Proteste in Guatemala

"Sie haben uns alles genommen, auch die Angst"

Enthüllungen über eine mafiöse Struktur in Guatemala, der millionenschwere Korruption vorgeworfen wird, brachten das Fass zum Überlaufen.

"Sie haben uns alles weggenommen, auch die Angst". Dieser Spruch wird von guatemaltekischen Gesprächspartner_innen immer wieder zitiert, wenn man fragt, wie es denn plötzlich zu diesen massenhaften Protesten kommen konnte. Es war einer der vielen Sprüche im Meer selbst gemachter Plakate bei dem ersten, großen Protesttag am 25. April.

Wer Guatemala kennt, weiß wie lähmend die allgegenwärtige Angst immer wieder gewirkt hat. Angst infolge der zunehmenden Militarisierung des Landes, infolge der Kriminalisierung sozialer Proteste und von Menschenrechtsaktivist_innen, vor allem im Zusammenhang mit den sogenannten Megaprojekten (Bergbau, Staudämme, Monokulturen).

Große, bunte Demonstrationen

Am 25. April versammelten sich spontan circa 20.000 Menschen im Parque Central, dem großen Platz im Zentrum der Hautstadt, vor Präsidialpalast und Kathedrale. Am 16. Mai waren es gar über 30.000. Das Bild war beide Male geprägt von bunter Vielfalt: Student_innen, nicht nur der öffentlichen San Carlos Universität, sondern auch der großen privaten Universitäten, vereint mit zigtausend Empörten aus Unter- und Mittelschicht. Sie alle folgten den Aufrufen, die in den sozialen Netzen kursierten, vereint in grenzenloser Indignation. Gefordert wurde unter anderem der sofortige Rücktritt von Präsident Otto Pérez Molina und seiner Vize-Präsidentin Roxana Baldetti.

Von den internationalen Medien wenig beachtet, gab es aber auch dezentrale Protestaktionen im ländlichen Raum. "Es war herrlich, total spontan und sehr kreativ", berichtet der Menschenrechtsaktivist Wilbert und ergänzt, dass der Spruch "Wir wollen keine politischen Gefangenen, sondern gefangene Politiker" (No queremos presos políticos, queremos políticos presos) für ihn die Situation gut auf den Punkt gebracht hat.

Eine neue Generation bricht Tabus

Maria, Psychologin bei der medico-Partnerorganisation ECAP, ergänzt, dass das man die Bedeutung des Genozid-Prozesses gegen Ex-Diktator Rios Montt nicht unterschätzen dürfe. Er habe eine breite und durchaus kontroverse Debatte ausgelöst, nicht nur in den Medien. "Ich sehe darin eine wichtige Grundlage für das, was aktuell geschieht, insbesondere bezogen auf die Jugend. Ausgehend vom Prozess wurden Dinge an- und ausgesprochen, die zuvor Tabu waren. Jugendliche haben ihre Eltern oder Großeltern angesprochen und nachgefragt, was in jener Zeit vorgefallen ist. Zudem haben wir nun die dritte Generation, bezogen auf den internen bewaffneten Konflikt; und diese Jugendlichen haben begonnen, gewisse Mechanismen zu überwinden, sind aktiver, vernetzter. Ich finde das alles sehr spannend und aufregend, endlich tut sich was in Guatemala."

Ein mafiöses Netz, das Zoll- und Steuerbehörden kontrolliert

Die Enthüllungen der UN-mandatierten CICIG, der Internationalen Kommission gegen die Straffreiheit und der Staatsanwaltschaft über das mafiöse Netz La Linea (Die Linie) brachte das Fass zum überlaufen. Eine mafiöse Struktur, angeführt vom Privatsekretär der Vize-Präsidentin Baldetti, das Zoll- und Steuerbehörden kontrollierte und der millionenschwere Korruption vorgeworfen wird.

Das Mandat der CICIG sollte eigentlich im September auslaufen, der Präsident hat sich zuletzt immer wieder vehement gegen eine Verlängerung ausgesprochen. Und die Staatsanwaltschaft, von der befürchtet wurde, dass sie das bisher Erreichte in Sachen Strafverfolgung zurückschrauben könnte, nachdem die erfolgreiche Generalstaatsanwältin Claudia Paz y Paz vorzeitig ihren Platz räumen musste.

Der Stuhl des Präsidenten wackelt

Schließlich musste Baldetti zurücktreten und Pérez Molina höchstpersönlich ersuchte bei den Vereinten Nationen um eine Verlängerung des Mandats der CICIG. Unglaublich und so in der jüngeren Geschichte Guatemala noch nicht gesehen. "Auch Otto Pérez muss gehen" war die zentrale Forderung am zweiten Protesttag. Und in der Tat: sein Stuhl wackelt. Noch ist unklar, ob er die Monate bis zu den Wahlen im September übersteht. "Die Patriotische Partei von Otto Pérez könnte implodieren und versuchen die Wahlen zu verhindern. Die Wahlen sind zwar nicht der Ausweg, wir müssen aber garantieren, dass sie stattfinden. Bedauerlicherweise ist aktuell keine wirkliche politische Alternative in Aussicht, die Linke zu zersplittert", so ein Bekannter, der lieber nicht namentlich genannt werden möchte.

Eine Chance auf Veränderung

"Zum ersten Mal seit langer Zeit könnte die Gesellschaft die große Chance zu grundlegenden Veränderungen haben, auch wenn das so korrupte System sich nicht so einfach geschlagen geben wird", schreibt Michael Mörth, Menschenrechtsanwalt beim medico-Partner Bufete de Derechos Humanos. Diese Hoffnung teilen alle unsere Partnerorganisationen und Freunde in Guatemala, ebenso die Gewissheit, dass mit dem politischen Ende der aktuellen Regierung das herrschende System in Guatemala noch keineswegs überwunden ist. 

Veröffentlicht am 26. Mai 2015

Dieter Müller

Dieter Müller ist seit 1989 bei medico international. Von 2008 bis 2012 leitete der Geograph das medico-Regionalbüro in Managua (Nicaragua). 2015 bis 2018 war er Büroleiter von medico in Ramallah (Palästina). Aktuell arbeitet er zu Themen globaler Gesundheit (Foto: medico)


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