Kommentar von Thomas Gebauer

Zeiten der Unruhe

Das Elend der Welt ist längst so groß, dass es durch Hilfe nicht mehr gemildert werden kann. Sind Aufklärung und Humanismus am Ende?

Terroranschläge in Paris, Krieg in der Ukraine, anhaltende Flüchtlingsdramen im Mittelmeer, humanitäre Krise in Griechenland – die Schrecken der Welt rücken näher. Das Elend aber, das dabei sichtbar wird, bildet nur die Spitze des Eisberges. Die Krise reicht viel tiefer. Wer eine Ahnung von ihrem Ausmaß bekommen will, sollte einen Blick in den gerade veröffentlichten Bericht der Bundesregierung über die humanitäre Hilfe werfen:

„Dramatische Entwicklung“ in Syrien; - die Lage in den Palästinensischen Gebieten „weiter verschlechtert“; - im Jemen „fast die Hälfte der Bevölkerung auf humanitäre Hilfe angewiesen“; - im Irak „wieder eine Million Menschen auf der Flucht“; - „wiederkehrende Dürren, Hungersnöte und Gewalt“ am Horn von Afrika; - „signifikante Verschlechterung“ in Somalia; – „prekäre Lage“ im Sudan, „angespannt und eskaliert“ im Südsudan, „kritisch“ im Tschad; – im Niger „4,3 Mio. Menschen von Nahrungsmittelknappheit“ bedroht; – höchste sog. „level 3 Notlage“ in der Zentralafrikanischen Republik; – in der DR Kongo „6,7 Mio. Menschen von Nahrungsmittelunsicherheit bedroht“, - „konfliktbedingte Binnenvertreibung“ und „höchste Mangel- und Unterernährungsrate“ in Pakistan, etc., etc.

Es sind nüchterne Worte, mit denen der Bericht die katastrophale Entwicklung der letzten Jahre dokumentiert. Wobei die behördliche Feststellung des millionenfachen Leidens verstörender wirkt als all die „human touch“ Erzählungen, mit denen Hilfsorganisationen heute für Spenden werben. Deutlich wird der prekäre Zustand der Welt, dessen Brutalität nicht zuletzt in einer kaum noch empörenden, fast schon zwangsläufig erscheinenden Zerstörungsdynamik liegt. Es ist ein stilles Verrecken, das uns da entgegentritt; versteckt in vergessenen Katastrophen, von denen kaum jemand Notiz nimmt.

Wenn uns Berichte aus dem afrikanischen Sahel erreichen, dann vielleicht, weil die terroristische Boko Haram wieder ein Massaker begangen hat, nicht aber weil Millionen von Menschen nicht mehr wissen, ob sie sich morgen noch ausreichend ernähren können. Im Nahen Osten starren wir auf die Gräueltaten des Islamischen Staates, erwägen das Für und Wider von Waffenlieferungen und haben doch keine Vorstellung mehr davon, was es bedeutet, wenn dort bald 12 Millionen Menschen auf der Flucht sind. Allein im Libanon sind heute 1,2 Mio. registrierte, geschätzt bald 2 Mio. Flüchtlinge zu versorgen. Jeder dritte Bewohner des kleinen Landes ist ein Flüchtling.

Und der Bericht der Bundesregierung lässt auch daran keinen Zweifel: das Elend der Welt ist längst so groß, dass es durch Hilfe nicht eigentlich mehr gemildert werden kann. Auf dramatische Weise übersteigt der Versorgungsbedarf heute die weltweit zur Verfügung stehenden Mittel. Selbst die großen UN-Hilfswerke sind inzwischen überfordert. Die ungebremste Krisendynamik der letzten Jahre hat das internationale humanitäre System gesprengt. Das Bemühen der Politik, über zupackende humanitäre Hilfe vom eigenen Scheitern abzulenken, steht vor dem Aus.

Unter solchen Umständen nimmt es nicht wunder, wenn die Idee aufkommt, dass sich Menschen selbst schützen und bereits im Vorfeld von eintretenden Katastrophen eigene Bewältigungskapazitäten aufbauen sollen. So vernünftig das scheint, gibt es dennoch zu denken, dass in all den „Disaster Preparedness“- Ansätzen und „Resilienz“-Förderprogrammen immer auch ein furchtbares Eingeständnis mitschwingt: das Eingeständnis, dass Krisen und Unsicherheit künftig nicht mehr die Ausnahme sein werden, sondern die Regel. Sich auf kommende Katastrophen vorzubereiten, bedeutet eben auch, dass sich Klimawandel, Kriege und Ernährungskrisen als „Business as usual“ fortsetzen können.

Agrobusiness verhindert lokale Schutzmöglichkeiten

Wie aber sollen die Hungernden im Sahel lokale Schutzmöglichkeiten aufbauen, wenn die globalen Verhältnisse genau diese immer wieder zunichtemachen? Wie kann jene kleinbäuerliche Landwirtschaft bewahrt und ausgebaut werden, die in einkommensarmen Ländern bekanntlich der beste Schutz gegen Ernährungsunsicherheit ist, wenn eben die Kleinbauern dem weltweiten Agrobusiness im Wege stehen? Und die Agrarlobby hat mächtige Verbündete, zum Beispiel die G7/8-Staaten, die auf ihrem Gipfel vor drei Jahren die Förderung der industrialisierten Landwirtschaft beschlossen haben.

Auf dem kommenden G7-Gipfel im bayerischen Elmau will sich Deutschland für den Aufbau schützender Gesundheitssysteme stark machen. Wie aber können die entstehen, wenn parallel die fiskalischen Möglichkeiten der Länder im Süden im Zuge machtpolitisch durchgesetzter Freihandelsabkommen immer geringer werden? Solange „Disaster Preparedness“ nicht mit der politischen Regulierung von zentralen Handels- und Eigentumsfragen einhergeht, wird auch alles Bemühen um Katastrophenvorsorge notwendig scheitern.

Zum Skandal der heutigen Verhältnisse gehöre eine fast komplette Abwesenheit von „political accountabiliy“, befand 2009 die Stiglitz-Kommission in ihrem Bericht an die Vereinten Nationen. Verantwortlich fühlt sich die heutige Politik bestenfalls noch gegenüber den Vorgaben der Ökonomie, nicht aber mehr gegenüber den sozialen Bedürfnissen und Rechtsansprüchen von Menschen. Die Härte, die aus solcher Verantwortungslosigkeit resultiert, zeigt sich im gegenwärtigen Umgang der Europäischen Union mit Griechenland. Schulden ließen sich nicht abwählen, so der hämische Kommentar in Reihen deutscher Regierungsparteien, die neue Athener Regierung müsse lernen, dass Politik nicht anders als eine „schmerzliche Begegnung mit der Realität“ sei. Wer sich dem Fluch dieser Realität dennoch entgegenstemmt, wer die Forderung nach Accountability ernst nimmt, muss damit rechnen, als „Geisterfahrer“ verunglimpft zu werden.

Humanismus und Aufklärung seien tot, meint Michel Houellebecq, dessen neuer Roman „Die Unterwerfung“ gerade Furore macht. Der politische Zyklus, der mit der Französischen Revolution begann, neige sich, so Houellebecq, dem Ende zu. Immer deutlicher werde, dass Freiheit und Gleichheit, die großen Versprechen der Moderne, unerfüllt bleiben. Die Ideen der Aufklärung würden in einer erneuten Hinwendung zu Religion erlöschen. Die Verzweiflung, die aus solchen Sätzen spricht, ist keine Pose, und tatsächlich unternimmt die gegenwärtige Politik alles, damit Houellebecq recht behält. Sie lässt es zu, dass die soziale Ungleichheit auf dramatische Weise wächst und sorgt dafür, dass das Freiheitsideal zum Egoismus der einen und faktischer Vogelfreiheit der anderen verkümmert. Aber gab es beim Sturm auf die Bastille nicht noch eine dritte Forderung? Gab es neben Freiheit und Gleichheit nicht auch die Forderung nach solidarischer Gesellschaftlichkeit, nach Fraternité?

Solidarität braucht politische Gestaltung

Die Ideen der Französischen Revolution sind heute vor allem deshalb so bedroht, weil die Sache mit der Solidarität nie so recht ernst genommen wurde. Vielen galt die Idee eines sozialen Zusammenhalts mehr als ein emotionales Beiwerk, das vielleicht gut für erbauliche Sonntagsreden ist, aber ansonsten ohne jede Bedeutung. Übersehen wurde dabei, dass gerade die Forderung nach solidarisch verfasster Gesellschaftlichkeit auf politische Gestaltung drängt. Voraussetzung für ein selbstbestimmtes Leben sind soziale Institutionen, die nicht zuletzt über politische Regulierung und materielle Umverteilung dafür sorgen, dass auch die anderen Ideale, dass Freiheit und Gleichheit nicht ins Leere fallen und sich nicht fundamentalistische und/oder rechtspopulistische Bewegungen des zutiefst menschlichen Bedürfnises nach Gemeinschaft bemächtigen können.

Und so harrt die Gesellschaft der Citoyen, die weder eine von oben übergestülpte „Versorgungsdiktatur“ noch nur den wehrhaften Schutz privater Besitztümer und Privilegien zum Ziel hat, noch immer ihrer Verwirklichung. Sie erfordert nicht die Zurückweisung von gesellschaftlichen Institutionen, sondern deren radikal-demokratische Aneignung. „Unser Schuldbuch sei vernichtet! ausgesöhnt die ganze Welt!“ - Es ist höchste Zeit, Schillers Worte aus der „Ode an die Freude“, wenige Jahre vor der Französischen Revolution geschrieben, nicht nur gefühlstrunken zu deklamieren, sondern zu einer nüchternen Realität werden zu lassen.

Veröffentlicht am 16. März 2015
Thomas Gebauer

Thomas Gebauer

Thomas Gebauer war von 1996 bis 2018 Geschäftsführer von medico international und bis Ende 2020 Sprecher der Stiftung medico. Als Zivildienstleistender ist er Ende der 1970er Jahre zu uns gekommen. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten zählen Fragen der internationalen Friedens- und Sicherheitspolitik und die sozialen Bedingungen globaler Gesundheit. Der Psychologe erhielt 2014 die Goethe-Plakette, mit der die Stadt Frankfurt Persönlichkeiten des kulturellen Lebens würdigt.


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