Rojava

Bei den Bauern von Kobanê

Es ist 9.00 morgens in Kobanê und der Apotheker Menaf Kitkani beginnt mit zwei Mitarbeitern seine Runde mit der mobilen Apotheke des kurdischen roten Halbmondes, Heyva Sor.

Das weite Feld zieht sich im Westen der Stadt in die Länge. Früher war hier buchstäblich nichts, nur tödliche Landminen. Es ist das Niemandsland zwischen der türkischen und syrischen Grenze. Der alte Pickup-Wagen rumpelt einen Feldweg entlang, überquert die Bahnlinie der alten Bagdad-Bahn und hält an einem militärischen Feldposten. Die jungen Männer und Frauen der kurdischen Verteidigungskräfte blinzeln in der Morgensonne und winken. Es ist 9.00 morgens in Kobane und der Apotheker Menaf Kitkani beginnt mit zwei Mitarbeitern seine Runde mit der mobilen Apotheke des kurdischen roten Halbmondes, Heyva Sor. Auf der Ladefläche sind Kisten mit verschiedenen Medikamenten gestapelt. Gegen Asthma, Erkältungskrankheiten, Bluthochdruck, Zahnschmerzen, Nierenentzündungen, dazu Babynahrung und Windeln.

In circa 500 Metern Entfernung sind unzählige Fahrzeuge zu sehen. Mähdrescher, Traktoren mit Hängern, offene Kleinlaster und PKWs. Sie bilden kleine Kreise, in denen oftmals ein Zelt steht oder eine Plane zwischen den Fahrzeugen gespannt ist. Hier campieren die Bauern aus dem Umland von Kobane. Zurzeit sind es etwa 1000 Personen, unter ihnen viele Männer, aber auch Familien mit ihren Kindern. Sie alle sind vor den dem Terror des "Islamischen Staates" geflohen und je weiter ihre Dörfer von der Stadt Kobane entfernt liegen, umso länger sind sie schon hier. Manche bereits seit Beginn des Krieges vor gut sieben Monaten. Sie suchten Schutz in unmittelbarer Nähe des türkischen Grenzzauns und hofften hier den Angriffen des IS zu entgehen.

Hassan Ibrahim ist seit drei Monaten hier. Der 30-jährige Bauer floh mit seinem Traktor aus einem kleinen Weiler, westlich von Kobane. Er trägt eine braune Kunstlederjacke und eine abgetragene Jeans. "Wir konnten nur uns selbst retten und mussten alle unsere Tiere zurücklassen". Die IS-Milizen habe er nicht gesehen, aber nachdem das Nachbardorf bereits von den kurdischen YPG-Einheiten evakuiert worden sei, wurde auch ihm gesagt, dass er sich und seine Familie in sofort in Sicherheit bringen solle. Seine Frau und vier Kinder seien im türkischen Suruc, gleich hinter der Grenze.

Heute holt er sich ein Medikament gegen Nierenschmerzen. "Die letzten Winternächte waren besonders kalt und nass", sagt er fast entschuldigend, aber alles sei letztlich unerheblich, solange er und seine Familie in ihr Dorf zurückkehren können. "Meine Frau fragt fast jeden Tag, wann sie den kommen können. Sie will nicht in der Türkei bleiben". Einen kurzen Moment verstummt er. Dann bricht es aus ihm heraus: "Kobani ist unser Herz, wir leben hier und wir sterben hier. Niemand kann uns vertreiben und deswegen bin ich in der Nähe von Minen und deswegen haben wir uns sogar beschießen lassen". Vor fünf Tagen war der Platz von Streumunition getroffen worden, die der IS auf seinem Rückzug aus der Stadt noch verschossen hatte. Sieben Flüchtlinge wurden verletzt, zwei verstarben und die Geretteten verdankten ihr Leben auch nur dem neuen, von medico gelieferten, Krankenwagen, der die Verletzten schnell ins Krankenhaus bringen konnte.

Ein älter wirkender Mann, der sich auf einen Stock stützt, nähert sich der mobilen Apotheke und lässt sich ein Rheumamittel geben. Er heißt Mushin Ali und ist 57 Jahre alt. Als er zu sprechen beginnt, rollen ihm die Tränen in seinen grauen Bart: "Sie haben meine Familie verschleppt. Meine Frau, meine drei kleinen Mädchen und meinen Sohn hat der IS entführt." Es geschah im Dorf Borazi, das im Südwesten des Kantons Kobani liegt. "Ich war nicht zuhause, als sie mit mehreren Autos unser Dorf überfielen und um sich schossen." Viele der 200 Familien aus Borazi hätten fliehen können, aber einige Männer seien getötet und besonders Frauen und Kinder gefangengenommen worden. " Seit fünf Monaten habe ich von meinen Liebsten nichts mehr gehört. Ich weiß nicht, wo sie sind und ob sie noch leben". Mushin Ali kann sein Schluchzen nicht mehr unterdrücken, weinend wendet er sich ab und verschwindet in der Gruppe derer, die um die Medikamentenausgabe herumstehen.

Ein paar hundert Meter weiter steht ein großer Mähdrescher. Um ihn herum ein paar Fahrzeuge, über deren offene Ladefläche Plastikplanen gespannt sind. Auf der einen Ladefläche wird geschlafen, auf der anderen gekocht. Hier haben Mohammad, Mahamud, Yasser, Jamal und Jihad ihr Lager aufgeschlagen. Alle stammen aus dem Dorf Rosme, 30 Kilometer von Kobane entfernt.

Rosme liegt am äußeren Rand des Kantons und wurde als einer der ersten Orte vom IS eingenommen. Zuvor hatte das Dorf sich noch sieben Monate gegen die ersten Angriffe des IS erwehren können. "Aber wir hatten nur leichte Gewehre und als 'Daish' mit schweren Waffen und gepanzerten Fahrzeugen anrückte, hatten wir keine Chance mehr", erzählt der 32-jährige Yasser. Das war vor sieben Monaten. Seitdem leben die fünf Männer hier am Stadtrand von Kobane. Ihr Vieh mussten sie zurücklassen und konnten nur ihre Familien retten. "Wir kamen hierhin, weil wir Sicherheit suchten und hofften, dass uns Daish unmittelbar am Grenzzaun zur Türkei nicht wagen würde anzugreifen", sagt der 26-jährige Yamal. Ein Trugschluss, wie sich herausstellte.

Als in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft eine Mutter mit ihrem Kind von einem Hügel westlich des Platzes von einem Scharfschützen des IS schwer verletzt wurde, brachten die Männer ihre Familien jenseits der Grenze in Suruc in Sicherheit. Seitdem telefonieren sie täglich und warten darauf, zusammen in ihr Dorf zurückkehren zu können. Das aber ist noch nicht möglich. "Unsere Region ist auch heute noch von 'Daish' besetzt und wir wissen überhaupt nicht, was uns bei der Rückkehr überhaupt erwartet", sagt der 30-jährige Mohammad. In der Zwischenzeit halfen alle bei der Organisierung der Wagenburg auf dem Feld oder unterstützten die Wachdienste in der umkämpften Stadt. Für sie steht fest, dass sie zurück nach Hause wollen. Zum Schluss zeigen sie uns eine Kuhle unter einem ihrer Fahrzeuge. Dort liegt eine Hündin, die ihre frischen Welpen säugt. "Wir haben sie aufgenommen, als die Nächte besonders kalt waren", lacht einer der Cousins beim Abschied.

Unterdessen fährt die mobile Apotheke von Heyva Sor weitere Ausgabepunkte entlang des Stacheldrahtes zur Türkei ab. Menaf Kitkani hat noch einen langen Arbeitstag vor sich. Seine heutige Tour endet nicht vor Nachmittag. Es gibt vier weitere Camps dieser Art in den grenznahen Randbezirken von Kobane. Alle 15 Tage besucht der 39-jährige Apotheker die geflohene Landbevölkerung der Region. Die mobile Apotheke macht ihr Leben auf freiem Feld, bei Regen und Kälte, ohne fließendes Wasser und Stromversorgung, ein klein wenig erträglicher in Zeiten eines Krieges, der noch nicht vorbei ist.

Veröffentlicht am 05. Februar 2015

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