50 Jahre medico

Die Utopie: überflüssig werden

Eine Reise durch die Jahrzehnte zeigt, wie sich unser Einsatz gegen krankmachende Weltverhältnisse und für globale Gesundheit verändert hat.

„Eine Organisation, die darum weiß, dass sich Gesundheit zuallererst auf soziale Gerechtigkeit und demokratische Partizipation gründet, muss verhindern, in ein nur noch geschäftiges Treiben hineingezogen zu werden. Mit großer Skepsis sehen wir, wie viele Hilfsorganisationen heute den Erfolg ihrer Arbeit an den Mengen gelieferter Hilfsgüter, einem akribischen Belegwesen und zeitnahen Berichten messen und dabei jede Idee verlieren, was denn menschenwürdiges Leben eigentlich meint.“ In diesen Worten von Geschäftsführer Thomas Gebauer bei der Auftaktveranstaltung des Jubiläumsjahres von medico international klingt vieles an, was die Arbeit der Frankfurter Hilfs- und Menschenrechtsorganisation auszeichnet: ein Verständnis von Gesundheit, das weit über eine medizinische Versorgung hinausgeht; ein Einsatz für Gesundheit, der sich nicht technisch, sondern politisch versteht; und die Überzeugung, dass ein menschenwürdiges und damit gesundes Leben ein Menschenrecht ist –  für alle und an jedem Ort.

Das sind hohe Ansprüche. Doch trotz, eher aber gerade wegen des immer schon und immer noch politischen Verständnisses von Hilfe gibt es medico jetzt seit 50 Jahren. Vieles hat sich verändert. Aus einer Gruppe Engagierter ist ein gemeinnütziger Verein mit mehr als 40 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern geworden. War die erste Geschäftsstelle in einer Art Baracke untergebracht, ist medico im vergangenen Jahr in ein eigenes, von der medico-Stiftung finanziertes Gebäude umgezogen. Und an die Stelle eines mitunter aktionistischen Bemühens um Hilfe sind oftmals langfristige Partnerschaften mit Initiativen und Nichtregierungsorganisationen in aller Welt getreten. 2017 hat medico mehr als 120 lokale Projekte in 30 afrikanischen, asiatischen und lateinamerikanischen Ländern gefördert. All das klingt nach Erfolgsgeschichte. Thomas Gebauer weist jedoch auf die Ambivalenz dieser Entwicklung hin: „In den zurückliegenden Jahrzehnten hat nicht nur der Handlungsrahmen von medico zugenommen, sondern im Zuge der marktradikalen Umgestaltung der Welt auch der Bedarf an Hilfe.“ Doch der Reihe nach. Denn auf seinem 50-jährigen Weg hat medico vieles lernen müssen – aber eben auch gelernt.

medico international wird im Mai 1968 gegründet. Es ist eine Zeit des Aufbruchs, aber auch der Kriege in Vietnam und Biafra. Schreckensbilder flimmern wie nie zuvor in jedes deutsche Wohnzimmer. In Frankfurt beginnen Medizinstudierende, Ärztinnen und andere Gesundheitsarbeiter, Hilfsgüter zu sammeln, vor allem Medikamente, und nach Biafra zu schicken. Schnell zeigt sich jedoch, dass der Wunsch zu helfen stärker ist als das Konzept. Oft sind die Beipackzettel nur auf Deutsch verfasst, fast immer fehlt eine ärztliche Begleitung. Zunehmend gerät der politische Kontext in den Blick und stellen sich bohrende Fragen nach den gesellschaftlichen Ursachen von Not und Elend. Wie nachhaltig helfen Tabletten oder auch kurzfristige ärztliche Missionen, wenn sich nichts an den krankmachenden Lebensverhältnissen verändert? Die Zweifel bringt der Arzt Mattis Bromberger, nachdem er 1971 mit einem kleinen medico-Team Flüchtlingen in Kalkutta mit ärztlicher Hilfe zur Seite gestanden hat, so zum Ausdruck: „Wir konnten vielen Menschen helfen. Doch als wir wieder weggingen, ließen wir die Menschen in ihrem Elend zurück. Um Krisen dauerhaft zu überwinden, reicht es nicht, nur ihre humanitären Auswirkungen zu behandeln. Eine Hilfe, die von außen einfällt, kann am Ende sogar noch die Selbstheilungskräfte der Leute beeinträchtigen.“ Erfahrungen wie diese verändern die Arbeit. Aus dem Willen zu helfen wird ein politischer Begriff von Hilfe, an dem medico bis heute festhält: Jeder Mensch hat in Notsituationen ein Anrecht auf Hilfe. Von daher streitet medico für eine soziale Infrastruktur, die die Verwirklichung dieses Rechts gewährleistet.

Schon früh entwickelt der Verein ein Verständnis von Gesundheit, das mehr ist als die Abwesenheit von Krankheit: Überall dort, wo Menschen nicht genügend Nahrungsmittel, weder sauberes Wasser noch ein Dach über dem Kopf, keine Bildung oder Arbeit haben, wird ihr umfassendes Recht auf gesundheitsfördernde Lebensbedingungen verletzt. Die medico-Kurzformel „Armut macht krank, Krankheit macht arm“ bringt den Zusammenhang auf den Punkt. Man könnte s auch so sagen: Wer von Gesundheit spricht, kann über Fragen nach Gerechtigkeit, Gleichheit und Teilhabe nicht schweigen. Bestätigt und bestärkt wird dieser Ansatz durch die wegweisende Erklärung von Alma Ata der Weltgesundheitsorganisation im Jahr 1978 und dem Prinzip der Primary Health Care. Darin wird bestimmt, dass die Ziele der WHO nicht nur mit Impf- und Behandlungsprogrammen oder Aufklärungskampagnen für gesundheitsgerechtes Verhalten zu erreichen sind, sondern weitreichende gesellschaftliche Veränderungen erfordern, die Lebens-, Ernährungs- und Wohnbedingungen verbessern.

Die andere radikale Weichenstellung besteht darin, dass medico beschließt, nicht mehr „von außen einzufallen“ und sich stattdessen auf die Förderung selbstständiger Entwicklung verlegt. Unter dem Schlagwort „Hilfe zur Selbsthilfe“ verabschiedet man sich konsequent davon, eine Entsendeorganisation zu sein: Statt Medikamente, Hilfegüter oder Experten in alle Welt zu schicken, werden fortan Kontakt mit lokalen Initiativen und Projekten geknüpft und diese in ihrer jeweiligen Arbeit unterstützt. In den 1980er-Jahren sind das vor allem Befreiungsbewegungen – von Lateinamerika über das südliche Afrika bis zu den kurdischen Gebieten des Irak und der Türkei –, die medico beim Aufbau von Basisgesundheitsdienste unterstützt. Nach dem Ende vieler dieser Bewegungen setzt medico die Projektförderung mit vielfältigen zivilgesellschaftlichen Partnern fort. Vier von vielen aktuellen Beispielen: In Bangladesch ist mit Gonoshasthaya Kendra (GK) aus einem solidarischen Netzwerk die heute größte nichtstaatliche Gesundheitsorganisation des Landes geworden, deren Mitglieder mehr als eine Million Menschen in fast 600 Dörfern und Städten betreuen und die unentbehrliche Medikamente selbst herstellt. In Südafrika unterstützen mehrerer Partnerorganisationen den Kampf von Gemeindegesundheitsarbeiterinnen in den Armenvierteln für bessere Arbeitsbedingungen. Im von Krieg zerrissenen Afghanistan kümmert sich ein medico-Partner mit kollektiven Theaterprojekten um die gesellschaftliche, aber eben auch psychosoziale Bearbeitung von Gewalterfahrungen. In El Salvador organisiert ein Partnernetzwerk lokale Gesundheitskomitees, die auch den Druck auf die Regierung aufrechterhalten, das Recht auf den Zugang zu Gesundheit zu verwirklichen.

Zurück in die 1990er-Jahre. Im Zuge dessen, was bald neoliberale Globalisierung genannt wird, setzen massive politische und ökonomische Umwälzungen ein, die die Arbeit von medico bis heute prägen. Strukturanpassungsprogramme führen vielerorts zu einem massiven sozialen Kahlschlag. Öffentliche Gesundheitsdienste werden zerschlagen oder privatisiert, Gesundheit wird zur Ware. Im Widerspruch dazu beharrt medico darauf, dass die alte WHO-Losung Gesundheit für alle“ ein zu verteidigendes und zu verwirklichendes öffentliches Gut ist. Vor allem aber wird in dieser Zeit deutlich, dass der zerstörerischen Wucht des globalisierten Kapitalismus nicht mehr allein auf lokaler Ebene begegnet werden kann. Nahezu jede lokale Misere wird auf internationaler Ebene ausgelöst oder verschärft – von der Spekulation mit Nahrungsmitteln über die mit der Macht des Stärkeren durchgesetzte Handelsabkommen bis zur Klimazerstörung. Parallel zur Projektförderung setzt sich medico daher verstärkt für eine Vernetzung von Gegenkräften zu einer „Globalisierung von unten“ ein. Mit der Beteiligung an der erfolgreichen internationalen Landminen Kampagne, die 1997 ein bindendes Abkommen zum Verbot von Antipersonenminen durchsetzt und im gleichen Jahr mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wird, erprobt medico schon früh Formen einer länderübergreifenden (Gegen-)Öffentlichkeit. Immer wieder hat medico seitdem Kampagnen lanciert, in denen die Verantwortung des „globalen Nordens“ für Not und Elend in anderen Teilen der Welt sichtbar wird – sei es beim Handel mit „Blutdiamanten“ aus Afrika, sei es beim Preisdruck in einer globalisierten Textilindustrie, die in den Fabriken Südasiens zu mörderischen Arbeitsbedingungen führen. Ein wegweisender Schritt, sich durch Vernetzung, Austausch und regionale Aktionen gemeinsam für einen umfassenden Schutz der globalen Gesundheit starkzumachen, ist die Gründung des People’s Health Movement (PHM) im Jahr 2000. Als Gesundheitsbewegung von unten versucht der länder- und kontinentübergreifende Zusammenschluss auch auf die politischen Debatten in suprastaatliche Institutionen wie der Weltgesundheitsorganisation Einfluss zu nehmen. Auch das ist inzwischen Teil der medico-Arbeit: die Förderung einer transnationalen Gegenöffentlichkeit.

Im neuen Jahrtausend sind neue Arbeitsfelder hinzugekommen, vor allem die psychosoziale Arbeit mit durch Gewalt, Folter oder Vertreibung traumatisierten Menschen und der Schwerpunkt Flucht und Migration. Daneben hat medico eine Debatte vorangetrieben, die stetig dringlicher wird: Welche Rolle spielen Hilfsorganisationen in einer zunehmend verrohenden Welt? Da ist zum einen die Professionalisierung zu einem „Hilfsbusiness“, das immer stärker von betriebswirtschaftlichen Logik durchzogen ist, effizient und messbar. Und da ist die Gefahr, als Hilfsorganisation wachsende Ungleichheit und schreiendes Unrecht humanitär abzufedern und damit zu deren Aufrechterhaltung beizutragen. Genau das droht, wenn NGOs bei Kriegen die „menschliche Kollateralschäden“ versorgen oder die sozialen Verwüstungen, die der neoliberale Rückzug des Staates hinterlässt, kompensieren sollen.

Beiden Gefahren versucht medico sich zu widersetzen und eine größtmögliche Unabhängigkeit der eigenen Arbeit zu bewahren: durch die strikte Partnerorientierung, die auf dauerhafte Zusammenarbeit setzt; durch den Ansatz, das eigene Handeln nicht als humanitäre Geste, sondern als solidarischen Beistand bei der Verwirklichung von Rechten zu verstehen; durch eine engagierte Öffentlichkeitsarbeit, die über Weltverhältnisse aufzuklären versucht; durch die Positionierung an der Seite der Ausgegrenzten und Marginalisierten; durch eine radikale Haltung, in der auch das eigene Handeln immer wieder kritisch hinterfragt wird; schließlich durch das Beharren darauf, dass krankmachende Lebensverhältnisse wie Armut, Not und Gewalt nicht alternativlos sind.

Mit diesem utopischen Überschuss ist medico auch nach 50 Jahren noch immer ein bisschen „1968.“ Dazu passt, dass der Verein als einen Höhepunkt des Jubiläumsjahres eine Tagung zum guten alten Begriff der „Emanzipation“ organisiert. „Es geht“, so erklärt es Thomas Gebauer, „um die Fortsetzung jenes politischen und kulturellen Projektes, das mit 1968 verbunden ist: um Emanzipation als Voraussetzung für die Gestaltung selbstbestimmter Lebensformen. Hilfe, die Not und Abhängigkeit nachhaltig überwinden will, kann gar nicht anders, als immer auch die Umstände in den Blick zu nehmen, die Hilfe erst erforderlich machen. Nur so lässt sich der Blick für die Möglichkeit einer anderen Welt bewahren.“ medico hält an dem Fluchtpunkt einer solidarischen Welt fest – und damit an dem Ziel, selbst eines Tages überflüssig zu werden.  

Christian Sälzer

Veröffentlicht am 13. Juni 2018

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