Migration

Insel des zivilen Ungehorsams

Die Migrantenherberge La 72 leistet Flüchtlingshilfe und setzt auf die politische Mobilisierung gegen staatliche Ignoranz und die blühende Gewaltökonomie. Von Peter Biermann

Alle Welt ist empört über die migrationsfeindliche Politik von US-Präsident Donald Trump Merkwürdigerweise ist die Regierung Mexikos mit von der Partie. Scheinheilig echauffiert sie sich und tritt für den Schutz ihrer Staatsbürger/innen in den USA ein. Gleichzeitig läuft die Bekämpfung der Migration an der eigenen Südgrenze auf vollen Touren. Die angeschlagene Regierung von Präsident Peña Nieto steckt in der Zwickmühle: Sie will weder politisches Kapital in den USA noch im eigenen Land verspielen. Die Lösung: Nach unten treten. Aber immer heftiger.

Militarisierung der Grenzen

Bei einer zentralamerikanischen Sicherheitskonferenz verkündeten hochrangige Militärs im April die Schaffung einer Eingreiftruppe der mexikanischen und guatemaltekischen Armee, beides Institutionen mit verheerender Menschenrechtsrechtsbilanz. Mit Unterstützung des US-Militärs sollen Drogenhandel und Migration entlang der gemeinsamen Grenze eingedämmt werden, die Operationsbasis ist das guatemaltekische Department Petén.

Das Projekt steht im Kontext einer Umorientierung der sogenannten „Allianz für den Wohlstand“. Dieses US-Programm mit Guatemala, El Salvador und Honduras war ursprünglich zur Bekämpfung von Fluchtursachen gedacht, doch schon unter Obama machten die Sicherheitsausgaben 60 Prozent des Budgets aus. Das neue Vorhaben soll Mitte Juni auf einer Konferenz in Miami beschlossen werden, zu der die Regierungschefs der Region, aber auch EU-Vertreter/innen erwartet werden. Die Prioritäten lässt der Auftaktort erahnen: Die Konferenz beginnt im Hauptquartier des US-Südkommandos.

Die Gewaltökonomie blüht dank der Schutzlosigkeit der Flüchtenden

Die schon jetzt brutalen Folgen des Grenzregimes beleuchtet der im April erschienene erste Menschenrechtsbericht der von medico unterstützten Migrantenherberge La 72 in Tenosique im mexikanischen Bundesstaat Tabasco. Allein in ihrem Umfeld, und Tenosique zählt nicht zur Hauptfluchtroute, registrierten sie im vergangenen Jahr 612 Überfälle, 278 Fälle von Amtsmissbrauch wie zum Beispiel Erpressung durch korrupte Beamte, 71 Entführungen und 37 Fälle von sexueller Gewalt gegen Migrant/innen. Die Täter sind einfache Kriminelle, Mafiastrukturen, Migrationsbeamte, Polizisten oder Militärs.

Die Gewaltökonomie blüht dank der Schutzlosigkeit der Flüchtenden und der Verweigerung ihrer Rechte. Daran wird eine Militarisierung der Grenzen nichts ändern, sondern nur die Preise der Schlepper, die von der Mafia kontrolliert werden, in die Höhe treiben. Nach UNODC-Schätzungen erwirtschaften die Kartelle mit dem Menschenschmuggel jährlich über 6 Mrd. US-Dollar. Damit wäre dieser Geschäftszweig inzwischen rentabler als der Drogenschmuggel, außerdem ist der Verfolgungsdruck geringer. Unerwähnt von der UN-Organisation bleibt der legale Profit, den Unternehmen mit der technischen Hochrüstung der Grenze machen.

Generalisierte Straflosigkeit

Die 72 spricht von einer generalisierten Straflosigkeit. Jede fünfte Person, die in die Herberge kommt, berichtet von Menschenrechtsverletzungen, die ihr widerfahren sind. 2015 entschieden sich 150 Opfer eine Anzeige zu erstatten, aber bis heute konnte die Justiz keinen einzigen Täter zur Verantwortung ziehen.

Gegen diese Verhältnisse stemmt sich die Herberge und wird damit selbst zum Angriffsziel. Eine Einschüchterung, und es war nicht die letzte, kam per Telefon im Oktober 2016 – just nachdem die Beteiligung von Polizisten an Entführungen öffentlich gemacht wurde.

Der Franziskaner und Leiter der 72 Fray Tomás versteht die Herberge als „Raum des zivilen Ungehorsams“ gegen einen Staat, der seinen Verpflichtungen nicht nachkommt. Und die Notwendigkeit zum Ungehorsam wächst: 2011 fanden in der Herberge noch 6.200 Menschen Zuflucht. Im Jahr 2016 waren es schon 13.805 Personen. Während sich anfangs vor allem junge Männer auf den Weg machten, sind es jetzt ganze Familien, allein reisende Kinder und Jugendliche, LGBT-Personen oder Senior/innen, von denen die meisten aus Honduras, einige selbst aus afrikanischen Ländern kommen.

Flüchtlingshilfe als ziviler Ungehorsam

Inzwischen bleiben immer mehr Migrant/innen in Tenosique. Die Herberge, sagt Fray Tomás, hat sich regelrecht in ein Flüchtlingslager verwandelt, weshalb sie jetzt einen Gemeindegarten zur Selbstversorgung anlegen.

Alles begann vor sechs Jahren mit der Bereitstellung von Unterkunft und Rechtsberatung. Aber schon immer hat sich „La 72“ als Ort der politischen Mobilisierung begriffen. Die Aktivist/innen arbeiten mit den Dörfern entlang der Routen zusammen, damit bei Übergriffen nicht weggesehen, sondern eingeschritten wird. Beim einem transnationalen Runden Tisch koordinieren sie ihre Arbeit entlang der Grenze mit mexikanischen und guatemaltekischen Organisationen.

Und jedes Jahr vor Ostern organisiert die Herberge den „Kreuzweg der Migrant/innen“. Dieses Jahr ging das Team der 72 nach El Salvador und Honduras und bot zur Flucht entschlossenen Menschen ihre Begleitung an. Schließlich wanderte eine Gruppe von 50 Personen über die guatemaltekisch-mexikanische Grenze, wo Überfälle an der Tagesordnung sind. In Mexiko beantragten die  Flüchtenden Asyl.

Der Kreuzweg ist ein Akt widerspenstiger Nächstenliebe, die menschenverachtende Verhältnisse nicht hinnimmt. Aber Fray Tomás ist das nicht genug, er will mehr Aktionen und Proteste, um die humanitäre Tragödie zu beenden. Viele zeigen nur mit dem Finger auf Trump, anstatt sich damit an die eigene Nase zu fassen. Für den Franziskaner „kann und muss sich Mexiko auf seine Tradition rückbesinnen, Menschen aufzunehmen.“ Während des Bürgerkriegs in Guatemala hatten im Nachbarland rund 100.000 Flüchtlinge über Jahre hinweg Zuflucht gefunden. Ihre Lebensbedingungen im lakandonischen Regenwald waren prekär, auch medico international stand ihnen damals bei. Aber das Beispiel zeigt: Es geht auch anders.

Veröffentlicht am 06. Juni 2017

Peter Biermann

Peter Biermann ist Projektkoordinator für Mittelamerika bei medico international. (Foto: Holger Priedemuth)


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