Eine kleine Geschichte der Solidarität

Guatemala: Seit fast 30 Jahren unterstützt medico Gesundheitsarbeiter in einer mittelamerikanischen Randregion, die nach einem 30-jährigen Bürgerkrieg nun für die globale Wirtschaft interessant wird. Ein Reisebericht von Katja Maurer.

Jetzt sind wir in Guatemala. Elizabeth spricht diesen Satz mit einem tiefen Seufzer aus. Die nächsten zwei Stunden werden wir uns im Kriechtempo auf einer nicht asphaltierten Piste fortbewegen, nachdem wir die schöne mexikanische Teerstraße verlassen haben. Aber Elizabeths Seufzer sagt auch viel über ihre quälende Verbindung zur eigenen Heimat. Seit ihrer Studentenzeit sind sie und ihr Mann Humberto politisch aktiv gegen die diversen Militärdiktaturen und auf der Seite der ausgegrenzten Bevölkerung, vielfach indigenen Ursprungs. Da teilen sie die Haltung des vielleicht berühmtesten guatemaltekischen Intellektuellen, des Literaturnobelpreisträgers Miguel Ángel Asturias, der mit seinen Romanen die Struktur einer Bananrepublik literarisch offengelegt hat. Er musste dafür ins Exil. Ähnlich wie zeitweise Elizabeth und Humberto.

Heute arbeiten beide bei der Gesundheits- und Gemeinwesenorganisation ACCSS, mit der medico seit Beginn der 1980er Jahre kooperiert. Wir teilen also eine lange gemeinsame Geschichte von Hilfe, die sich als Unterstützung von Emanzipation und Autonomie versteht. Im tropischen Herbst, der sich in den Höhen des Maya-Landes durch angenehme Temperaturen auszeichnet, bin ich mit Elizabeth und Humberto unterwegs zu einem Fortbildungszentrum von ACCSS in der guatemaltekischen Grenz-Provinz Ixcán, das mit Unterstützung durch medico und das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung entstanden ist. Mit dabei auch der medico-Projektkoordinator für Mittelamerika, Dieter Müller, der seit vielen Jahren die Guatemala-Projekte betreut.

Bei 20-Stundenkilometer-Slalomfahrt um Schlaglöcher und große Wasserpfützen begeben wir uns nicht nur auf eine Projektreise. Es ist auch eine Fahrt in unsere gemeinsame Geschichte. Elizabeth kennt die guatemaltekisch-mexikanische Grenzregion wie keine Zweite. Als junge Frau hatte sie in den 1980er-Jahren die geheimen Dörfer, die sich während des Bürgerkrieges im Urwald vor den Militärs versteckten, mit Medikamenten versorgt. Wir fahren die Hügel hinauf und hinab. Sie erinnern entfernt an das Alpenvorland. So friedlich, sanft und sattgrün. Elizabeth marschierte hier zwei bis drei Wochen lang, um zu den im Wald versteckt lebenden Bauern zu gelangen. Ihre Aufgabe war es, die Medikamente zu zählen, auf Haltbarkeit zu prüfen und den Fehlbedarf festzustellen. Zwei, drei Wochen verbrachte sie in einer Höhle, allein. Abends kam jemand mit Essen vorbei. In ihrer Erinnerung war es keine schlechte Zeit. In den versteckten Dörfern wurde viel gefeiert, die sozialen Beziehungen und die Selbstorganisation waren gefestigt. Wenn die Militärs den Wald bombardierten, dachte man zuerst daran, die Marimba zu verstecken. Es gab einen ausgehobenen Graben nur für das Instrument. Elizabeth lacht, wenn sie sich daran erinnert. Da bombardieren die Militärs und alle denken zuerst an die Marimba.

Dörfer im Widerstand

Entstanden sind die "Dörfer im Widerstand", nachdem die guatemaltekische Militärdiktatur eine Politik der verbrannten Erde betrieb und die Zwangsansiedlung in Wehrdörfern durch den Diktator Ríos Montt (bis heute ein einflussreicher Politiker) eine Million Flüchtlinge verursachte. 16 Jahre lang überlebten die Dörfer in der Illegalität, auch durch Hilfe von außen. Elizabeth jedenfalls kennt medico schon aus dieser Zeit. Medikamente ins Handgemenge zu liefern, war eine Spezialität aus Frankfurt. Elizabeth erzählt von den langen beschwerlichen Wanderungen und dem Glück, eine solche Arbeit getan zu haben. Ihr Mann schweigt. Beide haben einen hohen Preis für diesen Widerstand bezahlt. Ihre Kinder mussten außer Landes gebracht werden, weil die guatemaltekische Polizei die Verhaftung von Kindern gesuchter Oppositioneller als Foltermethode einsetzte. Elizabeth ist bis heute ein schwarzes Schaf in ihrer wohlsituierten Familie, die hinter den Wohlstandsmauern die Schrecken des Bürgerkriegs und der genozidalen Verfolgungen der indigenen Gemeinden nicht bemerkte. "Sie bestreiten bis heute, dass diese Dinge passiert sind", bemerkt sie trocken.

Der guatemaltekische Schriftsteller Augusto Monterroso sagte in einer Rede in Madrid 2000 über die Eliten, die für dieses Desaster guatemaltekischer Geschichte verantwortlich sind, es handle sich um "feindliche Schiffe": "diese Wirtschaftsleute und Politiker, die uns den Interessen der mächtigen ausländischen Unternehmen unterworfen haben, die diese Frucht produzieren, nach denen unsere Länder immer noch 'Bananen-Republiken' genannt werden". 1996 gab es einen Friedensschluss in Guatemala nach 30 Jahren Bürgerkrieg und fast ununterbrochener undemokratischer Regentschaft durch das Militär und die 100 reichsten Familien des Landes.

13 Jahre nach dem Friedensschluss ist diese Vergangenheit längst nicht vergangen. Wie sollte sie auch – bei 200.000 Ermordeten und 48.000 Verschwundenen – zu weit über 90 Prozent Opfer von Militär, Paramilitär und Polizei.

Playa Grande ohne Strand

Wir sind endlich angekommen in der Provinzhauptstadt des Ixcán, in Playa Grande. Der Name "Großer Strand" klingt vielversprechend. Erst recht nach der beschwerlichen Fahrt, den emotionalen Schwingungen aus den Erzählungen von Elizabeth und dem beredten Schweigen von Humberto. Doch es ist eine trügerische Verheißung: Die verblüffende Armseligkeit und die erdrückende Unbehaustheit von Playa Grande versetzen einen sofort in Habachtstellung. Kein Strand, keine tropischen Farben, ein staubiger, steiniger Unort mit dürren kläffenden Kötern.

Dabei ist Playa Grande das Verwaltungszentrum, das bei der Besiedlung und weitgehenden Vernichtung der Regenwälder in der Region Ixcán in den 1960er-Jahren entstand. Erst als ich später die nächstgrößere Stadt Cobán besuche, verstehe ich, dass die Vernachlässigung des öffentlichen Raums ein Prinzip vieler Städte in Guatemala ist. Es ist die Abwesenheit jeder Form von Fürsorge, sozialer Verantwortung und kommunitären Miteinanders. Die "Herrschaft der feindlichen Schiffe". Das Bild stimmt.

Was für einen Unterschied macht dagegen das Gesundheits- und Ausbildungszentrum, das ACCSS am Stadtrand von Playa Grande errichtet hat. Das Zentrum ist eine Oase, eine Arche Noah für eine andere Zukunft: Die Farbenpracht der tropischen Pflanzen aus dem Kräutergarten, das Recyclingsystem, das die sanitären Abfälle auf Trinkwasserqualität reinigt, die Regeln des Umgangs miteinander und mit der Einrichtung, die die zeitweiligen Bewohnerinnen und Bewohner sorgsam beachten. Das einstöckige Gebäude ist licht- und luftdurchlässig. Die Türen zu den Büros stehen offen. Alles wirkt behütet. Hier gibt es eine Werkstatt, in der Jugendliche Grundkurse für diverse Berufe besuchen können, und auf der Terrasse findet gerade ein Computerkurs statt, der sich größter Beliebtheit erfreut.

Promotoren für Veränderung

Neben der Küche, in der gerade vier Jungs vom Computerkurs abwaschen, sitze ich mit vier Gesundheitspromotoren zusammen. Santos Chen, Sebastián Bartolo, Viviano Matias und Juana Perez sind seit Langem alte Bekannte von medico. Die drei Männer kommen aus den geheimen Dörfern und haben bereits als Jugendliche Gemeindearbeit gemacht. Die 42-jährige Juana ist vor ein paar Jahren neu hinzugekommen und mittlerweile eine hoch qualifizierte Gesundheitspromotorin und Hebamme. Santos, ein Bauer aus dem Dorf Cimientos de la Esperanza, der am Wochenende als Gesundheitspromotor auf der Station im Dorf arbeitet, erzählt, wie er ein junges Mädchen operierte, das eine Geschwulst unter der Zunge hatte. Ihr Vater hatte ihn zur Operation überredet, weil er keine andere Chance sah, sein Kind zu retten. Im schlecht ausgestatteten öffentlichen Gesundheitssystem hatten sie umsonst nach Hilfe gesucht. Santos hat wie die anderen Promotoren seit vielen Jahren Fortbildungen in Zahnmedizin, Naturheilkunde und Akupunktur durchlaufen. Er kennt Fachleute aus der Hauptstadt und aus dem Ausland und hat mit ihnen die Gesundheitsprobleme auf einem guatemaltekischen Dorf diskutiert. Medico hat solche Weiterbildungen immer finanziert. Dabei sind diese Programme nicht einfach in der deutschen Öffentlichkeit zu vermitteln, weil es hierzulande eine weitverbreitete Meinung gibt, in einer Armutssituation seien solche Maßnahmen unnötiger Luxus.

Weit gefehlt, möchte man sagen. Nicht nur Santos kann ein Lied davon singen. Sebastián, der eine dreistufige Promotoren-Ausbildung und eine Schulung in Buchhaltung hinter sich hat, weiß zu berichten, dass er nicht nur die Zähne seiner Kollegen aus dem Dorf behandelt, sondern auch die Buchhaltung der Kooperative fest im Griff hat. An die 100 Promotoren hat ACCSS in den letzten Jahren ausgebildet. Selbstbewusste Hoffnungsträger dafür, dass in Guatemala nicht alles beim Alten bleibt.

Da ist der 33-jährige Viviano. "Meine Muttersprache ist Mam", sagt er. Er hat ein verschlossenes kantiges Gesicht. Die Kinderjahre im geheimen Dorf haben sich sichtbar eingebrannt. Damals seien sie so an dieses Leben gewöhnt gewesen, dass sie nach Auseinandersetzungen zwischen Guerilla und Militär immer losrannten, um zu sehen, wer gewonnen hat. Als Sechsjähriger hat Viviano den Bürgerkrieg wie andere ein Fußballspiel des Heimatvereins erlebt. Während er berichtet, bekommt sein Gesicht langsam weiche Züge und seine dunklen Augen schauen mich mit einem warmen Blick an. Viviano ist nicht nur Gesundheitspromotor, er hat auch das Abitur nachgemacht. Nun steht er vor der Entscheidung, Medizin zu studieren. Aber wie soll er seine Familie ernähren? Was für Fragen! Nicht mehr ums Überleben geht es. Jetzt geht es um ein gutes Leben. Elizabeth sitzt bei den Interviews dabei. Wir sind alle ein wenig gerührt. "Ich kenne all die Geschichten", sagt sie, "aber wenn ich sie jetzt höre, begreife ich, was wir da gemacht haben."

Feindliche Schiffe

Guatemala ist nicht nur eines der ärmsten Länder Lateinamerikas, das gerade eine Hungerkrise erlebt. Es gleicht in vielem einem "failed state", einem gescheiterten Staat: Korruption und hemmungslose Selbstbereicherung der Eliten gehen mit einer politischen, militärischen, paramilitärischen und kriminellen Gewalt eine hochgefährliche unberechenbare Mischung ein. Auf nichts ist Verlass, nur auf die Schamlosigkeit der herrschenden Kreise.

Davor fürchten sich die Menschen im Ixcán. Denn die "feindlichen Schiffe" haben eine neue Sorte Bananen ausgemacht, die ihnen große Reichtümer verspricht. In den Nordprovinzen sollen sieben neue Wasserkraftwerke entstehen, Zuckerrohr und Palma Africana großflächig angebaut werden, die Erdölförderung erhöht und die Biodiversität dort ausgebeutet werden, wo man noch Rest-Urwald stehen lassen will. Geplant ist der Bau einer befestigten Straße, der "Transversal del Norte". An ihr macht sich der Widerstand fest, obwohl doch eine gute Straße fehlt. Die Befürchtungen sind zu groß und die Erfahrungen bestätigen, dass man auf die Belange der lokalen Bevölkerung, zumal großteils indigener Herkunft, keinerlei Rücksicht nehmen wird. Eine Straße ist der Zugang zum Weltmarkt – für die, die davon profitieren. Für die einheimische Bevölkerung bedeutet sie höchstwahrscheinlich den Beginn von Zwangsumsiedlungen und der Vernichtung ihrer Lebensgrundlagen.

Schon der Anfang setzt kein gutes Zeichen. Als Erstes kehrt das Militär in den Ixcán zurück. Die auf dem Militärgelände zuletzt arbeitenden kubanischen Ärzte müssen weichen. Die Großausbeutung wird mit Waffengewalt abgesichert. Allerdings ist die Gegenwehr nicht untätig. Mitte Oktober dieses Jahres trafen sich 600 Bewohnerinnen und Bewohner der Region, Organisationen der Zivilgesellschaft im Ixcán, um ihren Widerstand gegen die Pläne weiterzuentwickeln. Aufstand auf dem Land könnte man das nennen. "Es ist besorgniserregend, dass die Regierung eine gute Straße baut mit dem einzigen Ziel, unsere Reichtümer für den Weltmarkt auszubeuten", erklärte einer der Bauern auf dem Treffen. Maßgeblich initiiert haben das Treffen das Promotoren-Netzwerk und die Jugendgruppen, die von ACCSS betreut werden. Die geheimen Dörfer im Widerstand, die diesen Geist auch nach ihrer Rückkehr in das öffentliche Leben bewahrt haben, werden sich nicht einfach ihres Landes berauben lassen. In Guatemala ist der Widerstandswille schon eine gute Nachricht.

Lesen Sie im nächsten Teil des Guatemala-Reiseberichts: Die Straflosigkeit als System.

Projektstichwort

Guatemala ist eigentlich das Land der schlechten Nachrichten. Doch eine widerständige Zivilgesellschaft lebt, wenn auch unter schwierigen und gefährlichen Umständen. Diese Unermüdlichkeit begleitet medico seit fast 30 Jahren. Unter anderem durch die Unterstützung von Gemeinwesen-Arbeit. In 70 Gemeinden im Norden Guatemalas, getragen von unserem Partner ACCSS. Die neue gemeinsame Arbeit besteht in der Ausbildung und Selbstorganisation von Jugendlichen in 40 Gemeinden. Diese Arbeit knüpft an gemeinsame Erfahrungen mit dem Ausbau eines Netzes von Gesundheits-Promotoren an: Menschen auszubilden und ihnen gleichzeitig ein Netzwerk zur Verfügung zu stellen, das politische Beteiligung ermöglicht. Ihre Spende erbitten wir unter dem Stichwort: Guatemala.

 

Veröffentlicht am 02. Dezember 2009

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