Textilkampagne

Ein Anfang ist getan

„Wir starten von Ground Zero. Bis bald in Deutschland!“ Mit diesen Worten hatte mich der Anwalt und medico-Partner Faisal Siddiqi Anfang September in Karatschi verabschiedet. Im November 2014 treffen wir ihn in Berlin wieder. In einer halben Stunde wird der Anwalt aus Pakistan Abgesandte des Textildiscounters KiK treffen, zu Verhandlungen über die Entschädigung der Überlebenden des „Industrial 9/11“. Unter diesem Namen wird in Karatschi der 11. September 2012 erinnert, an dem in einer Fabrik des Industrievororts Baldia Town über 250 Menschen bei lebendigem Leib verbrannten. Mutmaßlich einziger Auftraggeber der unregistrierten Fabrik: KiK, der Discounter aus Bönen in Westfalen.

„Ich habe ein gutes Gefühl”, sagt mir Faisal, „sie werden zahlen!“ Der Optimismus des Anwalts hängt mit dem Druck zusammen, unter dem KiK in der deutschen Öffentlichkeit steht. Seit zwei Jahren kämpfen die Überlebenden und die Angehörigen um Entschädigung und Kik hält hin. Zur letzten Verhandlungsrunde im Juni sah das noch ganz anders aus: die KiK-Unterhändler hatten sich auf das Treffen nicht einmal vorbereitet, wollten mal eben ganz neu beginnen. Die Pressekonferenz hinterher, zu der medico und seine Partner noch am selben Tag luden, war unerwartet gut besucht: Fernsehen, Rundfunk, dazu Tages- und Wochenzeitungen. Die Berichte brachten es auf den Punkt: das Unternehmen schinde Zeit, wolle so billig als möglich davonkommen. Kurz darauf meldeten sich die drei wichtigsten deutschen Gewerkschaften zu Wort. Gemeinsam mit medico initiierten die Vorsitzenden des DGB, der IG Metall und von ver.di den Aufruf „Wir stehen am Anfang“, in dem die Verschleppungstaktik gegeißelt und ein massiv verschärftes Haftungsrecht für international operierende deutsche Unternehmen gefordert wird. Der Aufruf bittet Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter aller Branchen zu spenden: für die medizinische Notversorgung der Überlebenden, für juristische Verfahren gegen die Unternehmen – und für ein Gewerkschaftshaus in Karatschi. Dessen Hausherr wird der pakistanische medico-Partner NTUF sein, die Gewerkschaft, die in Baldia Town Arbeiterinnen und Arbeiter organisiert.

Der pakistanische Anwalt vertritt die Überlebenden von Baldia Town nicht nur in den Verhandlungen mit KiK, sondern auch vor Gericht in Karatschi. Angeklagt sind dort der Besitzer der abgebrannten Fabrik und die Leiter der Behörden, die ihren Betrieb nicht verhindert haben. Die gleich nach dem Brand erhobene Mordanklage wurde von der Staatsanwaltschaft auf fahrlässige Tötung reduziert – Faisal Siddiqi legte umgehend Widerspruch ein. Das Verfahren in Karatschi wird nicht das einzige bleiben. Ein italienisches Gericht prüft ein Strafrechtsverfahren gegen die Firma RINA aus Genua, die KiK zwei Monate vor dem Brand ein frei erfundenes Gutachten zur Gebäudesicherheit präsentiert hat. Den KiK-Managern kann das nicht entgangen sein: haben sie das Gebäude nach Aussage von Zeugen doch mehrfach besucht. Das wird zur Sprache kommen, wenn drei der Überlebenden in Deutschland klagen, auf Schadensersatz und Schmerzensgeld. Zur Vorbereitung war ich mit Kolleginnen des European Center for Constitutional and Human Rights im September nach Karatschi gereist. In langen Gesprächen mit mehr als 50 Betroffenen rekonstruierten wir das Unglück, fragten dabei auch nach Besuchen von KiK-Managern. Auch deshalb nimmt an den aktuellen Gesprächen mit dem Discounter jetzt auch eine ECCHR-Anwältin teil und präsentiert die Aussagen der drei Kläger.

Mein Handy klingelt. Es ist Faisal: „Sie haben endlich verstanden. Hoffentlich meinen sie es ernst.“ Um welche Summen geht es? „Darüber kann ich nicht sprechen. Es gibt eine in solchen Fällen übliche Schweigepflicht, bis beide Parteien einen Vorschlag gemacht haben.“ Es ist also noch nichts gewonnen, sondern nur ein erster Schritt getan. Ob es ausreichen wird? Der Anwalt Faisal Siddiqi wird um alles kämpfen. Das ist sicher. Aber genauso gewiss ist auch, dass die medico-Partner in Karatschi weiter kämpfen müssen. Der Anfang ist gemacht. Immerhin.

Thomas Seibert

Spendenstichwort: Textil

„Wir alle sind die Öffentlichkeit“, heißt es im gemeinsamen Hilfsaufruf für die betrogenen Näherinnen und Näher. Wir können entscheiden, welche Kleidung wir tragen, wir können jenen beistehen, deren Ausbeutung erst die Voraussetzung schafft, dass wir T-Shirts für wenige Euros kaufen können. Jetzt geht es um konkrete Entschädigung und juristischen Einspruch, damit die Ausbeutung zumindest gezähmt wird. Und es geht um Selbstorganisation der Betroffenen. Denn Gewerkschaftsrechte sind Menschenrechte. Spenden Sie mit.

Dieser Artikel erschien zuerst im Rundschreiben 3/2014. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt bestellen!

Veröffentlicht am 17. November 2014

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