Die Macht des Geldes

Eine grundlegende Reform der WHO ist überfällig

Um die Weltgesundheitsorganisation (WHO) steht es nicht gut. Ihre Haushaltsnöte sind in den letzten Jahren derart angewachsen, dass sie eigentlich längst hätte Insolvenz anmelden müssen. Die in Genf residierende zwischenstaatliche Einrichtung ist heute immer weniger imstande, als „führende und koordinierende Autorität” in der Durchsetzung des Rechts auf Gesundheit zu wirken, wie es in ihrer 1948 verabschiedeten Verfassung heißt. Zug um Zug ist die WHO in die Abhängigkeit einzelner machtvoller Mitgliedsstaaten und privater Akteure geraten: darunter die medizintechnische Industrie, multinationale Pharmakonzerne, aber auch Stiftungen von Privatleuten oder Unternehmen, wie etwa die „Bill and Melinda Gates Foundation“. Seit Anfang des Jahres diskutieren die Mitgliedsstaaten über eine Reform der WHO. Dabei droht die UN-Organisation, die mit Blick auf die globale Gesundheitskrise so dringend gebraucht würde, gänzlich kommerziellen Interessen ausgeliefert zu werden.

Der Vertreter Thailands brachte es auf der letzten Weltgesundheitsversammlung im Mai 2011 in Genf auf den Punkt. Mit bitterem Sarkasmus trug er im Plenum vor, dass die WHO schon lange keine demokratisch verfasste Organisation mehr sei. Statt von der Mehrheit der Mitgliedsländer getragen und kontrolliert zu werden, habe sie sich zu einer „donor-driven organisation” gewandelt, die von den freiwilligen Zuwendungen einzelner Geber und deren Interessen gesteuert würde. Die Zahlen geben ihm und allen anderen Kritikern recht. Nur noch 20 % des jährlichen WHO-Budgets stammen aus den regulären Beiträgen der Mitgliedsstaaten, 80 % dagegen sind Zuschüsse, die einzelne Länder beisteuern, bzw. Spenden von privaten Stiftungen, dem Unternehmenssektor und selbst mächtigen NGO-Multis.

Was zunächst wie eine großzügige Geste daherkommt, entpuppt sich bei näherer Betrachtung als höchst problematisch. Denn all die freiwilligen Zuwendungen werden der WHO keineswegs zur freien Verfügung gegeben, sondern sind in aller Regel an Bedingungen geknüpft. Es sind zweckgebundene, sogenannten „earmarked funds“, mit denen die jeweiligen Geber direkt Einfluss auf die Arbeit der WHO nehmen können. Wer für die Musik bezahlt, bestimmt auch den Ton, heißt es im Volksmund, und so geschieht es heute auch in der WHO. An der Weltgesundheitsversammlung, dem höchsten Entscheidungsgremium der WHO vorbei, bestimmen einzelnen Geber über Programm und Arbeitsprioritäten.

H1N1 – eine stinknormale Grippe

Wie das geht und wie groß der Einfluss der Industrie bereits ist, zeigte sich im Falle der Schweinegrippe. Auf Anraten der „Strategic Advisory Group of Experts (SAGE) on Immunisation“, der Ständigen Impfkommission der WHO, deren Nähe zur pharmazeutischen Industrie schon länger Anlass zur Kritik gegeben hatte, rief die WHO im Juni 2009 die höchste Alarmstufe für die H1N1-Pandemie aus. Die weltweite Impfaktion, die sie damit in Gang setzte, wurde zu einem Milliardengeschäft für die Pharmaindustrie. Allein Deutschland kaufte 50 Millionen. Impfdosen, von denen schließlich nur ein Bruchteil eingesetzt wurde. Um eine „stinknormale Grippe“, so der Europarat in seiner Untersuchung, zu einer gefährlichen Pandemie erklären zu können, hatte die WHO, bevor die ersten H1N1-Fälle bekannt wurden, die Kriterien für Pandemie-Warnungen herabgesenkt. Ebenfalls vorab waren Gesundheitsbehörden in aller Welt vertragliche Abnahmegarantien mit Impfstoffherstellern eingegangen. Das Geschäft war gut vorbereitet. Das Nachsehen hatten die Versicherten und Steuerzahler, die - und das ist nur der vorerst letzte Akt dieses absurden Geschehens - heute ein weiteres Mal zur Kasse gebeten werden: Millionen von Impfdosen, deren Haltbarkeit unterdessen abgelaufen ist, müssen in diesen Tagen kostenintensiv vernichtet werden.

Zu den größten Gebern der WHO zählen die USA, die 30 % der freiwilligen Zuwendungen (davon 99,89% zweckgebunden) beisteuern, gefolgt von der „Bill und Melinda Gates Foundation“, die sich mit 220 Millionen. Dollar im laufenden Haushaltsjahr zum zweitgrößten Finanzier der WHO aufgeschwungen und Großbritannien hinter sich gelassen hat. Die bald 200 Mitgliedsstaaten, so resümierte der thailändische Delegierte, sorgen mit ihren Beiträgen für die Sicherstellung der laufenden Kosten, für den Unterhalt der Büros, die Gehälter der Angestellten, das Funktionieren des Apparats, der dann hauptsächlich mit Programmen beschäftigt ist, die von den Interessen der großen Geber bestimmt werden. Und die sind unverkennbar auch an den ökonomischen Interessen der heimischen Industrie ausgerichtet.

Refeudalisierung

Der neueste Jahresbericht der WHO zeigt, wie rasch ihre Privatisierung zuletzt vorangeschritten ist. Zwischen 2007 und 2009 stiegen die Zuwendungen von Stiftungen und privaten Gebern zum Gesamtbudget der WHO von 14% auf 26%. Das spiegelt sich auch im protokollarischen Geschehen. Eröffnungsredner der diesjährigen Weltgesundheitsversammlung war - zum zweiten Mal bereits - Bill Gates, der - begleitet von Kotaus der WHO-Oberen - mit stehenden Ovationen begrüßt wurde. Die Anwesenheit von gewählten Staatspräsidenten dagegen blieb kaum der Rede wert. In der Politikwissenschaft nennt man das Refeudalisierung von demokratischen Verhältnissen.

Der Bedeutungszuwachs von kommerziellen Akteuren und Unternehmensstiftungen hat auch zu einer aus gesundheitspolitischer Perspektive höchst bedenklichen Veränderung der institutionellen Kultur der WHO geführt, was sich in vielen Arbeitsbereichen niedergeschlagen und eine Neuausrichtung der Ziele und Strategien begründet hat. Private Geldgeber sind eben nicht einfach nur Geldgeber, sondern beeinflussen mit der Art, wie sie sich sozialen Fragen annehmen, auch die Haltungen der Empfänger. Aller philanthropischer Wohltäterschaft zum Trotz bleiben Stifter wie Bill Gates doch immer auch überzeugte Vertreter jener Grundsätze, die sie groß gemacht haben: die Grundsätze eines neoliberalen kapitalistischen Geschäftsmodells. Und das wird bekanntlich weniger von der Idee des Gemeinwohls und sozialer Rechte getragen, als vom Streben nach individuellem Gewinn und damit einhergehender betriebswirtschaftlicher Vorgaben.

Philanthrokapitalisten

Durchaus treffend werden Stifter wie Bill Gates in den anglophonen Sozialwissenschaften als „Philanthrocapitalists” bezeichnet. So, wie sie es aus dem Geschäftsleben gewohnt sind, setzen sie auch in ihrem sozialen Engagement auf ein System aus Investitionen und Outputs. Nicht in komplexen und auf Beteiligung zielenden politischen Prozessen sehen sie die Lösung sozialer Probleme, sondern in der effizienten Verknüpfung von Wissenschaft, Technik und den Möglichkeiten des freien Marktes.

In den 1990er Jahren habe er davon geträumt, dass alle Menschen einen PC haben würden, so Bill Gates in seiner Rede vor der WHO, nun sei es höchste Zeit, mit der gleichen betriebswirtschaftlichen Effizienz dafür zu sorgen, dass alle Menschen Impfungen bekämen. „We can save 10 million lives by 2010“, sagte Gates im Mai in Genf, weshalb seine Stiftung künftig ihre gesundheitspolitischen Förderprogramme auf die Entwicklung und den Einsatz von Impfstoffen konzentrieren werde.

So wichtig Impfungen sind, bilden sie dennoch nur einen Teilaspekt im Bemühen um öffentliche Gesundheitsfürsorge. Vor allem die grundlegenden sozialen Determinanten von Gesundheit: die Frage des Einkommens, der Wohnverhältnisse, der Bildung, der Ernährung, der Teilhabe an einer lebendigen Kultur etc. werden von einem Ansatz, der in erster Linie auf Impfungen und andere technische Inputs setzt, ausgeblendet. An die Stelle von engagierten Sozialarbeitern und Gesundheitsaktivisten, die sich um Gesundheit von unten mühen, treten so die „Macher“: die Forscher, Unternehmer und Mäzene, die sich in ihrem zupackenden Handeln gerne als Retter der Welt sehen. Dass sie aber eher ein Teil des Problems sind, gerät dabei aus dem Blick.

Unternehmensstiftungen, so auch die Gates-Stiftung, erwirtschaften ihre Erträge vornehmlich aus Anlagevermögen. Der Großteil jener 25 Milliarden Dollar, die Gates in den zurückliegenden zehn Jahren in Gesundheitsprogramme in aller Welt investieren konnte, entstammt den Renditen von einschlägig bekannten Unternehmen der Chemie-, Pharma- und Nahrungsmittelbranche, deren Geschäftspraktiken allzu oft dem Bemühen um globale Gesundheit zuwiderlaufen. „Gates machte mit der Verteidigung geistiger Eigentumsrechte ein Vermögen. Nun setzt seine Stiftung auf patentierte Medizin und Impfstoffe, statt generische frei zugängliche Produkte zu fördern“, beklagt der US-Pharmakritiker James Love. Wenn Gates die WHO nun für solche Impfprogramme auf Kurs bringt, profitieren davon selbstredend auch die Impfstoffhersteller und deren Shareholder, auch die Gates-Stiftung. Es sind solche Interessenkonflikte, die in all den Huldigungen, die den Philanthrokapitalisten entgegengebracht werden, kaum zur Sprache kommen. Um selbst zu überleben, können Stiftungen wie die Gates Foundation, letztlich nur solche Programme fördern, die das bestehende Finanz- und Wirtschaftssystem stärken.

WHO-Reform von unten

Auf bedenkliche Weise ist in den letzten Jahren die Trennlinie zwischen sozialem und kommerziellem Handeln verschwommen. Obwohl dem kapitalistischen System längst jede Rationalität abhanden gekommen ist, gilt die unternehmerische Initiative noch immer als der öffentlichen überlegen. Auch internationale Behörden, wie die WHO, die Welternährungsorganisation (FAO) oder der UN-Flüchtlingshochkommissar (UNHCR) gelten als schwerfällig, bürokratisch, ineffizient - dem Handeln privater Akteure hoffnungslos unterlegen. Statt auf demokratischen Entscheidungsprozessen und der Eigentümlichkeit von sozialen Prozessen zu bestehen, suchen auch sie ihr Heil in der Ausrichtung ihrer Arbeit an den Vorgaben von Betriebswirten.

Tatsächlich müsste die WHO, um wieder in den Dienst ihrer verfassungsmäßigen Aufgaben gestellt zu werden, grundlegend reformiert werden. Sie müsste, wie der bereits eingangs zitierte thailändische Delegierte sagte, gänzlich neu geschaffen werden: „Wir glauben nicht, dass die WHO reformierbar ist, wir glauben an ihre ‚Wiedergeburt’!”

Daran arbeiteten auf Einladung der Frankfurter Hilfsorganisation medico international und dem international tätigen People's Health Movement Anfang Mai diesen Jahres in Neu Delhi 50 Vertreter von Grassroots-Initiativen, sozialen Bewegungen, gesundheitspolitischen NGOs, ehemalige Regierungsbeamte und akademische Gesundheitsexperten. Am Ende der dreitägigen Beratungen stand ein gemeinsames Dokument, das Grundsätze und Empfehlungen für die Demokratisierung globaler Gesundheit benennt (siehe Auszüge). Mit der Ausrichtung aller künftigen Gesundheitsanstrengungen an den Grundsätzen der Menschenrechte fordert dieses „Delhi-Statement” eine radikale Abkehr von kommerziellen Interessen und der Macht des Geldes.

Dem Recht auf Gesundheit - wie auch den anderen sozialen Rechten - ist Priorität in allen internationalen Verhandlungen und Übereinkünften einzuräumen, die den Bereich der Gesundheit tangieren. Statt Gesundheit wirtschafts- und finanzpolitischen Fragen unterzuordnen, muss es künftig umgekehrt „Gesundheit zuerst!” heißen.

Dazu ist es erforderlich, die während der zurückliegenden drei Jahrzehnte betriebene systematische Schwächung gesellschaftlicher Institutionen rückgängig zu machen. Globale Gesundheitspolitik bedarf einer gestärkten WHO, die sich in einem viel stärkeren Maße als bisher den Möglichkeiten demokratischer Partizipation öffnen muss. Die Welt schwimmt im Geld, heißt es am Ende des Statements: es ist höchste Zeit, den existierenden globalen Reichtum nach den Grundsätzen der Solidarität und per neuer Fiskalpolitik so umzuverteilen, dass auch gesellschaftliche Institutionen wieder ihrem Auftrag entsprechen können, für menschenwürdige Lebensbedingungen zu sorgen.

Das Delhi-Statement, das von 17 Organisationen und Netzwerken, darunter der Weltkirchenrat, die Weltsozialforen, Medicus Mundi, das im südlichen Afrika tätige Equinet und vielen anderen, unterzeichnet wurde und noch rechtzeitig zur Weltgesundheitsversammlung im Mai 2011 ver-öffentlicht werden konnte, ist unter den Delegationen der Mitgliedsländer auf beachtliche Zustimmung gestoßen. Nicht wenige nahmen in ihren offiziellen Stellungnahmen explizit darauf Bezug, und Brasilien zitierte gleich absatzweise aus den Empfehlungen des Statements. Auch das Bundesgesundheitsministerium hat unterdessen eine der Forderungen aufgegriffen und NGOs, Sozialverbände und Gewerkschaften dazu eingeladen, an der Neufassung der deutschen Position zu Fragen globaler Gesundheitspolitik beratend mitzuwirken.

Thomas Gebauer

Veröffentlicht am 15. September 2011

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