UN-Sondertagung?

Dem Sterben in Aleppo ein Ende bereiten

Ist es so, dass sich die Streitmächte müde kämpfen müssen bis Syrien völlig ausgeblutet wäre? Thomas Seibert schlägt eine andere Möglichkeit vor.

Der Krieg in Syrien geht in sein sechstes Jahr, pessimistische, vermutlich aber treffende Schätzungen gehen von bald 500.000 Toten aus. Fast die Hälfte der syrischen Bevölkerung wurde vertrieben. Von September an warfen russische und syrische Bomber Tag für Tag Bombe um Bombe über Aleppo ab, einst die zweitgrößte Stadt des Landes, noch immer von Hunderttausenden bewohnt. Mindestens 500 Menschen haben dabei den Tod gefunden, ein Viertel davon Kinder.

Seit ein paar Tagen haben die russische und die syrische Führung ihre Bombardements ausgesetzt: ein Gnadenakt, von Regimes erlassen, die nachweislich schwerster Kriegs- und Menschenrechtsverbrechen schuldig sind. Es liegt allein in ihrer Willkür, schon morgen wieder Hunderte sterben zu lassen. Seit Beginn des Krieges blockieren die Vetomächte des Sicherheitsrats jeden Versuch, den Gemetzeln Einhalt zu gebieten, und sei es nur in der Form einer von allen Beteiligten mitgetragenen Feuerpause.

Ist es so, dass in Syrien nichts mehr geht? Und ist es so, dass dasselbe morgen von einer anderen Weltgegend gesagt werden kann - denn wer wollte das hindern, nach dem was in Syrien geschieht? Ist es so, dass man die verschiedenen Streitmächte sich auskämpfen lassen muss, bis in Syrien buchstäblich kein Stein mehr auf dem anderen liegt und das Land völlig ausgeblutet wäre?

Eine Möglichkeit bleibt. Im November 1950, während des Koreakriegs, ermächtigte sich die Generalversammlung der UN mit der Resolution Uniting for peace zu der Möglichkeit, einen von seinen Vetomächten blockierten Sicherheitsrat zu übergehen und gegebenenfalls binnen 24 Stunden eine "Notstandssondertagung" (Special Emergency Session) der UN-Generalversammlung einzuberufen. Eine solche Dringlichkeitssitzung kann dann zwar keine rechtsverbindlichen Beschlüsse fassen, sie kann den Mitgliedsstaaten der UN aber "Empfehlungen" an die Hand geben, die ausdrücklich bis zum Einsatz von Waffengewalt gehen können.

Seit dem Erlass vom November 1950 hat die UN wiederholt auf dieses letzte Mittel zurückgegriffen - prominent anlässlich der Suez-Krise 1956. Damals waren es England und Frankreich, die im Zug ihrer völkerrechtswidrigen Intervention in Ägypten ein Eingreifen des Sicherheitsrats blockierten. Eine Notstandssondertagung der Generalversammlung der UN nötigte die beiden Länder mit einer entsprechenden Resolution zum Rückzug. Das Massenmorden in Syrien macht ein solches Vorgehen neuerlich zum letzten Mittel des Eingreifens. Der Beschluss zur sofortigen Einberufung der Generalversammlung müsste von der Hälfte der UN-Mitgliedsstaaten getragen werden. Mit zwei Dritteln der Stimmen könnte eine Resolution beschlossen werden, die sämtliche Kriegsparteien in Syrien ultimativ zu einem umfassenden Waffenstillstand auffordert.

Zu fordern wäre darüber hinaus, dass es keine weitere Waffenlieferung nach Syrien mehr geben darf und dass Hilfsorganisationen sofort freier Zugang zu den notleidenden Menschen gewährt werden muss.

Noch einmal: Ein solcher Beschluss wäre nicht rechtsverbindlich. Doch würde er eine Situation schaffen, in der die Kriegsparteien ihre Kampfhandlungen ausdrücklich gegen den erklärten Willen der Mehrheit aller Mitgliedsstaaten der UN fortsetzen müssen. Zugleich wäre dem Sicherheitsrat der UN von der Mehrheit ihrer Mitgliedsstaaten ausdrücklich das Vertrauen entzogen worden.

Um die Wirkung einer solchen Resolution zu verstärken, wäre sie wiederum ausdrücklich mit der ernst gemeinten Absicht zu verbinden, alle juristischen Mittel auszuschöpfen, die den UN - und nicht nur den UN! - zur Verfolgung von Kriegs- und Menschenrechtsverbrechen in die Hand gegeben sind. Informationen, um entsprechende Ermittlungen zunächst einmal zum Erlass von Haftbefehlen zu führen, liegen seit langem vor. Obwohl das syrische Regime Ermittlungsteams sowohl des UN-Generalsekretärs wie des UN-Hochkommissars für Menschenrechte den Zugang nach Syrien verwehrt hat, wurden mehrere Tausend Zeuginnen und Zeugen einvernommen, ihre Aussagen liegen in gerichtsverwertbarer Dokumentation vor.

Der deutsche Generalbundesanwalt hat deshalb bereits 2012 ein Strukturermittlungsverfahren zu Kriegs- und Menschenrechtsverbrechen in Syrien eingeleitet. Haftbefehle können gegen alle Täter ausgestellt werden, derer man habhaft werden kann. Das schließt Einzeltäter niederen Ranges ebenso ein wie höchstverantwortliche Entscheidungsträger des Militärs oder beteiligter Regierungen. Klar zu stellen ist, dass die Rechtsprechung ausnahmslos alle Mächte in den Blick zu nehmen hätte, den Kriegs- und Menschenrechtsverbrechen nachzuweisen sind; wir wissen heute schon, dass es sich dabei nicht nur um das russischen und das syrische Regime handeln wird.

Zu erinnern ist, dass solche Maßnahmen prominent gegen die Chefs der früheren argentinischen Militärjunta beschlossen und erfolgreich umgesetzt wurden. Im Bündnis mit anderen Hilfsorganisationen hat medico ein solches Verfahren auch gegen verantwortliche Minister der früheren sri lankischen Regierung in Gang gesetzt. Nichts spricht dagegen, im syrischen Fall ähnlich zu verfahren.

Mittlerweile verdichten sich Informationen, dass seit einiger Zeit bereits versucht wird, eine Notstandssondertagung der UN-Generalversammlung einzuberufen. Der UN-Generalsekretär und die kanadische Regierung haben sich öffentlich für eine solches Vorgehen eingesetzt. Wie es heißt, hat bereits eine relevante Anzahl von UN-Mitgliedsstaaten ihre Bereitschaft signalisiert, einem entsprechenden Antrag zuzustimmen. Wir wissen, dass sich die Bundesregierung dieser Initiative angeschlossen hat. Bekannt ist auch, dass die russische Diplomatie bereits alle Hebel in Bewegung gesetzt hat, um das Zustandekommen schon eines Antrags auf Einberufung einer Notstandssondersitzung zu verhindern. Es ist höchste Zeit, sich davon nicht länger zurückhalten zu lassen. Dann jedenfalls, wenn man noch verhindern will, dass Aleppo vollends dem Erdboden gleich gemacht wird.

Veröffentlicht am 26. Oktober 2016
Thomas Rudhof-Seibert

Thomas Rudhof-Seibert

Thomas Rudhof-Seibert war bis September 2023 in der Öffentlichkeitsarbeit von medico international zuständig für Südasien und Referent für Menschenrechte. Der Philosoph und Autor ist außerdem Vorstandssprecher des Instituts Solidarische Moderne; weitere Texte zugänglich auch unter www.thomasseibert.de


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