für das Primary Health Care Concept Ende der 70er Jahre zum Beispiel waren auch Faktoren wie Bildung, Einkommen, Wohnsituation, Ernährungssicherung und soziale Inklusion ausschlaggebend. Die Konzentration der UHC auf Krankheitsverhütung und -behandlung zeugt von einem verkürzten Verständnis von Gesundheit. Mittlerweile wurde das UHC-Konzept zumindest in den WHO-Dokumenten daher um ausreichendes und gut ausgebildetes Gesundheitspersonal sowie um soziale Determinanten erweitert.

„Mehr Gesundheit“ statt „mehr Medizin“

Wie wichtig neben Zugang und Verfügbarkeit von Gesundheitsdiensten auch deren Qualität ist, zeigen Programme in Indien oder Bangladesch: Um die Müttersterblichkeit zu senken – eines der Millenniumsentwicklungsziele –, versuchte man die Zahl von Hausgeburten zu senken und durch Geburten in Krankenstationen zu ersetzen. Doch die Qualität der institutionellen Geburtshilfe ist oft unzulänglich, so dass Schwangere zum Teil noch stärker gefährdet werden als bei der Betreuung durch traditionelle Hebammen. Es wird deutlich: Klare Kontrollmechanismen sind unerlässlich, um zu verhindern, dass „mehr Medizin“ gleichgesetzt wird mit „mehr Gesundheit“. Denn es ist wohlbekannt, dass jedes Gesundheitssystem und besonders die privaten Anbieter dazu neigen, Angebote von fraglichem Nutzen zu ent­wickeln und zu vermarkten.

Besonders wichtig ist zudem, die UHC auch in einen menschenrechtlichen Rahmen einzubetten. Ein gutes Beispiel ist der UN-Sozialpakt von 1966, in dem das „Recht auf diskriminierungsfreien Zugang zu Gesundheitsdiensten“ auch die sozialen Determinanten von Gesundheit beinhaltet. Menschen sollen zudem an wichtigen gesundheitsrelevanten Entscheidungen auf nationaler und internationaler Ebene teilhaben.

Wenn die UHC um diese Dinge erweitert würde, könnte sie sich aus ihrem engen Korsett der Gesundheitsfinanzierungsmodelle befreien. Stattdessen geht es in den Debatten um UHC aber doch immer wieder um finanzierbare Servicepakete, minimale Sicherungsniveaus und angemessene staatliche und private Gesundheitsausgaben. Nur mit einem erweiterten Verständnis von UHC könnte auch eine Debatte über globale Solidarität entstehen. Viele Länder mit geringem Einkommen können kaum mehr als eine rudimentäre Gesundheitsversorgung für alle Bürger finanzieren – selbst wenn es ihnen gelingen würde, ihre Steuereinnahmen zu erhöhen und Haushaltsmittel optimal einzusetzen.

Deshalb reicht es nicht, wenn jedes Land sein Gesundheitssystem allein finanziert. Es gibt eine globale Verantwortung. Es braucht verpflichtende Finanzierungsmechanismen auf internationaler Ebene sowie eine Umgestaltung der globalen Ökonomie zur Erhöhung ihrer Sozialverträglichkeit (Labonte 2007). Die Post-2015-Entwicklungsziele wären dann endlich nicht mehr allein Ziele für die Länder des globalen Südens, sondern tatsächlich Herausforderungen für alle.

Literatur:

Stuckler, D., und Basu, S., 2013: The body economic. Why austerity kills. Recessions, budget battles, and the politics of life and death, p.77–94.

Labonté, R., und Schrecker, T., 2007: Globalisation Knowledge Network: Towards health-equitable globalisation. Rights, regulation and redistribution. Final report to the Commission on Social Determinants for Health, 2007, p. 116–130. http//www.who.int/socialdetermainants/resources/gknreports062007.pdf

Ein Beitrag von Andreas Wulf für E+Z Print-Ausgabe Nr. 1 2014, 2014/01, Seite 17

Veröffentlicht am 03. Januar 2014

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