Kommentar

Demokratie - Die Verteidigung eines Projekts

Rechtspopulisten sind europaweit auf dem Vormarsch, rassistische Gewalt wächst. Über die (Ir-)Rationalität rechten Wahns und das „Weltweitwerden der Welt“.

Die Zerrissenheit könnte größer nicht sein: auf der einen Seite die solidarische Hilfsbereitschaft von Hunderttausenden; auf der anderen eine wachsende rassistische Gewalt. Um der zu begegnen, ist es nicht unerheblich zu wissen, wie es zu dieser Enthemmung von Aggression kommen konnte.

Rechtspopulistische Bewegungen sehen sich bekanntlich als Stimme der kleinen Leute. Sie beklagen den Zustand der Demokratie, wettern gegen den Verrat durch Bonzen und Bürokratie, fordern Bürgerentscheide und legen damit den Finger in eine bestehende Wunde: die Repräsentationskrise europäischer Demokratien. Auch Gewerkschaften, Kirchen und die politische Linke hadern mit den herrschenden Verhältnissen, in denen ökonomische und machtpolitische Interessen über die Rechte der Menschen dominieren. Die Demokratie aber, die sich Parteien wie die AfD vorstellen, ist keine offene Demokratie, die auf der Austragung von Konflikten beruht. Rechtspopulisten propagieren eine Gemeinschaft der Gleichen, in der die Willensbildung von einem homogenen Volkskörper ausgeht – weshalb es im Leitbild der AfD weder Platz für Fremde, Flüchtlinge oder Minderheiten noch für Genderpolitik oder einen toleranten Umgang mit unterschiedlichen sexuellen Orientierungen gibt. Schon Lehrpläne, die Sexualkunde vorsehen, gelten als bedrohliche Indoktrinierung. Nicht die Schwachen und Diskriminierten sind die Opfer, sondern man selbst. Alles, was die wahnhaft phantasierte kollektive Vernunft des Volkes in Frage stellt, ist Verrat oder Lüge.

Die typischen Verschwörungs- und Wahnvorstellungen, die in der rechtspopulistischen Rhetorik mitschwingen, verweisen auf den Kern des Problems: Es sind tiefgreifende Verunsicherungen bzw. Befürchtungen, mit den komplexer werdenden Verhältnissen der Welt nicht mehr zurechtzukommen. Wenn weitreichende Entscheidungen, wie die zum globalen Handel, von Regierungsvertretern und der ökonomischen Elite in Hinterzimmern getroffen werden, wenn reale Interessenkonflikte nicht mehr öffentlich ausgetragen, sondern an technokratische Expertengremien delegiert werden, und schon das Nachdenken über Alternativen zur kapitalistischen Verwertungslogik als Ideologie oder Illusion diffamiert wird, verwundert es nicht, wenn sich das Gefühl von Ohnmacht breitmacht.

Postdemokratie und Marktradikalität

Auf bemerkenswerte Weise korrespondiert die Herausbildung postdemokratischer Verhältnisse mit der marktradikalen Umgestaltung der Welt. „Wenn jede und jeder an sich denkt, ist auch an alle gedacht“, lautet das Credo des Neoliberalismus, in dessen Zentrum eben nicht mehr die Idee von Gesellschaft als Solidargemeinschaft steht, sondern eine verabsolutierte Idee von Eigenverantwortung. Mit der voranschreitenden Privatisierung öffentlicher Daseinsvorsorge kommt den Menschen das abhanden, worauf sie sich stützen könnten.

Weder gibt es heute noch jene soziale Sicherheit, von der aus sich angstfrei das Leben in die Hand nehmen ließe, noch haben die Einzelnen die Möglichkeit, die Vorgaben von Marktwirtschaft und Verwaltungsstaat, innerhalb derer sie als „Unternehmer in eigener Sache“ tätig werden sollen, wirkungsvoll zu beeinflussen.

Zu den Charakteren, die sich im Zuge der neoliberalen Umgestaltung der Welt herausgebildet haben, zählen Menschen mit einer außergewöhnlichen Leistungs- und Konkurrenzbereitschaft, die aber zugleich in der ständigen Angst leben, den eigenen hohen Ansprüchen nicht entsprechen zu können. Prägend ist das propagierte Ideal des selbstbezogenen Siegertyps, das uns in Talkshows, im Trash der Boulevardmedien, in wirtschaftswissenschaftlichen Lehrbüchern, in Bundestagsreden und Hollywood-Produktionen entgegentritt. Wo sich die ideologische Hegemonie der kapitalistischen Lebensform so tief ins Bewusstsein der Menschen eingräbt, werden nichtkapitalistische Perspektiven systematisch verschlossen und verdichten sich Ohnmachtserfahrungen.

Genau das aber spielt rechten Demagogen in die Hände. Gezielt nutzen sie die Ressentiments, die sich in der Bevölkerung gegenüber der bestehenden Ordnung aufbauen. Mit dumpfer Hetze gegen Flüchtende, Medien und Europa bedienen sie die Sehnsucht nach einer Vergangenheit, in der noch Ordnung und Stabilität geherrscht haben soll. Nicht zuletzt regressive Versorgungswünsche sichern rechtsextremen Bewegungen den Zulauf: Das Verlangen nach einer Rundumversorgung, die Trauer um den Verlust eines autoritären, aber Schutz bietenden Wohlfahrtsstaates, ja selbst die wehmütige Erinnerung an jene Versorgungsdiktaturen, die mit dem Untergang der realsozialistischen Welt verschwunden sind. Psychoanalytisch gesprochen, bieten rechtspopulistische Bewegungen einen Ausgleich für narzisstische Kränkungen. Solange Ohnmachtsgefühle über Wohlstandserfahrungen kompensiert werden können, bleibt das Selbstbild unangetastet. In dem Maße aber, wie die eigenen Privilegien, aus welchen Gründen auch immer, ins Wanken geraten, kommt auch das Selbstbild ins Wanken. Und weil Demokratie immer nur als Mittel für die Sicherung des Wohlstandes verstanden wurde, brechen in Krisenzeiten antidemokratische Tendenzen durch.

Der Anschluss an rechtspopulistische Bewegungen gibt den Einzelnen das Gefühl, wieder Teil einer mächtigen Gemeinschaft zu sein. Der Tritt nach unten, der Hass auf alle, die nicht dazugehören, die Verfolgung von Minderheiten stellt jene alte Hierarchie wieder her, die mit den komplexer gewordenen Verhältnissen in Frage gestellt worden ist. Auf wahnhafte Weise werden Fremde und Andersdenkende für die eigene Verunsicherung verantwortlich gemacht. Damit bekommt auch das Gefühl, zu kurz gekommen zu sein, einen Grund: Es sind die Fremden, denen die da oben alles zuteilwerden lassen, während man selbst vergessen wurde.

Zum Wesen dieses Wahns gehört, dass er sich nur im Kontext hermetisch abgeschlossener Weltbilder aufrechterhalten lässt. Diejenigen, die den Wahn teilen, müssen sich seiner nicht einmal bewusst werden. Da grundsätzlich die anderen falsch liegen, fruchtet keine argumentative Auseinandersetzung. Die Rebellion, die darin zum Ausdruck kommt, hat nur das eine Ziel, den Wahn aufrechtzuerhalten – und wird dadurch zu einer umso gefährlicheren destruktiven Kraft. „Vielleicht liegt das Geheimnis der faschistischen Propaganda darin, dass sie einfach die Menschen als das nimmt, was sie sind: echte, ihrer Selbstständigkeit und Spontaneität weitgehend beraubte Kinder der heutigen standardisierten Massenkultur, und dass sie keine Ziele aufstellt, deren Verwirklichung ebenso über den psychologischen wie über den gesellschaftlichen Status quo hinausginge. Die faschistische Propaganda braucht nur die Seelenverfassung für ihre Zwecke zu reproduzieren. Sie braucht keine Veränderung hervorzubringen.“ – so Adorno 1951 zur Struktur der faschistischen Propaganda.

Bruch mit dem herrschenden Realitätsprinzip

Die heute ausufernde Gewalt verlangt ohne Frage nach raschen Eingriffen. Erfolgreich aber werden diese nur sein, wenn sie die Probleme an der Wurzel packen. Das Unbehagen, das sich im Zuge der Globalisierung verschärft hat, ist nicht einfach nur die Folge von einzelnen politischen Versäumnissen, sondern Ausdruck der Hegemonie kapitalistischer Verhältnisse. Zweierlei scheint deshalb heute vordringlich: zum einen die Schaffung einer gesellschaftlichen Sphäre, in der öffentliche Einrichtungen jenseits von partikularen Profitinteressen dafür sorgen, dass allen Menschen an allen Orten der Welt der Zugang zu notwendiger Daseinsvorsorge und sozialer Absicherung ermöglicht wird; zum zweiten die Transformation des herrschenden Realitätsprinzips, die Abkehr von der Ausrichtung menschlichen Lebens an verwaltungstechnischen und ökonomischen Vorgaben wie Verwertbarkeit, Produktivität und Konkurrenz. Ohne einen Bruch mit diesen Prinzipien wird es weder gelingen, das individuelle kreative Sein zu fördern, noch jene gesellschaftlichen Räume entstehen zu lassen, die für die Überwindung rassistischer Gewalt und die Schaffung weltbürgerlicher Verhältnisse notwendig ist.

Rezepte für diese Transformation gibt es nicht. Die Fragen aber, die den Weg begleiten, stehen längst fest: die Frage nach der Bedeutung und Verteilung künftig gesellschaftlich notwendiger Arbeit; wie ökonomische Verhältnisse jenseits von Rendite und Wachstumspostulaten aussehen können; die Frage der demokratischen Konstitution öffentlicher Daseinsvorsorge und einer ästhetischen Erziehung, die die Menschen nicht an die kulturindustrielle Verdummungsmaschine ausliefert; die Frage einer Bildungspolitik, die sich aus der Umklammerung von Ökonomie und Verwaltungsmacht befreit und an die Stelle verschulter Bologna-Studiengänge wieder die Förderung kritischen Denkens setzt. Das Telos der Kulturbildung, das „Weltweitwerden“ der Welt, wie der französische Philosoph Jacques Derrida es formuliert hat, wird solange nicht erreicht, wie menschliche Subjektivität dem Diktat von Ökonomie und politischer Kontrolle unterworfen bleibt.

Veröffentlicht am 13. Juli 2016
Thomas Gebauer

Thomas Gebauer

Thomas Gebauer war von 1996 bis 2018 Geschäftsführer von medico international und bis Ende 2020 Sprecher der Stiftung medico. Als Zivildienstleistender ist er Ende der 1970er Jahre zu uns gekommen. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten zählen Fragen der internationalen Friedens- und Sicherheitspolitik und die sozialen Bedingungen globaler Gesundheit. Der Psychologe erhielt 2014 die Goethe-Plakette, mit der die Stadt Frankfurt Persönlichkeiten des kulturellen Lebens würdigt.


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