Ein Jahr nach dem Erdbeben

Chiles Katastrophenkapitalismus

Wenige Wochen nach der Jahrhundert- Katastrophe in Haiti erlebte Chile am 27. Februar das schwerste Erdbeben seiner Geschichte seit der Aufzeichnung. Das katastrophengeplagte Chile war trotz des ungleich schwereren Bebens weitaus besser auf das Desaster vorbereitet. Insgesamt waren 524 Tote und 31 vermisste zu beklagen, 370.000 Menschen galten als Erdbebenopfer. Dafür waren die Folgen sozial und ökonomisch verheerend. Die Anzahl der Armen stieg um 500.000 auf drei Millionen Menschen. Die Sachschäden werden auf 30 Milliarden USDollar geschätzt, das entspricht fast einem Fünftel des Bruttoinlandsprodukts. Der Schriftsteller Ariel Dorfman beklagte damals, das Erdbeben habe „tiefe Risse und Verwerfungen im sozialen und ethischen Gewebe Chiles, den andauernden Tsunami des Mangels“ offenbart, die „Modernisierung, mit der sich das Land in den letzten Jahrzehnten gebrüstet hat“, sei in Wirklichkeit kosmetisch und prekär. Der freie Journalist Gerhard Dilger besuchte für medico das Land ein Jahr später.

Glaubt man den jüngsten Verlautbarungen des Präsidenten, dann hat seine Regierung aus neoliberalen Technokraten und Nachfolgern der Pinochet- Rechten die Lage fest im Griff: 99 Prozent der öffentlichen Infrastruktur sei „ganz oder teilweise“ wiederhergestellt, 60 Prozent der Wohnungsbaukredite habe man ausgezahlt, 70 Prozent der Schulen seien wiederaufgebaut oder repariert, zählt er auf. Der Wiederaufbau sei „effizient“ angegangen worden, beteuert der telegene Exunternehmer, und bis zum Ende seiner Amtszeit im März 2014 werde er abgeschlossen: „Es ist uns gelungen, die enorme Herausforderung anzunehmen, unser Land wieder auf die Beine zu stellen.“ Große Bergbaumultis bewegte er zu einer freiwilligen, zeitlich begrenzten Erhöhung von Förderabgaben (royalties), die bis 2014 über 3 Milliarden Dollar zusätzlich in den Staatssäckel spülen sollen. Im Gegenzug sicherte er ihnen eine Verlängerung ihrer schon jetzt niedrigen Steuersätze bis 2023 zu. Bei einem Frühstück mit ausländischen Korrespondenten hob Piñera das letztjährige Wirtschaftswachstum von landesweit 5,2 Prozent hervor – dass die Krisenregion Biobío derweil um 11,3 Prozent schrumpfte, erwähnte er ebensowenig wie die 500.000 Menschen, die das Erdbeben nach einer Studie des Planungsministeriums in die Armut gestürzt hat. Als Paradebeispiel für den Wiederaufbau gilt das Seebad Dichato nördlich von Concepción, „das wird noch viel besser als vorher“, schwärmte der Präsident. Doch Mitte Februar wurde er dort von wütenden Demonstranten empfangen, acht von ihnen hielt man bis zu seiner Abreise auf der Polizeiwache fest. „Ein Jahr nach dem Erdbeben ist nichts passiert“, schimpfte Miguel Barra aus dem Notlager El Molino, „wir brauchen Wasser, Basisdienstleistungen, Baudarlehen und Arbeit. Die Regierung versucht, uns gezielt zu spalten“. Vier- bis fünftausend Familien, also bis zu 25.000 Chileninnen und Chilenen, hausen noch heute inolge des Erdbebens in solchen eigentlich provisorischen Vierteln. Insgesamt sind es landesweit sogar rund 150.000 Menschen – „Unsichtbare für die Gesellschaft“, wie Daniel García von der NGO „Ein Dach für Chile“ feststellt. Er befürchtet, Piñera dürfte ebensowenig wie seine drei Vorgänger das Versprechen halten, diese prekären Ansiedelungen überflüssig zu machen. Und die Gouverneurin von Biobío wurde dabei ertappt, wie sie Bürgern eines „normalen“ Armenviertels dazu riet, sich um Baudarlehen für Erdbebenopfer zu bewerben – die Episode blieb folgenlos für sie. In Dichato wurden nach dem Erdbeben 450 Familien am Rand einer Eukalyptusplantage angesiedelt, bis zu vier Kilometer von ihren früheren Häusern direkt am Meer entfernt. Dorthin können sie nicht zurückkehren. Auch Ferienhäuser von Städtern aus Chillán hat der Tsumami für immer weggespült, für die Grundstücke am Strand wurde ein Bauverbot verhängt. Die Begründung klingt plausibel: Vor einem Jahr starben hier 72 Menschen, als 18 Stunden nach dem Beben und der Entwarnung ein dritter Tsunami die Zurückgekehrten kalt erwischte. Daher soll hinter dem Strand ein 40 Meter breiter Streifen mit Bäumen bepflanzt werden, am Ende des Strandes ist eine große Mauer geplant. Schon heute finden sich an den Hügeln zu beiden Seiten der Bucht eingezäunte Wohnanlagen – eine Wohnform, die unter betuchten Lateinamerikanern immer beliebter wird. Dichato, fürchtet mancher, soll zu einem Seebad der oberen Preisklasse umgebaut werden. Den verarmten Einheimischen bliebe dann nur die Aussicht, als billige Arbeitskräfte im Baugewerbe und anschließend in der Tourismusbranche angeworben zu werden.

Halsabschneiderkapitalismus

Das erinnert an Katastrophenkapitalismus à la Naomi Klein – wenn auch in bescheidenerem Maßstab: Die Annahme, bei Katastrophen lege der „Halsabschneiderkapitalismus“ eine Pause ein und der Staat schalte einen Gang hoch, habe sich nach den Zerstörungen des Wirbelsturms Katrina in New Orleans nicht mehr bewahrheitet, schreibt die Kanadierin in ihrem Buch „Die Schock-Strategie“. Ebensowenig wie seine rechten Kollegen in der Region vermeidet es Sebastián Piñera jedoch stets, sich als knallharten Neoliberalen zu inszenieren. Lieber versucht sich der drittreichste Mann Chiles an der Rolle als gütiger Landesvater, redet viel von „nationaler Einheit“ und von „einer anderen Art zu regieren“. Chile will er wie einen Großkonzern führen. Die Schlüsselpositionen in seinem Kabinett bis hin zum Außenminister besetzte er wie selbstverständlich mit Vertretern des Großkapitals. Anders als in Südamerika mittlerweile üblich, werden in Chile die Chefs der Regionalregierungen nicht gewählt, sondern vom Staatspräsidenten eingesetzt. Die zwei Gouverneure von Santiago und der Erdbebenregion Maule waren zuvor Bauunternehmer, die sich nach dem Beben schwerer Vorwürfe erwehren mussten – ihre Firmen hatten offenbar schlampig gebaut. Der Direktor des im Präsidialamt angesiedelten Nothilfekomitees, ein früherer Unternehmer, verteilte Millionenaufträge ohne Ausschreibung. In den tonangebenden Medien sind solche offensichtlichen Interessenkonflikte nur selten ein Thema – kein Wunder, sind Zeitungen und TV-Sender ja selbst wichtiger Bestandteil des oligarchischen Systems. Beamte der staatlichen Kontrollbehörde und unabhängige Journalisten haben jedoch eine ganze Reihe von Affären aufgedeckt. Die Supermarktkette Cencosud deklarierte Lebensmittelimporte aus Argentinien als Spenden, um Abgaben zu umgehen – und wurde dabei von den Zollbehörden gedeckt. Piñeras Nothilfekomitee kaufte zwei Firmen Notbehausungen zu deutlich überteuerten Preisen ab. Das Bauministerium beauftragte jene Firma, die die meisten beschädigten Hochhäuser in Concepción gebaut hatte, mit deren Abriss. „Die Gewinne der großen Firmen sind das Wichtigste“, klagt der Aktivist Eduardo Amparo, „das Gerede über den Wiederaufbau ist ein Vorwand, um immer mehr zu privatisieren“. Auch NGO-Vertreter in Santiago stellen der Regierung ein schlechtes Zeugnis aus. „So ein Wiederaufbau dauert 8 bis 15 Jahre“, meint Nicolás Valenzuela von Reconstruye und verweist dabei auf internationale Erfahrungen. „Piñera hat überzogene Erwartungen geweckt“, sagt der Städteplaner, auch die Fixierung auf Wohnraum sei kontraproduktiv: „Man muss das Leben der Leute langfristig wieder aufbauen, und das fängt beim Arbeitsplatz an. Es bringt doch nichts, Häuser an Orten aufzubauen, wo es keine Arbeit mehr gibt.“ So würden die Betroffenen viel zu wenig in die Aufbauprojekte einbezogen, statt Kleinunternehmen vor Ort zu fördern, habe die Regierung viele Aufträge an Großfirmen der Hauptstadt vergeben. „Die Kluft zwischen Arm und Reich wird durch den Wiederaufbau wachsen“, befürchtet Valenzuela, viele arme Mieter, deren Häuser zerstört wurden, müssten aus den Stadtzentren weichen. Sein Fazit: „Die Maßnahmen sind nicht nachhaltig, wahrscheinlich muss der nächste Präsident 2014 einen Wieder-Wiederaufbauplan auflegen.“ „Wir sind nur wenig beteiligt worden, alles ist sehr zentralisiert und sehr wenig transparent“, kritisiert Alicia Sánchez vom Netzwerk Acción, in dem 60 Organisationen zusammengeschlossen sind. Die Schwäche der Zivilgesellschaft und weitverbeitete Gleichgültigkeit mache es der Regierung allerdings besonders leicht, hat sie beobachtet. Ihre Kollegin Flavia Liberona von der Umweltstiftung Terram beklagt die „totale Unfähigkeit“ der Behörden, sich einen Überblick über die ökologischen Folgen des Bebens zu verschaffen. Die Tendenz, alles zu privatisieren, sei jedoch ungebrochen, meint Liberona.

Minimalstaat

Zur Logik des „Minimalstaates“ passt es, dass die spektakulärste Solidaritätsaktion von der Benefiz-Fernsehshow Teletón auf die Beine gestellt wurde. Im 25-stündigen Mammutprogramm eine Woche nach dem Beben traten neben zahlreichen Stars auch Bachelet und Piñera auf – an Spenden kamen 87 Millionen Dollar zusammen. Ein Drittel davon floss an „Ein Dach für Chile“. Die von einem Jesuiten gegründete NGO ließ damit innerhalb von drei Monaten von Freiwilligen 24.000 Holzhäuser bauen, mit den übrigen zwei Dritteln wurden über Teletón Schulen repariert oder neu gebaut. Auch wenn sich einige Bürgermeister beklagten, ihre Gemeinden hätten von diesen Hilfsaktionen nichts abbekommen – größere Unregelmäßigkeiten sind nicht belegt. Im Gegenteil: Im Vergleich zu den staatlichen Stellen agierten diese Stiftungen schnell und unbürokratisch. So hat die Regierung zwar 135.000 Bauzuschüsse genehmigt, doch der Papierkrieg bis zur Auszahlung kann über ein Jahr in Anspruch nehmen. Noch langsamer geht es bei den Baugenehmigungen für die neuen Häuser voran. Und für mindestens 70.000 Kinder bleiben Unterrichtsausfälle an der Tagesordnung, schätzt der nationale Verband der Kommunen. Gegen Piñeras bürokratisiertes, autoritäres und auf Kapitalinteressen ausgerichtetes Krisenmanagement setzen die Betroffenen nun auf Selbstorganisation. Ende Januar haben sich in Talca 25 Basisinitiativen aus den Katastrophengebieten zur „Nationalen Bewegung für den gerechten Wiederaufbau“ zusammengeschlossen. Zum Jahrestag des Bebens haben sie öffentlichkeitswirksam gegen ein „Jahr ohne Wiederaufbau“ protestiert. „Wir wollen keinen Schnickschnack“, sagt Sprecher Pablo Díaz mit Hinblick auf die PR-Offensive der Regierung, „wir wollen einen Prozess, der die Bürger in den Mittelpunkt rückt und nicht die Privatunternehmen“.

Veröffentlicht am 11. April 2011

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