1. Startseite
  2. Wirtschaft

Corona-Impfstoff: „Die Macht von Pharmakonzernen ist ungebrochen“

KommentareDrucken

Nur etwa elf Prozent der Menschen in Afrika sind geimpft.
Mangel an Corona-Impfstoff: Nur etwa elf Prozent der Menschen in Afrika sind geimpft. © AFP

Anne Jung, Referentin bei der Menschenrechtsorganisation Medico International, über die deutsche Blockade, den Patentschutz für Corona-Impfstoffe auszusetzen.

Frankfurt – Seit es Impfstoffe gegen Corona gibt, wird über deren Verteilung diskutiert: Wie kann ein global grassierendes Virus auch global bekämpft werden? Viele Länder aus dem globalen Süden, wo oft erst wenige Menschen geimpft sind, fordern eine Aussetzung des Patentschutzes, um die Vakzine selbst günstig herstellen zu können. Der Norden, auch Deutschland, schützt seine Pharmafirmen und deren Profite und blockiert. Anne Jung gehört zu denen, die sich dagegen von Anfang an gewehrt haben.

Frau Jung, Europa schickt große Mengen Corona-Impfstoffe in den globalen Süden, und die Firma Biontech hat vor wenigen Tagen angekündigt, in mehreren afrikanischen Ländern Produktionsanlagen für Vakzine aufzustellen. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sagt: „Ich bin überzeugt, das ist der richtige Weg, um ganz Afrika unabhängiger von den Lieferländern zu machen.“ Hat er nicht recht?

Die glänzend weißen Biontech-Container lassen auf den ersten Blick vermuten, dass der afrikanische Kontinent die Impfstoffproduktion nun in die eigenen Hände nehmen kann. Doch das ist ein Trugschluss: An Afrikas Abhängigkeitsverhältnis von privaten Unternehmen ändert sich überhaupt nichts. Die Macht von Pharmakonzernen ist ungebrochen, der Zugang zu ihrem Wissen bleibt den afrikanischen Ländern weiter versperrt und damit auch der Gestaltungsfreiraum. Die Kernforderung der Afrikanischen Union an Europa lautet daher weiterhin, die Patente auszusetzen und einen echten Technologietransfer zu ermöglichen, um kostengünstig und schnell Impfstoffe produzieren zu können.

Mehr als 100 Staaten, Nichtregierungsorganisationen aus aller Welt und Nobelpreisträger:innen fordern seit langem bei der Welthandelsorganisation (WTO) eine Aussetzung des Patentschutzes für Impfstoffe, Tests und Medikamente. Zur Erinnerung: Warum soll das so viel besser sein?

In einem Satz: weil auf diese Weise die Kontrolle über die lebenswichtigen Impfstoffe bei Regierungen liegen würde und nicht bei Pharmaunternehmen. Schon in der Aids-Krise sind auf dem afrikanischen Kontinent Hunderttausende gestorben, weil die Menschen die völlig überteuerten Preise nicht zahlen konnten. Dies dem Markt zu überlassen, ist einfach lebensgefährlich, damals wie heute.

Corona-Impfstoff: Kontrolle liegt bei Pharmaunternehmen

Und das wäre ohne Patente anders?

Die Aussetzung des Patentschutzes würde vor Klagen durch die Pharmaindustrie schützen und, was genauso wichtig ist, die kostengünstige Produktion beschleunigen. Bisher wurde diese Superchance vertan. Der Impfstoff wird künstlich verknappt, und das ist inakzeptabel. In Südafrika fanden aus Protest gegen diese Politik vor der Deutschen Botschaft Demos statt mit Schildern, auf denen „Black lives matter“ stand.

Die Gegner der Patentfreigabe argumentieren, die Produktion der Impfstoffe sei zu kompliziert und der Aufbau der Kapazitäten im Süden würde zu lange dauern. Stimmt das nicht?

Das ist ein Mythos der Pharmaindustrie, um ihr Verhalten zu legitimieren. Eine Studie von „Ärzte ohne Grenzen“ zeigt, dass 120 Unternehmen in Afrika, Asien und Lateinamerika binnen wenigen Monaten loslegen könnten mit der Produktion – alle von europäischen Zulassungsbehörden zertifiziert.

Zur Person

Anne Jung ist Referentin für globale Gesundheit bei der Hilfs- und Menschenrechtsorganisation Medico International. Die Politikwissenschaftlerin leitet dort die Öffentlichkeitsabteilung.

Mehr zum Thema unter: https://www.medico.de/patente

Es gibt auch Bestrebungen, statt der Patentaussetzung die Herstellerfirmen zu einer Vergabe von Lizenzen zu verpflichten. Wäre das eine gute Alternative?

Das wäre besser als nichts, bliebe aber in der alten Logik des Marktes.

Die Welthandelsorganisation WTO wird sich von diesem Mittwoch an wieder mit dem Thema befassen. Wie stehen die Chancen, dass der „Waiver“, also die Aussetzung des Patentschutzes, doch noch kommt?

Das ist schwer absehbar, von den Verhandlungen dringt wenig nach außen. Wir haben es aber gerade erlebt auf dem Afrikagipfel: Die Bundesregierung sagt Nein. Deutschland ist innerhalb von Europa die wichtigste Stimme in dieser Frage, daher bin ich nicht allzu optimistisch. Auch wenn es in der Pandemieeindämmung um so viel mehr geht als den Zugang zu Impfstoffen, wird hier gerade eine riesige Chance verpasst, verlorenes Vertrauen in Europa zurückzugewinnen. Das Motto der EU heißt eher: Europa gegen den Rest der Welt.

Corona-Pandemie: Wie stehen Chancen zur Aussetzung des Patentschutzes bei Impfstoffen?

Gibt es Anzeichen, dass sich das mit der Ampelkoalition ändert? Robert Habeck, heute Wirtschaftsminister, hatte sich ja im vergangenen Mai als Vorsitzender der Grünen noch für die Aussetzung ausgesprochen, anders als die damalige Koalition aus CDU/CSU und SPD.

Die Kehrtwende bei Robert Habeck kam leider schneller, als man bis drei zählen konnte: Kaum war er Minister, lehnte er im Januar die Aussetzung ab. Aber diese Position ist innerhalb der Partei umstritten. Im Europaparlament, das sich übrigens anders als die EU-Kommission klar für die Patentaussetzung ausgesprochen hat, sind viele Abgeordnete der Grünen für den Waiver. Als Teil der Bundesregierung haben die Grünen allerdings mit ihrer pharmafreundlichen Haltung bislang nichts gegen die Macht der Konzerne, also gegen die Refeudalisierung der Welt, getan. So bleibt bislang alles beim Alten, bei einer Welt, die vom Wohlwollen der reichen Länder abhängt.

Anne Jung, Referentin bei Medico International.
Anne Jung, Referentin bei Medico International. © Medico International

Eine Reihe internationaler Nichtregierungsorganisationen hat jetzt erneut einen Brief an die WTO geschrieben, in dem die Forderungen wiederholt werden. Was können zivilgesellschaftliche Gruppen, was kann eine Hilfsorganisation wie Medico noch tun, um Druck auf die Politik zu machen?

Ach, wissen Sie, wir haben so viele Briefe geschrieben und Petitionen gestartet, dass wir hier grundsätzlich nur noch etwas ändern können, wenn viele Menschen laut und deutlich sagen, dass sie eine Kursänderung einfordern. Auf der Straße oder mit Briefen an die Abgeordneten der Parlamente. Es ist so naheliegend. Die Aufhebung der Impfstoffpatente spricht die Sprache des Gemeinsamen. So könnte sich vieles zum Besseren wenden und der Absturz vieler Länder verhindert werden. Klar, das Problem ist weitaus größer – öffentliche Gesundheitssysteme müssen gestärkt werden, ein Schuldenerlass als Einstieg in die postpandemische Zeit ist unerlässlich, und wir brauchen Regelungen, die gesundheitsschädliche Wirkungen der Politik vorab prüfen, zum Beispiel beim Rohstoffabbau. Da könnten wir doch wenigstens mit der Patentaussetzung mal anfangen. (Interview: Stephan Hebel)

Auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat die nach wie vor ungerechte Verteilung von Impfstoff gegen das Corona-Virus kritisiert und den Aufbau einer eigenen Produktion in Afrika begrüßt.

Auch interessant

Kommentare