Symposium 2012

Psychisches Leid und emanzipatorisches Handeln

Dokumentation: Symposium der Stiftung medico international

Zu den kaum thematisierten Begleiterscheinungen der ökonomischen Globalisierung gehört die Zunahme von psychischen Erkrankungen. Depression, so belegen es Studien der WHO, hat sich zu einer führenden Weltkrankheit ausgebreitet, die längst auch Afrika, Asien und Lateinamerika erfasst hat. Es scheint, als ob die Deregulierung der politischen und ökonomischen Verhältnisse auch zur Deregulierung dessen geführt hat, was die „psychische Repräsentanz“ der Verhältnisse im Inneren der Menschen genannt wird.

Diesen gesellschaftlichen Ursachen des heutigen seelischen Leidens ging das Symposium in seinen globalen Dimensionen mit einer kritischen Bestandsaufnahme nach und erörterte die Folgen für eine emanzipatorische Arbeit, wie medico sie zu leisten sucht. Dazu gehört auch die Beschäftigung mit der Frage nach der Pathologisierung sozialer Missstände. Zugleich gilt es über angemessene Formen psychosozialer Unterstützung nachzudenken.

Das Symposium ging deshalb der Frage nach, wie Menschen in diesen Verhältnissen Anerkennung, Ermächtigung und Würde zurückgewinnen können.

Das Unbehagen in der Globalisierung

Der Verlust an sozialer Sicherheit, die Unterwerfung aller Bereiche des Lebens unter eine Zweckrationalisierung und „Freiheit“ in Form von brutaler Freisetzung – dies sind Aspekte, die zum „Unbehagen in der Globalisierung“ beitragen, und zwar weltweit. medico international-Geschäftsführer Thomas Gebauer fasste diese Tendenzen in seiner Einführungsrede zum Symposium der stiftung medico international am 11. Mai 2012 in Frankfurt zusammen.

Das Unbehagen in der Globalisierung führt zu psychischem Leid. Die Antwort darauf lautet häufig: Medikamente! Und zwar global. Stefan Ecks, Medizinethnologe an der Universität Edinburgh, berichtete von seinen Forschungen in Indien. Hier verschreiben Allgemeinärzte routinemäßig Antidepressiva. Häufig werde den Patienten nicht mitgeteilt, welche Medikamente sie bekämen, so die Erfahrung von Ecks.

Ausdrücklich begründeten die indischen Hausärzte ihre Entscheidung damit, dass Globalisierung, soziale Unsicherheit und der Zerfall der Familien die Patienten depressiv mache. Die Medikamente sind in Indien leicht zugänglich und zudem außerordentlich preiswert. Laut Ecks’ Erfahrungen sind die WHO-Statistiken zum Verbrauch von Psychopharmaka höchst unzuverlässig, da sie ausschließlich auf Angaben der staatlichen Behörden beruhen.

Trauma einzig auf einen physischen Defekt zurückzuführen, der durch Medikamente behoben werden kann, liegt auch in Deutschland im Trend. Ariane Brenssell, Psychologin und Politikwissenschaftlerin, die sich beim Verein Lara e.V. gegen sexuelle Gewalt engagiert und an der Hochschule Ludwigshafen lehrt, berichtete aus dem Alltag der Arbeit mit vergewaltigten Frauen. „Trauma als Prozess zu begreifen hat heute keine Konjunktur mehr“, bedauerte sie. Schließlich verlange die moderne Gesellschaft eine Selbstoptimierung, der Mensch müsse „stets funktionieren.“ Dabei beobachten die Mitarbeiterinnen von Lara e.V. und ähnlichen Einrichtungen, dass Frauen dort immer länger und häufiger Beratung suchen und die Problemlagen komplexer werden: Migrantinnen leiden unter der Härte verschärfter Einwanderungsgesetze, Alleinerziehende unter dem Hartz-IV-Diktat.

Brenssell kritisierte, dass sich ein bio-psychosoziales Krankheitsbild durchgesetzt habe, das scheinbar progressiv wirke: Auf Stress reagieren manche Menschen verletzlicher („vulnerabler“) als andere. Daraufhin werde gefragt, was eine Person verletzlich mache und wie man dies beheben könne. Die Ursachen und Strukturen, die Stress erzeugen, geraten aus dem Blick. „Wir brauchen eine Guerilla gegen die Vermessung des Alltags“, fasste Brenssell zusammen und sagte: „Uns fehlt eine angemessene Sprache.“

Sprache und wie sie unsere Vorstellung von „krank“ oder „gesund“ beschreibt, ist das Fachgebiet von Yvonne Brandl, Literatur- und Sprachwissenschaftlerin sowie Psychologin an der Uni Münster. Sie beschäftigt sich mit der Darstellung von ADHS in Elternratgebern und führt Trainings für Lehrkräfte durch. „ADHS ist ein latentes Konstrukt“, erklärte Brandl, das genauso wenig erhellend sei wie das Konstrukt „Intelligenz“ oder „Depression“. ADHS wird diagnostiziert, wenn eine Mischung von Aufmerksamkeitsstörung, Hyperaktivität und Impulsivität sowie in einigen Fällen eine Störung des Sozialverhaltens vorliegt, doch gibt es keine quantitativen Indikatoren, wann ein Verhalten als „gestört“ gilt. „Die Symptome werden korreliert“, sagte Brandl. Aus der Diagnose werde wiederum ein Rückschluss auf die Ursachen gebildet, was logisch unzulässig, aber weit verbreitet sei. Dies sei eher eine Abwehr der eigenen Hilflosigkeit und ein Ausweichen vor der Auseinandersetzung mit der Eltern-Kind-Beziehung, klärte Brandl auf.

Usche Merk, Fachreferentin für psychosoziale Arbeit bei medico international, erinnerte an die lange Diskussion über die so genannte „Schnelle Eingreiftruppe Seele“, also die psychosoziale Arbeit in der humanitären Hilfe. „Es ist an der Zeit, wieder politischer über psychosoziale Hilfe zu reden“, forderte sie. Denn Menschen auch in Notsituationen seien eben nicht nur passive Opfer. Professionelle Hilfe bedeute, gemeinsam mit ihnen nach Handlungsoptionen zu suchen.

Usche Merk forderte einen Paradigmenwechsel. Derzeit mache leider ein Modell Konstanzer Forscher Schule, das als „narrative Expositionstherapie“ (NET) schnelle Hilfe verspreche. In nur vier bis sechs Sitzungen könnten Traumata durch eine rasche und detailgetreue Konfrontation mit den schlimmsten Erlebnissen geheilt werden. Dieses Modell werde durch offensive Veröffentlichungen verbreitet und von Behörden gerne akzeptiert, da es kostensparend und schnell verfügbar sei. Die soziale Stabilisierung und Konfliktsensibilität würden nicht beachtet, sagte Merk. Die Teilnehmenden des Symposiums waren sich einig, dass alternative Ansätze, die stärker auf Therapie statt Medikation setzen, offensiver vertreten werden müssten.

In vier Workshops wurden einzelne Diskussionsstränge wieder aufgegriffen und weitergeführt. Das Ausblenden struktureller Gewalt führe in eine Sackgasse, war man sich einig. Um eine sensible Sprache zu entwickeln, könne ein Leitfaden hilfreich sein, der Begriffe hinterfrage und ersetze. Viele Teilnehmer berichteten aus ihrem Arbeitsalltag, dass ihnen enge Grenzen gesetzt seien. Diese Arbeitsbedingungen seien zu reflektieren und offen zu legen. Dann werde die eigene Funktion im System deutlicher. Handlungsgrenzen aufzuzeigen, sei ein politischer Akt. Eine Entpathologisierung könne nicht bedeuten, dass Krankheit negiert wird. Vielmehr sei es an der Zeit, statt eines Rechts auf Gesundheit ein Recht auf Krankheit und gleichzeitig auf Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen zu fordern.

Abschließend stellten medico-Projektpartner ihre Arbeit vor Ort dar. Die Psychologin Martha Cabrera beschrieb ihre Arbeit im einstigen Bürgerkriegsland Nicaragua, das nach der Revolution inzwischen zu einem der konservativsten Staaten Südamerikas geworden ist. Über die Kriegserlebnisse werde geschwiegen, berichtete Cabrera. Ihre Arbeit sei darauf gerichtet, diese Kultur des Schweigens aufzubrechen. „Wenn wir nicht über unseren Schmerz reden, bleibt unser Blick begrenzt.“

Karin Mlodoch begleitet seit 20 Jahren eine Gruppe kurdischer Frauen, die durch die Anfal-Offensive Sadam Husseins in den 1980er Jahren zu Witwen wurden. Einige der Frauen setzen sich für ein Denkmal ein, das an die Verschwundenen und Ermordeten erinnern soll. Teil des Denkmals soll eine Fotoausstellung werden, für die sich die Frauen portraitieren lassen. Dies Projekt sei nicht als psychosoziales gedacht gewesen, habe sich jedoch als solches entwickelt, da die geplante Erinnerungsstätte eine erneute Auseinandersetzung mit dem Geschehenen mit sich bringe.

Tejan Lamboi berichtete über das Schicksal von aus Deutschland Abgeschobenen, die in seinem Heimatland Sierra Leone der Verachtung und ökonomischem Abstieg ausgesetzt seien. Im Rahmen einer Forschungsarbeit hatte Lamboi Interviews mit den Abgeschobenen geführt. Daraus entstand inzwischen eine Gruppe in Sierra Leone, die sich gegen Stigmatisierung einsetzt, mit beteiligten Akteuren spricht, Netzwerke aufbaut und demnächst eine eigene Webseite online stellen will, um über die Vorgänge während und nach einer Abschiebung zu informieren.

Auch im Anschluss an die Projektberichte wurde kritisiert, dass der Traumadiskurs entpolitisiert wurde. Vor Jahren sei die Analyse bereits fortgeschrittener gewesen. Es sei nun an der Zeit, öffentlich verstärkt Stellung zu beziehen, um die konzeptionelle Debatte neu aufzurollen.

Audio-Dokumentation (MP3)

Depression, Trauma, ADHS

Pathologien und Pathologisierungen

  • Depression – am Beispiel der Nutzung von Psychopharmaka in Indien
    Stefan Ecks, Medizinethnologe, School of Social and Political Science, University of Edinburgh: [26 Min.; 24MB]
  • Trauma – biomedizinische Krankheitsbilder im Kontext struktureller Gewalt
    Ariane Brenssell, Psychologin und Politikwissenschaftlerin, Hochschule Ludwigshafen und Lara e.V., Verein gegen sexuelle Gewalt: [18 Min.; 17MB]
  • ADHS – Normalitätskonstruktionen und kulturelle Abwehrmechanismen
    Yvonne Brandl, Psychologin, wiss. Mitarbeiterin Projekt Kinderschutzportal, Universität Münster: [21 Min.; 20MB]
  • Psychosoziale Hilfe – Professionalisierung als Empathievermeidung
    Usche Merk, Fachreferentin für psychosoziale Arbeit, medico international: [15 Min.; 14MB]oder hier Text nachlesen.

Anerkennung, Ermächtigung, Würde

Was sind angemessene Strategien in der Praxis?

  • Das Subjekt im Fokus – psychosoziale Arbeit mit sozialen Organisationen in Nicaragua
    Martha Cabrera, Psychologin, ehem. Leiterin Centro Ecuménico Valdivieso, Managua: [20 Min.; 18MB]
  • Der Kampf um Anerkennung – die Anfal-Frauen in Kurdistan Nord-Irak
    Karin Mlodoch, Psychologin, wiss. Mitarbeiterin Zentrum Moderner Orient und Haukari e.V., Berlin: [17 Min.; 16MB]
  • Kriminalisiert, brutalisiert, stigmatisiert – wie aus Deutschland abgeschobene Asylbewerber in Sierra Leone um ein öffentliches Sprechen ringen
    Tejan Lamboi, Sozialwissenschaftler und Journalist, Berlin: [25 Min.; 44MB]

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Veröffentlicht am 24. Mai 2012

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