Gewalt zwischen Israelis und Palästinensern

Die harte Hand kann nicht sehen

Die Anspannung in Israel und den palästinensischen Gebieten wächst. Doch Sicherheitsdiskurs und Stereotype heizen die Gewalt weiter an.

Die Konfrontation ist ein Stück näher gerückt. Zum ersten Mal in drei Jahren meiner Arbeit vor Ort finden selbst am Checkpoint Beit El, direkt neben dem Hauptquartier der israelischen Besatzungsverwaltung für die Westbank und unterhalb der gleichnamigen Siedlung, tagelange Zusammenstöße zwischen der Armee und Palästinenser_innen statt. Bilder von brennenden Reifen und Tränengasschwaden sind nicht neu, die Orte von denen sie stammen indessen schon, zumindest wenn man nur die letzten Jahre der bleiernen Ruhe berücksichtigt. Es ist neu, wenn man in einem Viertel der Mittel- und Oberschicht in Ramallah einen jungen Mann mit einem Eimer faustgroße Steine sammeln sieht, kilometerweit vom nächsten Checkpoint entfernt.

Bis vor kurzem wurden die Jugendlichen immer von der palästinensischen Polizei daran gehindert, in größeren Zahlen zum Checkpoint bei Beit El zu gehen und sich Straßenschlachten mit israelischen Soldaten zu liefern. Das ist jetzt anders. Mahmoud Abbas sitzt wieder einmal zwischen allen Stühlen. Will er nicht auch noch die allerletzte Gunst in der Bevölkerung verspielen, so kann er nicht die eigenen Sicherheitskräfte auf die Jugendlichen loslassen.

Seit der Verhaftung palästinensischer Steinewerfer durch ein israelisches Kommando, das, als Araber verkleidet, zuvor gemeinsam mit den Verhafteten Steine geworfen hatte, weiß jetzt wieder jeder, wie man sich zu kleiden hat, wenn man zum Checkpoint zieht, um zu protestieren: kurze Hosen oder Hosenbeine hochgekrempelt und Hemden oder T-Shirts in der Hose, damit verdeckte israelische Einheiten, die sich unter die Protestierenden mischen könnten, leichter zu identifizieren sind, weil sie ihre Waffen oft im Hosenbund oder am Unterschenkel tragen. Einer der verhafteten Palästinenser soll so zugerichtet worden sein, dass er querschnittsgelähmt bleiben könnte. Auf dem Video der Verhaftung ist zu sehen, wie er geschlagen, getreten und schließlich weggeschleift wird.

Bei Protesten werden mittlerweile routinemäßig nicht mehr nur Gummigeschosse gegen Demonstranten eingesetzt, sondern echte Kugeln. Im Gaza-Streifen wurden alleine an einem Wochenende 11 Menschen getötet – unter anderem weil sie sich gegen die seit acht Jahren andauernde Blockade gewehrt haben, weil sie es wagten, an einigen Stellen den Ausbruch aus ihrem Freiluftgefängnis zu versuchen, indem sie die Grenzanlagen durchbrachen. Der medico-Partner Al Mezan Menschenrechtszentrum in Gaza hat gegen das Vorgehen der israelischen Armee protestiert.

Das lässt niemanden, den ich hier kenne, kalt

Die Ereignisse der letzten Wochen lassen niemanden in meinem Umfeld kalt: nicht der Mord an dem Siedlerehepaar Henkin in der Nähe von Nablus, dessen vier Kinder im Alter von 4 Monaten bis neun Jahre ebenfalls im Auto saßen, als die Eltern erschossen wurden. Nicht die Welle palästinensischer Anschläge auf Israelis, die in den vergangenen Tagen völlig eskaliert ist. Nicht die generelle anti-arabische Stimmung und mancherorts offen vorgetragene rassistische Haltung gegenüber Palästinenser_innen in Israel.

Und sicher nicht die Reaktion der israelischen Politik auf diese jüngste Eskalation, die Rhetorik von Abgeordneten und Amtsträger_innen, die die Sicherheitskräfte öffentlich dazu ermuntern, „Terroristen“ zu töten. Diese Stimmung zeigt Wirkung: In zwei der jüngsten Fälle von getöteten Verdächtigen, die durch Videos dokumentiert sind, drängt sich der Eindruck von außergerichtlichen Hinrichtungen auf. Personen, die ohne Not hätten verhaftet werden können, wurden einfach erschossen. Dagegen wurde kein einziger jüdischer Verdächtiger während seiner Verhaftung durch Schüsse verletzt.

Die medico-Partner Ärzte für Menschenrechte – Israel (PHR-IL) und Adalah haben in einer gemeinsamen Erklärung mit sieben weiteren israelischen Menschenrechtsorganisationen gegen diese Politik dezidiert Stellung bezogen. Es sind Fälle dokumentiert, in denen verletzten Palästinenser_innen durch israelische Kräfte bis zu einer Stunde und länger notfallmedizinische Hilfe vorenthalten wurde – in manchen Fällen mit Todesfolge. Die Ärzte aus Tel Aviv-Jaffa haben innerhalb von nur zwei Wochen mehr als 40 Übergriffe gegen medizinisches Personal und Ambulanzen auf der Westbank und in Jerusalem registriert, einschließlich des Beschusses von Krankenwagen.

Die Grenzen verwischen

Es ist deshalb für mich nicht überraschend, dass bei manchen meiner Gesprächspartner die Grenze zwischen Erklärung und Rechtfertigung palästinensischer Verbrechen zu verwischen droht. Trotzdem besteht ein wichtiger Unterschied zwischen der Bereitschaft dazu, die Gründe eines Menschen nachzuvollziehen, und der Rechtfertigung seiner Taten. Natürlich kann man sich mit etwas Empathie die Entwicklung vorstellen, die dazu führt, dass Menschen nach Jahren der Benachteiligung, der Erniedrigung und des seelischen (teils auch faktischen) Belagerungszustands plötzlich durchdrehen, Amok laufen und andere angreifen. Das hilft dabei, die derzeitigen Attentate einzuordnen und sie als das zu erklären, was sie in vielen Fällen sind: punktuelle Kurzschlussreaktionen auf lange erduldete Verhältnisse, Jahre hinuntergeschluckten Unrechts. Dies ist eine mögliche Erklärung, aber eben auch nur das.

Die Opfer dieser Gewaltverbrechen – und zwar auf beiden Seiten – bleiben indessen, was sie sind: Opfer von Mord, Totschlag, Körperverletzung oder seelischer Grausamkeit. Es kann deshalb keine Rechtfertigung für Attacken geben, bei allem Verständnis für die eigene Not, die bei manchen der Täter_innen eine Rolle gespielt haben mag. Der Unterschied zwischen der Erklärung von Verbrechen und deren Rechtfertigung darf nicht verwischt werden.

Die Ursachen nicht sehen

Man kann die gegenseitigen Angriffe und Proteste aber auch nicht (als Reihe von isolierten Ereignissen) verstehen, wenn sie aus ihrem politischen und historischen Zusammenhang herausgelöst werden. Ihr Kontext besteht fort und die fast seit 50 Jahren andauernde Besatzung hat weiterhin massive und handfeste wirtschaftliche, soziale, psychologische und andere Folgen - in der Regel leider verheerende für beide Gesellschaften.

Der vorherrschende Diskurs in Israel, der „palästinensisch“ oft mit „gefährlich“ gleichsetzt, der erschossene Palästinenser_innen lediglich als Terroristen oder Sicherheitsrisiken darstellt, die „neutralisiert“ werden mussten, dient politisch und gesellschaftlich vor allem einem Zweck: eine ernsthafte Diskussion darüber im Keim zu ersticken, welches die eigentlichen Ursachen der Gewalt sind.

Die Politik der harten Hand, selbst wenn sie eine vorübergehende Beruhigung der Lage erreichen sollte, will die Ursachen für die Unzufriedenheit, Frustration und Ausschreitungen nicht sehen – geschweige denn kann sie diese beseitigen.

Veröffentlicht am 19. Oktober 2015

Riad Othman

Riad Othman arbeitet seit 2016 als Nahostreferent für medico international von Berlin aus. Davor war er medico-Büroleiter für Israel und Palästina.

Twitter: @othman_riad


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